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Selbstbestimmungsgesetz Mal wieder bestimmen andere über dich

Verschiedene queere Menschen (Illustration)
© JuanM / Adobe Stock
Das Selbstbestimmungsgesetz ist verabschiedet. Doch ändert es in dieser Form wenig daran, dass noch immer andere über das Geschlecht Dritter urteilen. Ein Meinungsstück.

Inhaltsverzeichnis

Jene Menschen, für die ich in diesem Text das Wort ergreifen möchte, mussten schon so oft andere für sich sprechen lassen. Manche von ihnen kämpfen schon seit Kindestagen dagegen an, dass man ihnen ihre Identität abspricht. Ihre Eltern, ihre Familie, ihre Freund:innen, Wildfremde, der Staat. 

Deswegen ist es mir wichtig, einmal klarzustellen: Ich bin ein queerer cis Mann, das meint, ich bin nicht heterosexuell und identifiziere mich mit dem Geschlecht, das mir medizinisches Personal mit Blick auf meine äußeren Geschlechtsteile kurz nach der Geburt zugewiesen hat. Ergo: Ich bin nicht trans, inter oder nichtbinär. Als Ehepartner einer nichtbinären Person (in ihrem Fall identifiziert sie sich weder mit dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht) bin ich allerdings zumindest emotional stärker involviert als vielleicht so manch andere laute Stimme, die sich zum Selbstbestimmungsgesetz äußert und geäußert hat, das am Mittwoch, 23. August 2023, vom Bundeskabinett verabschiedet wurde. 

Als empathischer Mensch bin ich ohnehin involviert – wie wir alle es sein sollten. Und deswegen ist es mir wichtig, an dieser Stelle ein paar Dinge loszuwerden.

Das Selbstbestimmungsgesetz: Was nun verabschiedet wurde

Natürlich war nicht zu erwarten, dass der Tag der Verabschiedung des Selbstbestimmungsgesetzes in Deutschland zu einem Nationalfeiertag wird, dass die Menschen auf die Straßen gehen, sich umarmen und Friede und Glückseligkeit einkehrt, weil wir einen Schritt weiter damit sind, Menschen in diesem Land nicht mehr allzu sehr zu diskriminieren. Denn weder ist das Selbstbestimmungsgesetz neu auf der Welt – unter anderem in Argentinien gibt es ein Gesetz dieser Art seit über zehn Jahren und das Land ist nicht zusammengebrochen oder massenweise notgeile Männer haben ihren Geschlechtseintrag geändert, um Frauen in Saunen zu begaffen – noch ist der vorliegende Entwurf frei von neuen Diskriminierungsschlupflöchern.

In manchen Punkten ist das Gesetz inhaltlich längst überfällig. Dass sich das Transsexuellengesetz von 1981, das bis 2011 noch für trans Personen vorsah, dass sie sich zu sterilisieren hatten (!), überhaupt derart lang halten konnte, wirft ein sehr düsteres Bild auf dieses Land. Nun soll es für trans, inter und nichtbinäre Menschen leichter sein, ihren Geschlechtseintrag und ihren Vornamen ändern zu lassen. Was bisher erniedrigende Fragebögen ("Wozu masturbierst du eigentlich? Und was trägst du dabei für Unterwäsche?" Nur zwei der Fragen aus dem Bogen), Gutachten und viel Geld forderte, soll nun mit einer Erklärung gegenüber dem Standesamt erledigt sein. Schön! 

Schön ist auch, was das für einen einzelnen Menschen bedeuten kann, und an dieser Stelle kommt die Empathie ins Spiel. Denn mit der Geschlechtsidentität ist es so eine Sache: Ein Mensch fühlt sie. Und dabei ist es vollkommen egal, wie dieser Mensch aussieht, was er sich anzieht, wie er klingt oder sich bewegt. Oder wie andere Menschen darüber denken. Und natürlich kann ein Mensch sich so fühlen, wie ihn medizinisches Personal zu seiner Geburt zuordnete. 

Doch wie ergeht es wohl einer Person, die sich eben nicht ihrem zugeordneten Geschlecht zugehörig fühlt? Welche Rolle spielt sie in dieser Gesellschaft? Eine ist ganz klar: die der Rechtfertigenden, der Erklärenden. Die spielt sie im Laufe des Lebens leider oft: Gegenüber ihren Eltern wird sie sich erklären und rechtfertigen, gegenüber ihren Freund:innen, der Großfamilie, den Kolleg:innen und Vorgesetzten. Und sollte sie nach all diesen Erklärungen und Rechtfertigungen nicht bereits ausgezehrt und antriebslos sein, dann muss sie noch alle Kraft sammeln und dem Staat erklären: "Nein, der Penis, der da an mir herunterhängt, bestimmt nicht über meine Identität. Ich bestimme über meine Identität." Und der Staat antwortete lange Zeit: "Nein. Ich."

Was geht den Staat der Geschlechtseintrag eigentlich an?

Dem sollte das Selbstbestimmungsgesetz nun endlich Einhalt gebieten. "Männer, Frauen und diverse Menschen sind gleichberechtigt, also was geht den Staat der Geschlechtseintrag dann überhaupt noch an?", ist eine sehr berechtigte Frage, die die nichtbinäre Person Jj Link (ausgesprochen: "Jay-Jay") in einem Interview mit BRIGITTE bereits 2022 in den Raum warf. Ja, was denn eigentlich? 

Doch wo der Staat bei dieser Frage nun zurücktritt, macht er nur anderen Platz, über Geschlecht und Identität zu bestimmen. Beziehungsweise: So ganz nimmt er sich nicht raus, schließlich sind nun im Zuge des Antrags auf Namens- oder Geschlechtsänderung Auskünfte durch die Meldebehörde an diverse Behörden notwendig. Unter anderem: Bundesverfassungsschutz, Bundespolizei, Landeskriminalämter und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Diese kriminellen trans Menschen nutzen den Geschlechtseintrag ja offensichtlich als Möglichkeit, der Justiz zu entgehen.

Sicherlich: Bei Namensänderungen, die bis hin zur Geburtsurkunde durchgreifen, ist es üblich, dass eine ganze Reihe von Behörden informiert wird – insofern werden trans Menschen in diesem Kontext (ausnahmsweise) nicht anders behandelt als andere. Doch für Menschen, die es leider gewohnt sind, auf verschiedenen Ebenen diskriminiert zu werden, ist die Message, die hier mitschwingt, vor allem die: Auf euch müssen wir besonders genau schauen. An diesem unschönen Gefühl ändert leider auch wenig, dass die Daten gelöscht werden, sollte es keine vorherigen Einträge der Person bei den jeweiligen Behörden geben.

Die elende Saunadebatte und die Verfehlung des Kernproblems

Doch die Kriminalisierung von trans und anderen queeren Menschen geht noch weiter (und ist ohnehin historisch gesehen nichts Neues). Denn da haben wir ja noch das Saunathema. Ganz klar: Sexuelle Belästigung ist eine Straftat und trauriger Alltag vieler Frauen. Doch wenn man die Konzentration auf die Saunadebatte betrachtet, dürfte man meinen, sie sei die Quelle allen Übels beim Thema sexueller Gewalt gegen Frauen. Dem ist nicht so. Einmal deutlich: Laut Zahlen vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben ist jede 3. Frau von sexueller und/oder körperlicher Gewalt betroffen, davon allein ein Viertel (25 Prozent) in einer Beziehung. 

Und wer argumentiert, ein Mann müsse seinen Geschlechtseintrag ändern, um Frauen zu begaffen oder sexuell zu belästigen … sorry, aber so ein Mensch ist entweder höchst naiv oder sollte die eigene Debattierfähigkeit, ob solch lächerlicher Argumente, sehr kritisch betrachten. Eine Freundin erzählte mir erst kürzlich, wie sie einen Mann im Park dabei erwischte, wie er sie beobachtete und dabei masturbierte. Nicht zum ersten Mal, wohlgemerkt.

Meint: Leider ist es ein Fakt, dass Männer Frauen überall sexuell belästigen können und das auch tun. Dafür braucht es keinen Gang zum Standesamt, dafür muss er nur in den Park. Nicht zuletzt ist das Selbstbestimmungsgesetz nicht für solche Menschen gedacht, sondern für jene, die einen Leidensdruck verspüren, weil sie ihre eigene Identität nicht leben können. Die bloße Gefahr, dass Einzelne das Gesetz ausnutzen, darf nicht dazu führen, dass die Mehrheit, die von dem Gesetz so sehr profitieren würde, unter Generalverdacht gestellt wird.

Damit geht die Debatte am Kern des Problems vorbei: Dass Frauen in unserer Gesellschaft nicht sicher sind. Das sind trans Personen aber auch nicht. "Eigentlich geht es hierbei um die Verwaltung eines Mangels", erklärt Jj das Problem im damaligen Interview. Es sei nicht die Lösung oder sollte das Ziel sein, die Interessen von trans Frauen, die Gewalt erfahren haben, gegen die Interessen von cis Frauen oder lesbischen Frauen, die Gewalt erfahren haben, auszuspielen, so Jj weiter.

Das gemeinsame Problem all dieser Menschen ist es doch am Ende, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der sich verschiedene Gruppen nicht sicher fühlen und nicht, dass es diese Gruppen gibt.

Und genau das wird nicht bedacht. Der Zugang zu Einrichtungen und Räumen wie auch die Teilnahme an Veranstaltungen wird unverändert von den Eigentümer:innen oder Besitzer:innen bestimmt, heißt es im Gesetzesentwurf. Das heißt im Zweifel auch: Eine trans Frau, die beispielsweise "nicht weiblich genug" aussieht, wird gegebenenfalls daran gehindert, die Frauentoilette zu nutzen. Oder die Umkleide. Oder eben die von so vielen offensichtlich so heißgeliebte Sauna.

Damit wird die trans Person nicht nur diskriminiert, sondern auch anderen Gefahren ausgesetzt – zum Beispiel, dass sie auf der Männertoilette Gewalt erfährt. Und das wird schlicht hingenommen, auch mit dem neuen Gesetz.

Worum es eigentlich gehen sollte

Geschlecht ist komplex – ob wir nun von dem "biologischen" reden, das weit über das menschengemachte Binäre von Mann und Frau hinausgeht – oder vom sozialen. Geschlecht ist Teil der eigenen Identität, für manche mehr, für manche weniger. Es gibt Menschen, die den Begriff und alles, was damit zusammenhängt, gänzlich für sich ablehnen. Und wenn wir uns den ganzen Schlamassel anschauen, den "Geschlecht" unserer Gesellschaft seit Jahrhunderten einbringt – wer kann es ihnen verübeln? Und es gibt Menschen, die sich im binären System einordnen. Manche von ihnen so, wie die Gesellschaft es erwartet (cis Frau oder cis Mann) oder eben nicht (trans Frau oder trans Mann). 

Und nun kann man vielleicht behaupten, all die Label seien eine "Modeerscheinung" – Identität ist es aber nicht. Wenn Jugendliche sich vermehrt als trans bezeichnen, dann sicherlich nicht, weil es gerade en vogue ist, trans zu sein, sondern möglicherweise deswegen, weil sie überhaupt die Möglichkeit sehen, das zu tun. Wenn der Staat sie nicht zwingt, sich sterilisieren zu lassen, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität und das Hinterfragen von menschengemachten Grenzen und Einschränkungen vielleicht nicht mehr so angsteinflößend? 

Das Grundgesetz schützt das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung. Punkt. Das Selbstbestimmungsgesetz ist eine logische und längst überfällige Konsequenz. Doch auch, wenn die Selbstbestimmung in Teilen (wohl erst ab November 2024) gegeben sein mag: Auch mit diesem Gesetz bestimmen noch immer andere über Menschen wie meine Eheperson, welches Geschlecht sie hat und welche Orte und Veranstaltungen sie aufsuchen darf – und welche nicht. 

Noch können die gröbsten Schnitzer aus dem Gesetz getilgt werden, noch gibt es Hoffnung, dass die größten Diskriminierungsfallen behoben werden. Doch mit Blick auf die Debatte, auf die "Argumente" jener, die das Selbstbestimmungsgesetz und alles, was es bedeutet, verteufeln, zeigt sich: Hier geht es um "uns" und die "anderen", hier geht es darum, wer "richtig" ist und wer "falsch", "krank", "verstört" oder "verwirrt". Hier wird über die Identität anderer entschieden, geurteilt – und wenn man könnte, würde man sie gänzlich und offiziell absprechen. 

An alle trans, inter und nichtbinären Menschen, die nun mit einem ambivalenten Gefühl auf ein Gesetz schauen müssen, das einmal so vielversprechend klang: Es tut mir leid, ihr habt Besseres verdient. Vielleicht bekommt ihr es noch.

Verwendete Quellen: bmfsfj.de, queer.de, bmj.de, nd-aktuell.de, zeit.de, hilfetelefon.de, www1.wdr.de, zdf.de

Brigitte

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