Anzeige

Regeln brechen: Viiiieele Gründe, warum du genau das tun solltest

Regeln brechen: Frau verschränkt die Arme
© Eugenio Marongiu / Shutterstock
Nackt baden? Macht man nicht. Sich mit seinem Können brüsten? Schon mal gar nicht. Von all den anderen kleinen Normverstößen ganz zu schweigen. Dabei lebt es sich mit ein wenig Eigensinn viel glücklicher und gesünder!

Ich wäre gern ein Cowboy - schon seitdem ich ein kleines Mädchen war. Ein Cowboy ist ein unabhängiger Mann, der sich selbst genügt. Er tut, was ihm gefällt, und schert sich nicht darum, was die anderen von ihm denken. Manchmal geht ein Cowboy in eine Bar. Allein. Dort sinnt er in die Weite und die Zeit tröpfelt um ihn herum zu Boden. Manche Tresen-Cowboys legen ihre Stirn in Falten, die haben Liebeskummer oder knifflige Fragen zu klären, man weiß es nicht. In jedem Fall wirken sie lässig, unabhängig und frei und haben die Zügel ihres Lebens in der Hand.

Weibliches Grübeln dreht sich oft darum, was andere von einem halten

Ich würde meine heiklen Fragen hin und wieder auch gern an einem schummrigen Tresen klären. Aber ich befürchte, allein in einer Bar könnte ich wie ein Freak wirken, der keine Freunde und jede Menge Probleme hat. "Was würden die anderen denken?", sinniere ich. "Ist die Frau Alkoholikerin? Sucht sie Anschluss? Oder einen One-Night-Stand?" Ich solo am Tresen entspricht nicht der Norm und dem Durchschnittsverhalten meines sozialen Milieus. Also lasse ich, wozu ich Gelegenheit hätte. Nicht allein in eine Bar zu gehen ist mein persönliches "Ich mach’s nicht, weil ich glaube, dass es sich irgendwie nicht gehört"-Waterloo. Viele Frauen scheuen sich, Cowboys zu sein - selbst wenn das Pferd gesattelt und gezäumt vor ihnen steht und mit den Hufen scharrt.

Stattdessen setzen sie sich aufs Gatter und grübeln. Dabei kreisen die Gedanken um vage Probleme, für die keine Lösung vorhanden zu sein scheint. Weibliches Grübeln dreht sich häufig darum, was andere wohl von einem halten könnten, wenn man dieses oder jenes tut. So zu zaudern hat wenig mit geschlechtsspezifischen Synapsen oder Hormonen zu tun, aber eine Menge mit Regeln, die Frauen nicht brechen wollen. Soziale Normen sind eine komplexe Geschichte. Sie sind nichts Festgeschriebenes, sondern gesellschaftlich erwartete Verhaltensweisen. Sie basieren auf Werten wie Hilfsbereitschaft, Mitgefühl, Fairness, Ehrlichkeit, Respekt.

Auch im Kleinen wissen wir, was sich gehört: Wir drängeln in der Warteschlange nicht vor, verhalten uns im Restaurant manierlich und bemühen uns, so wenig wie möglich störend aufzufallen. Normen machen unser Handeln vorhersehbar, so klappt das Miteinander. Etlichem fügen wir uns zudem nur deshalb, weil es so üblich ist. Nur wenige Frauen über 60 tragen Minirock, mögen sie noch so schöne Beine haben. Wenn es im Job nicht gängig ist, von sich aus neue Ideen einzubringen, lassen wir es. Beim Familientreffen sprechen wir nicht über die Probleme der depressiven Tante, weil wir wissen, dass es für die anderen ein Tabu ist. Regelbruch also nur, wenn unser Umfeld sich nicht schockiert, gekränkt, übergangen, geärgert fühlt.

Nur wenige Frauen über 60 tragen Minirock – mögen sie noch so schöne Beine haben

Wer sich die Freiheit nimmt, auf Reaktionen zu pfeifen, erntet oft Missfallen und wird sanktioniert. Wie Ines, eine Chirurgin aus meinem Bekanntenkreis. Alle bewunderten ihre Zielstrebigkeit - bis ihr unverhofft eine berufliche Zusatzausbildung angeboten wurde. Ein Restplatz - es galt, sich schnell zu entscheiden. Das Problem: Die einjährige Fortbildung fand am anderen Ende Deutschlands statt, sie würde nur an den Wochenenden zu Hause sein können, und ihr Sohn war noch im Kindergartenalter. Doch da sein Vater bereit war, ihn allein zu betreuen, griff sie zu. So wirklich gehörte sich das aber nicht, spürte Ines. Selbst ihre berufstätigen Freundinnen reagierten verhalten oder offen verständnislos.

Frauen ergreifen keine Aufstiegschancen, um niemanden zu brüskieren

Dr. Petra Wüst ist Expertin in Sachen "Self Branding" und hilft ihren Klientinnen, sich selbst als starke, erfolgreiche Marke aufzubauen. Immer wieder erlebt sie, dass Frauen Aufstiegschancen im Job nicht ergreifen, weil sie niemanden brüskieren wollen. "Je mehr eigenes Profil ich zeige", sagt Wüst, "desto mehr ecke ich an, muss mit Kritik leben und damit, dass man mich eventuell nicht mehr so mag. Frauen haben Angst vor dieser Ausgrenzung, weil sie sich sehr über persönliche Beziehungen definieren. Die Furcht, nicht gemocht zu werden, hat auch gesellschaftspolitische Auswirkungen. Denn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich geändert. Nun müssen Frauen sich durchsetzen."

Je mehr Profil ich zeige, desto mehr ecke ich an und muss mit Kritik leben. Und damit, dass man mich eventuell nicht mehr so mag (Dr. Petra Wüst)

Rein theoretisch stimmt meine Kollegin Kerstin dem zu. Sie ist erfolgreiche Kinderbuchautorin, für einen ihrer Verlage schreibt sie bereits seit 20 Jahren. "Die mögen mich sehr", sagt sie, "und ich mag, dass die mich mögen." Gleichzeitig ärgert sie sich jedes Mal, wenn sie den neuen Verlagsprospekt in den Händen hält - wieder einmal glänzt ein anderer Autor verkaufswirksam auf dem Cover.

"Ich habe bei jedem Buch wieder die Möglichkeit, das anzusprechen", weiß sie. "Aber ich möchte, dass der Verlag findet: 'Mensch, diese Frau ist wirklich die flexibelste, angenehmste und entgegenkommendste Autorin, die wir haben!'" Sie selbst befolgt die Regel, niemanden zu verstimmen, strenger, als es ihr jemand anders je vorschreiben könnte.

Sei Pippi, nicht Annika!

Da helfen auch die frechen Pippi-Langstrumpf-Postkarten nicht, die Frauen einander so gern schenken. "Sei Pippi, nicht Annika", steht darauf. "Sei frech und wild und wunderbar" und "Ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt". Große Mädchen finden Pippi toll, weil sie so ist, wie es eine erwachsene Frau im Idealfall gern wäre: ein freier Mensch mit eigener Moral, der tut, wonach ihm gerade ist. Aufmüpfige Postkarten zu verschicken ist eine hübsche, aber ungefährliche Geschichte.

Klar, Frauen, die sich mehr nehmen, als uns erlaubt scheint, faszinieren uns. Aber gleichzeitig fürchten wir uns davor, ebenfalls eigensinnig und, ja, auch mal egoistisch zu sein. Eine Freundin von mir hat sich bei einem Erotikportal angemeldet. Die Zeit war reif: Das Kind war aus dem Haus, sie war solo und hatte Lust auf sinnliche Experimente. Im Überschwang berichtete sie auch konservativen Freundinnen von ihren Erfahrungen. "Die haben dann geguckt", erzählt sie. "Und noch mal geguckt. Und dann haben sie das Thema gewechselt. Es war ihre eigene Scham, ihre Unfreiheit - aber ich habe mich abgewertet gefühlt."

Eine andere Freundin hat einen unglaublich netten Mann. Außerdem hat sie einen geheimen Liebhaber, von dem wir alle wissen. Sie begegnete ihm zufällig auf einer Party und packte zu - ihr Ehemann wollte schon lange keinen Sex mehr. Manche von uns missbilligen, was sie tut, und schwenken das Fähnchen der Tugendhaftigkeit. Ihr Mann ist doch so liebenswert, gäbe es da keine schönere Lösung? Und liegt es nicht vielleicht sogar an ihr, dass es mit den beiden im Bett nicht klappt?!

"Rule breaker" sind in der Wirtschaft sogar hoch angesehen

Jenseits der Frauenwelt ist der Bruch mit dem Gängigen Normalität. Ohne ihn gäbe es keine Neuerungen - Musik, Kunst und Wissenschaften würden sich nicht weiterentwickeln können. Und in der Unternehmenswelt gilt die sachliche Maxime: Wer die Regeln befolgt und damit nicht gewinnt, hat genau drei Möglichkeiten: handeln wie gewohnt und weiter verlieren; die Branche verlassen - oder die handelsüblichen Regeln brechen. "Rule Breaker" sind in der Wirtschaft sogar hoch angesehen.

Der Psychologe und Führungskräftetrainer Roland Kopp-Wichmann hat oft mit Frauen zu tun, die sich schwer damit tun, so eine Gelegenheit zu ergreifen. Die verinnerlichten Lebensregeln, denen viele unbewusst folgen, nennt er "innerer Antreiber". "Und der fordert bei Frauen nun mal häufig 'Mach’s allen recht!'", sagt der Coach. "Mit rationalen Argumenten kommt man gegen solch ein mächtiges Gebot nicht an.

Für jeden Antreiber gibt es jedoch eine hilfreiche 'innere Erlaubnis'. Sie könnte lauten: 'Ich bin liebenswert, auch wenn ich gegen eine Regel verstoße.‘“ So eine Erlaubnis geben sich Frauen aber selten selbst. Bedauerlicherweise. "Denn die Berechtigung, gegen eine Norm zu handeln, kann nicht von außen gegeben werden", so Kopp-Wichmann.

Angela Merkel galt als "Vatermörderin" und "Nestbeschmutzerin"

Als Angela Merkel noch Generalsekretärin der CDU war, kam der Punkt, an dem sie sich entschied, nicht länger auf das Einverständnis ihrer Partei zu warten. Sie ergriff die Gelegenheit auszusprechen, was sie empörte, und zu sagen, was ihr wichtig war. In einem Zeitungsbeitrag rief sie die CDU dazu auf, sich vom dama­ligen Parteichef Helmut Kohl zu tren­nen. Er hatte sich zuvor lange gewei­gert, in der großen Spendenaffäre Namen zu nennen.

Merkels Aufruf war ein Affront, ein heftiger Regel­bruch. Die Ministerin galt als "Vater­mörderin" und "Nestbeschmutze­rin". Aber: Es war ihr Einstieg in den Aufstieg - sie wurde Parteichefin und letztendlich sogar Kanzlerin.

Nachbarin Insa schwimmt ausschließlich nackt, auch in der Stadt

Selbst ein Bad im Kanal kann ein Statement sein. Meine Nachbarin Insa ärgert sich selten über eine verpasste Chance. Vor allem im Sommer nicht. Insa ist Mitte 60, und wenn sie ins Wasser möchte, um eine Runde zu schwimmen, tut sie das. Egal ob in einem ländlichen Bach oder einem städtischen Fleet. Insa schwimmt ausschließlich nackt.

Sie sucht sich eine stille Stelle, entkleidet sich und steigt zügig ins Wasser. "Wer sich da­von belästigt fühlt, dem kann ich auch nicht helfen", sagt sie. Das Befreiende an all den Regeln, die wir befolgen: Sie beinhalten die Mög­lichkeit, sich über sie hinwegzuset­zen. Wer mit einer ungeschriebenen Norm bricht, handelt nicht skrupel­los - er ist einfach nur unkonven­tionell. Und hält es aus, nicht zum beliebtesten Familienmitglied, zur nettesten Nachbarin oder Kollegin gewählt zu werden.

Ich habe das Recht, 'anders' zu sein. Als eigensinniger Mensch habe ich Vergnügen an der Andersartigkeit (Ursula Nuber)

In ihrem Buch "Eigensinn. Die starke Strategie gegen Burn­out und De­pression - für ein selbstbestimmtes Leben" formuliert Diplompsycholo­gin Ursula Nuber die "Grundrechte des Eigensinns" so:

  1. "Ich habe das Recht, meine Stimme zu erheben. Ich schweige nicht aus Rücksicht auf an­dere, um sie nicht zu irritieren oder ihre Gefühle zu verletzen.
  2. Ich habe das Recht, nicht nett zu sein. Denn mir ist bewusst, dass Nettigkeit keine Garantie dafür ist, dass andere eben­ falls nett, fair und respektvoll sind.
  3. Ich habe das Recht, auf mich selbst stolz zu sein - und das auch zu zeigen. Ich mache mich nicht kleiner, nur damit andere sich in meiner Gegen­ wart größer fühlen können.
  4. Ich habe das Recht, die Erwartungen, die an mich gestellt werden, zu prüfen: Welchen Preis muss ich dafür bezah­len? Ist mir der Preis zu hoch? Wenn eine Forderung für mich keinen Sinn ergibt, schützt der Eigensinn meine Integrität und bewahrt mich vor Fremdbestimmung.
  5. Ich habe das Recht, mit mir zufrieden zu sein und mich Selbstverbesserungsvorschlägen zu entziehen. 'Gut' ist für mich 'gut genug'. Ich sorge dafür, dass ich nicht Opfer fremder Maßstäbe wer­de.
  6. Ich habe das Recht, 'anders' zu sein. Wenn ich meine eigene Wahr­heit lebe, bedeutet das unter Umstän­den, dass ich nicht mit dem Strom schwimme. Aber als eigensinniger Mensch habe ich Vergnügen an der Andersartigkeit." Wenn man so lebt, schreibt Gruber, läuft man nicht Gefahr, depressiv oder eine Burn­out­-Patientin zu werden. Im Gegenteil: Man reift zur Per­sönlichkeit, einem Menschen mit Ecken und Kanten, der gerade des­halb "von anderen respektiert und wertgeschätzt wird".

Okay, wir müssen ja nicht gleich durch die ganze Prärie reiten. Aber wenn das Pferd gesattelt vor uns steht, ist es nicht förderlich, auf dem Gatter zu grübeln. Sogar bloß in die nächste Bar zu reiten kann uns wei­terbringen - und eine wunderbare Revolution der bestehenden Ord­nung sein.

BRIGITTE WOMAN 05/2019

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel