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Von wegen Sorgenkind Wer neurotisch ist, lebt gesünder

Frau denkt sich furchtbare Dinge (Zeichnung)
© studiostoks / Adobe Stock
Neurotische Menschen haben keinen guten Ruf – warum eigentlich nicht? Alles hat seine guten Seiten, auch die Sorge.

Hach, was für ein gemütliches Bett. Noch eben die zwei riesigen Kissen aufgeschüttelt, die Decke bis zum Hals gelegt, und dann wird es Zeit, wohlig einzuschlummern. Doch HALT! Morgen steht doch diese Präsentation an. Was, wenn du die Präsentation nicht öffnen kannst? Oder das Layout komplett zerschossen ist, weil du den Laptop deiner Kollegin verwenden musstest, weil bei deinem der Akku versagt hat? Was, wenn die anderen deine Präsentation nicht verstehen, weil du immer so schnell redest und dabei noch nuschelst? Was, wenn sie deine Präsentation zwar sehr klar verstehen, aber uninteressant und nichtssagend, was, wenn sie dich endgültig als die Hochstaplerin entlarven, die du schon immer warst?

Die Hoffnung auf eine erholsame Nacht mit ausreichend Schlaf lässt sich für Menschen, die zu Sorgen tendieren, bereits mit nur einem kurzen Gedanken zunichtemachten. Denn bereits dieser kurze Gedanke reicht aus, um eine Kettenreaktion auszulösen, die zumeist mit einer – für die besorgte Person vollkommen logischen – Konsequenz enden muss: Die Erde tut sich auf und verschluckt sie.

"Don't worry, be happy" ist wohl der letzte Tipp, den solche Menschen gebrauchen können. Oftmals ist ihnen klar, dass ihre Sorgen gerne mal unverhältnismäßig groß sind. Dass von all den Szenarien, die in Dauerschleife vor ihrem geistigen Auge ablaufen, womöglich keines dabei ist, das auch im realen Leben genau so eintritt. Doch dass dieser Hang zu Sorgen und Grübeleien auch positive Aspekte hat, dass er antreiben und zu kreativen Höchstleistungen inspirieren kann, dass ist vielen "Neurotiker:innen" wohl nicht bekannt.

Was es mit Neurotizismus auf sich hat – und warum der Begriff befleckt ist

"Psychology Today" beschreibt Neurotizismus als eine der "Big-5-Persönlichkeitseigenschaften", die mit Neigungen zur Angst, Depressionen, Selbstzweifeln und anderen "negativen Gefühlen" verbunden wird. Gleich zwei Dinge müssen an dieser Stelle jedoch näher durchleuchtet werden: Zum einen liegt Neurotizismus – wie auch die anderen Persönlichkeitsfaktoren wie Extraversion oder Verträglichkeit – auf einem Spektrum. Meint also, dass manche Menschen neurotischer sind als andere. Zum anderen müssen wir einmal darüber sprechen, was "negative Gefühle" überhaupt meint.

Nehmen wir zum Beispiel das Gefühl der Angst: Diese Emotion, die uns seit Anbeginn der Zeit begleitet, warnt uns vor Bedrohungen. Und trotzdem, obwohl sie uns nur Gutes will, sehen wir sie als Ärgernis. "Niemand mag Angst, sie fühlt sich schlecht an. Und aus vielen Gründen könnten wir annehmen, dass alles, was sich so schlecht anfühlt, wahrscheinlich nicht gut für uns ist", erklärt die Professorin und Psychologin Tracy Dennis-Tiwary im Gespräch mit dem "Greater Good Magazine". 

Unsere Gesellschaft lebt ein Narrativ vor, nach dem wir Angst vermeiden, verhindern und besiegen sollen, dass diese Emotion ein Warnzeichen ist, etwas, was unserem Glück im Weg steht. Diese düstere Sicht auf so ein wichtiges Gefühl hat ihren Ursprung auch in der Psychoanalyse von Carl Gustav Jung und Siegmund Freud, verrät Dr. Adam Perkins vom King's College im Gespräch mit "The Guardian": "Sie vertraten die Ansicht, dass Angst etwas ist, das geheilt werden müsse." Eine Sichtweise, die auch andere Wissenschaftler:innen in jener Zeit des frühen 20. Jahrhunderts vertraten: Bestimmte Persönlichkeitseigenschaften in ihren Ausprägungen wurden wohlwollend betrachtet – andere nicht.

"Persönlichkeitsforscher:innen sahen die Dinge oft in Schwarz und Weiß", sagt Perkins. Demnach galt ein überdurchschnittlich hohes Maß an Extrovertiertheit als "ganz und gar gut", ein überdurschnittlich hohes Maß an Neurotizismus hingegen als "ganz und gar schlecht".

Warum uns Neurotizismus auch hilfreich sein kann

Es gibt Studien, die einen Hang zu "negativen" Gefühlen mit schlechterer Gesundheit in Verbindung bringen – was sinnvoll erscheint, schließlich sind verstärkte Stressredaktionen weder für Körper noch Geist gesund. Doch es gibt auch andere Untersuchungen, die auf das gegenteilige Ergebnis kommen, die man bei der Betrachtung von Neurotizismus nicht ignorieren sollte: Eine aktuelle Studie kommt beispielsweise zu dem Ergebnis, dass es verschiedene Subtypen geben könnte – manche Menschen empfinden sich auf dem Spektrum als "nervös" oder "hoch angespannt", andere sagen von sich, dass sie konkrete Sorgen haben oder sich mit Schuldgefühlen oder vergangenen Peinlichkeiten plagen. Und allesamt stehen sie unter dem Dachbegriff Neurotizismus. 

In Verbindung mit anderen Persönlichkeitsmerkmalen kann sich Neurotizismus auch positiv beim Thema Gesundheit äußern: Menschen, die gleichermaßen neurotisch wie gewissenhaft sind, würden beispielsweise eher planvoll an ihre Gesundheit herangehen – und Dinge meiden, von denen sie wissen, dass sie ihnen nicht guttun. So kam eine aktuelle Studie zu dem Ergebnis, dass gewissenhafte Neurotiker:innen seltener rauchen und sich eher an die Bewegungsrichtlinien halten als der Durchschnitt der Bevölkerung. Meint: Sie wissen, dass Sport wichtig ist, Bewegung guttut und langfristig gesund hält – also machen sie ihn, ob nun gern oder nicht, ist dabei zweitrangig.

Tatsächlich kann ein stärker ausgeprägter Neurotizismus auch zu mehr Kreativität führen – all die Sorgen und Bilder, die im Kopf eines solchen Menschen umherschwirren, sind schließlich auch in gewisser Weise ein Hinweis auf eine immense Vorstellungskraft. "Man hat eine Art Kinoleinwand im Kopf, auf der man verschiedene Möglichkeiten durchspielt", erklärt Dr. Perkins das Phänomen. Sicherlich: Gerade zu später Stunde im Bett können diese Bilder zu destruktivem Grübeln animieren – oder aber auch zu tieferem Denken und originellen Ideen. "Solche Menschen haben wahrscheinlich einen Vorteil gegenüber jenen, die nie über Probleme nachdenken."

Als besonders neurotisch galt beispielsweise der Erfinder Isaac Newton. Melancholisch und grübelnd wurde er von seinen Mitmenschen genannt – doch diese vermeintlich "schlechten" Eigenschaften führten auch dazu, dass er lange Zeit über wissenschaftliche Fragen nachdachte und -grübelte, wie aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht. "Er grübelte immer wieder über diese Probleme nach und schließlich, nach Monaten oder gar Jahren, konnte er sie lösen", sagt Perkins.

Auch der Umgang mit externen Problemen ist bei neurotischen Menschen anders – und kann ihnen ein Vorteil sein. Ergebnisse einer US-Studie deuten zumindest an, dass bestimmte neurotische Persönlichkeitstypen (überraschend) gut mit Ungewissheit umgehen können: Kurz nachdem die US-Regierung im März 2020 aufgrund von Corona den Notstand ausgerufen hatte, fühlten sich alle Proband:innen der Studie hilflos. Die Menschen mit einem hohen Neurotizismuswert hatten jedoch früher das Gefühl, die Kontrolle zurückzuerlangen als Teilnehmende mit einem entspannten Persönlichkeitstypen. Ein möglicher Grund: Eine erhöhte Wachsamkeit kann zu einer konstruktiven Bewältigung gegenüber neuen Bedrohungen führen – schließlich sind diese Menschen oftmals auf das Schlimmste (zumindest in der Theorie) vorbereitet.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Neurotizismus – wie die restlichen Persönlichkeitsmerkmale der "Big Five" – nicht unbedingt Eigenschaften hat, die sich lapidar als "positiv" oder "negativ" bewerten lassen. Sorge kann angebracht sein oder fehl am Platz, das Kopfkino kann uns die schlimmsten Filme zeigen oder uns zu Großem animieren. Was "gut" und was "schlecht" ist, ist letzten Endes eine Sache des Individuums und der Umstände – und das ist wohl die wichtigste Erkenntnis.

Verwendete Quellen: theguardian.com, psychologytoday.com, spektrum.de, sciencedirect.com, journals.sagepub.com, greatergood.berkeley.edu, online.ucpress.edu

csc Brigitte

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