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Freier Wille Wer oder was bestimmt, was für ein Mensch du bist?

Psychologie: Bild von einer Frau mit Schirm
© Jose / Adobe Stock
Frühkindliche Prägungen, Erben der Evolution, physiologische Reaktionen – bleibt dazwischen noch irgendwo Platz für einen freien Willen und Selbstbestimmtheit? Einige Expert:innen sagen, ja, und andere, nein.

Zu Beginn unseres Lebens kann von Freiwilligkeit keine Rede sein: Ehe wir existieren, entscheiden ein bis zwei Menschen, ein Kind zu bekommen, und damit dürfen wir dann leben. In den ersten paar Wochen können wir immerhin schon wählen, ob und unter welchen Umständen wir auf uns aufmerksam machen und was wir lieber im Stillen ertragen, doch eine ganze Weile wissen wir davon gar nichts. Je nach Umfeld und Kulturkreis, in dem wir aufwachsen, prägen wir uns in unserer frühen Lebensphase bestimmte Werte, Kategorien, Denkmuster und Verhaltensweisen ein, die wir anwenden, anpassen, vertiefen, aber jedenfalls befolgen. Irgendwann stellen wir dann fest, dass wir sind, wer wir sind, und haben das Gefühl, unsere Identität und unser Leben selbst mitgestalten zu können und über ein gewisses Maß an Freiheit zu verfügen – zum Beispiel, wenn es darum geht, Pommes oder Salat zu essen.

Wo aber soll diese Freiheit plötzlich herkommen, wenn wir unsere Existenz und einen beträchtlichen Teil dessen, was uns als Mensch ausmacht, einer unheimlich langen und für uns nicht mehr im Detail nachvollziehbaren Reihe von Ereignissen zuzuschreiben haben, auf die wir keinerlei Einfluss hatten? 

Freier Wille: Schließen sich Physische Reaktionen und Selbstbestimmung aus?

Suchten Menschen früher, diese Frage mit Konzepten wie Seele, Transzendenz und Geist oder anhand logisch-rationaler Theorien zu beantworten, vermuten heute immer mehr Personen des Rätsels Lösung in unserem Gehirn beziehungsweise in unserer physiologischen Ausstattung. Was diese Vermutung unter anderem überzeugend und attraktiv erscheinen lässt: Nachweise auf Basis von Messdaten, die zum Beispiel eine eindeutige und maßgebliche Beteiligung des Gehirns an all unseren Entscheidungen belegen.

Wenn aber unser Gehirn aufgrund all der von uns nicht beeinflussten Faktoren und Kleinigkeiten, die uns widerfahren sind, eine bestimmte Beschaffenheit hat, die erklärt, warum wir wie entscheiden, hat sich die Sache mit dem freien Willen und selbstgewähltem Lebensweg damit erledigt, bevor wir sie ganz genau ausführen können? Bislang sind sich die Expert:innen in dieser Frage uneinig – somit lautet die Antwort aktuell noch: Nein.

Determinismus versus freier Wille: Zwei prominente Positionen

Der US-amerikanische Psychiater Ralph Lewis stellt in einem umfangreichen Blogeintrag für "Psychology Today" zwei zurzeit prominente Positionen und Repräsentanten mit ihren Kernargumenten in der Debatte um den freien Willen vor: Robert Sapolsky ist Biologe und vertritt die Ansicht, unser Verhalten, Denken und Entscheiden sei die zwingende Folge aus der Gesamtheit der Umstände, die sich in und um uns herum abspielen. Er hält uns somit für determiniert, also für Ausführende einer bereits unumgänglichen Reaktion, und theoretisch berechenbar. Neurogenetiker Kevin Mitchell hat eine andere Position: Er sieht in den Entscheidungsprozessen unseres Gehirns eine Unvorhersehbarkeit, die allein mit einer Freiheit zu erklären sei, über die wir als menschliche Individuen verfügen.

Robert Sapolsky stellt im Rahmen seiner Ausführungen Motivatoren und Ursprünge unserer Handlungen mit unterschiedlichen Zeitabständen vor: Sekunden vor unserer Handlung senden uns bestimmte Neurotransmitter einen Befehl. Minuten vorher befinden wir uns in einer bestimmten Situation, in der uns beispielsweise eine andere Person beleidigt oder ein Kompliment macht. Tage oder Wochen vor einer Handlung waren wir vielleicht krank oder hatten unseren Eisprung. Gehen wir Jahre zurück, landen wir bei Kindheitserfahrungen, die unser Verhalten im Erwachsenenalter beeinflussen, und Jahrhunderte und -tausende zuvor hat sich die Kultur entwickelt, in der wir leben und die uns zum Beispiel vorgibt, dass wir uns schämen, wenn wir pupsen – weshalb wir es möglichst vermeiden. Noch längerfristig hat wiederum die Evolution beispielsweise Übermut benachteiligt und neugierige Vorsicht belohnt. Würden wir jeden Moment unserer individuellen und gemeinsamen Geschichte berücksichtigen, so Robert Sapolskys These, wäre jede unserer Handlungen zu erklären. 

Kevin Mitchell legt als Neurogenetiker, so scheint es, einen stärkeren Fokus auf das, was sich in unserem Gehirn abspielt, ehe wir handeln und entscheiden. Und kurz gefasst, ist das Folgendes: In jedem Moment sind wir als Organismen einer Vielzahl von Reizen und Informationen ausgesetzt. Ein Geräusch, ein Geruch, eine Bewegung, Hitze oder Kälte. Hinzu kommen Mitteilungen aus unserem Körper: Hunger, Durst, Müdigkeit, Bewegungsdrang, Rückenschmerzen. Und mit ein fließen Erinnerungen und Gelerntes: Dröhnen kommt von Motoren und muss uns nicht beunruhigen. Hunger kann warten, bis wir mit der Arbeit fertig sind. Diese Beispiele sind zwar um einiges zu einfach, um der Komplexität der Wirklichkeit gerecht zu werden, doch das Prinzip ist vielleicht klar: Wir sind mit einer Fülle an Informationen konfrontiert, die unser Gehirn verarbeitet. Verarbeitet und dabei auf ein erstaunlich einfaches Problem herunterbricht: Neuron zünden oder nicht. Reagieren oder nicht reagieren. Schreien oder abwarten. Laufen oder ruhig verhalten. 

Neurologisch betrachtet ist jede unserer Handlungen eine Ja-Nein-Entscheidung. Beziehungsweise eine ganze Reihe von Ja-Nein-Entscheidungen, weil an mehreren Stellen Reize weitergeleitet werden können oder nicht. Durch nichts und niemanden ist jedoch zuverlässig vorherzusagen, wie die einzelnen und vor allem die letzte Entscheidung ausfallen wird. Und genau da könnte laut Kevin Mitchell Platz für unseren freien Willen sein. Für unsere Handhabe darüber, wer wir sind und werden. Wie genau die aussieht und sich anfühlt, bleibt wiederum zunächst uns selbst zu erarbeiten. 

Fazit

Hätten wir keinen freien Willen, würde das bedeuten, dass wir uns leichter verzeihen dürften und uns die Mühe sparen könnten, ein Mensch zu werden, der höheren Ansprüchen genügt, als wir es gerade tun. Es würde geschehen, was geschieht, wir könnten nicht mehr, als wir können, egal, wie sehr wir uns anstrengen und bemühen. Bemühen würden wir uns trotzdem, soweit wir nicht anders könnten, doch es wäre für uns weniger motivierend und zufriedenstellend. Das ist vielleicht ein Grund, aus dem bis heute nicht alle Menschen die Idee von der Selbstbestimmtheit losgelassen haben: Ohne Motivation und (Selbst-)Zufriedenheit ist dieses unfreiwillig erhaltene Leben weniger reizvoll.

Ein weiterer Grund könnte schlicht und einfach das sein, was wir fühlen. Wir erleben Situationen mit unterschiedlichen Graden der Kontrolle und Selbstbestimmtheit: Manchmal haben wir keine Wahl, weil wir uns Regeln, Gesetzen und anderer Leute Wille fügen müssen. Zum Beispiel, um nicht eingesperrt zu werden oder um zu überleben. Manchmal merken wir, wie unsere Denkmuster greifen und wir nicht souverän reagieren können. Beispielsweise in einer schlaflosen Nacht. Oder bei einer Begegnung mit einer Person, die unserem gewalttätigen Ex-Partner ähnelt. Wir wissen ganz genau, wie es ist, unfreiwillig zu handeln. 

Auf der anderen Seite erleben wir eben andere Situationen. Momente, in denen sich unterschiedliche Möglichkeiten in unserer Vorstellung entfalten und wir uns in der Verantwortung und Lage sehen, dazwischen abzuwägen und eine zu wählen. Momente, in denen wir zögern, unserem eindringlichen Impuls nachzugeben, und erwägen, aus unserer uns vertrauten Rolle auszubrechen. Dieser Zwiespalt, den wir manchmal erfahren, mag sich erklären und herleiten lassen und in erster Linie der Tatsache geschuldet sein, dass wir bei aller Begrenztheit unserer kognitiven Fähigkeiten doch in der Lage sind, einen beachtlichen Grad an Komplexität zu konstruieren. Aber genau dieser Zwie- oder Mehrspalt fühlt sich eben an wie Freiheit. Und solange er sich danach anfühlt, können wir ihn als solches verstehen und ist er es für uns. 

Verwendete Quellen: psychologytoday.com, "Betreutes Fühlen", 27. Februar 2024 Folge "Gefühle kontrollieren – ein neuer Ansatz" 

Brigitte

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