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Palliativpsychologin Menschen, die nach diesem Prinzip leben, bereuen am Ende am wenigsten

Palliativpsychologin: Eine nachdenkliche Frau
© Mama Belle and the kids / Shutterstock
Das Leben ist kostbar und die Vorstellung, ganz am Ende zurückzublicken und zu erkennen, es verschwendet zu haben, ist für viele Menschen beängstigend. Was können wir tun, um dem vorzubeugen? Darüber haben wir mit einer Palliativpsychologin gesprochen.

Im Unterschied zu anderen Tieren können wir in unserem Leben vieles sein und machen. Wir können als Ingenieurin arbeiten oder als Krankenpfleger. Wir können witzig sein oder ernst. Wir können joggen gehen, Fußball und Blockflöte spielen, uns vegan ernähren, in den Urlaub mit dem Camper nach Südfrankreich fahren und uns in Fantasy-Büchern verlieren. Ein Löwe dagegen kann zum Beispiel nicht sagen, ich verzichte ab jetzt mal lieber auf Fleisch. Eine Qualle muss sich weder überlegen, ob sie einen Führerschein braucht noch, ob sie sich konfirmieren lassen möchte.

Dass wir als Menschen einige Freiheiten und Möglichkeiten haben und unser Leben auf vielfältige Weise gestalten können, können wir als Privileg und Glück empfinden. Es kann uns aber auch Angst machen. Denn im Unterschied zu einer Qualle könnte es uns passieren, dass wir eines Tages zurückblicken und denken: Verdammt, durch diese Konfirmation damals habe ich mir Wege verbaut, die ich sehr gerne betreten hätte. Doch nun ist es zu spät. (Unter der hypothetischen Annahme, dass mit einer Konfirmation Einschränkungen und Vorgaben verbunden wären, wie es in einigen Konfessionen der Fall ist.) Was aber können wir tun, damit uns so etwas nicht passiert? Damit wir am Ende unseres Lebens in Frieden statt in Reue gehen? Damit wir, wann immer es so weit ist, auf unseren Tod vorbereitet sind? Darüber haben wir mit der Palliativpsychologin Hanna Salm gesprochen.

Die wichtigsten Eckpfeiler für ein glückendes Leben

Wie der US-Psychologe und Leiter der einzigartigen Langzeitstudie "Harvard Study of Adults Development" Robert Waldinger ist auch Hanna Salm aufgrund ihrer Erfahrungen der Auffassung, dass unsere persönlichen Beziehungen eine zentrale Rolle für unser Lebensglück und unser Empfinden von Erfüllung spielen (hier kannst du nachlesen, was unheilbar kranke Menschen laut der Palliativpsychologin am meisten hadern lässt und hier, warum Robert Waldinger Beziehungen für den Schlüssel zum Glück hält). Menschen, die uns etwas bedeuten (und wir ihnen), eine hohe Priorität in unserem Leben einzuräumen, ist somit schon einmal eine Entscheidung, die wir am Ende sicher nicht zu bereuen brauchen. Doch wir sind ja noch mehr als unsere Beziehungen. Unser Leben besteht nicht allein aus der Pflege sozialer Kontakte. Was können wir tun, um insgesamt, das heißt in Bezug auf alle Lebensbereiche am Ende nicht das Gefühl zu haben: Ich bin noch nicht bereit, das kann doch noch nicht alles gewesen zu sein? 

"Die entscheidende Frage ist, was wir tun können, um das eigene Leben zu leben. Und nicht eines, das uns einfach so passiert ist.", so Hanna Salm. Führe ich das Leben, das ich möchte? Bin ich mit den Menschen zusammen, mit denen ich zusammen sein möchte? Mache ich beruflich das, worin ich Erfüllung, Sinn oder Freude finde? Immer wieder innezuhalten und uns vor Augen zu führen, was für uns von Bedeutung ist, zu überprüfen, ob wir unsere Prioritäten auf diese für uns bedeutsamen Dinge legen – das sei aus der Erfahrung der Palliativpsychologin eine Maßnahme, die uns vorbereiten und einen Abschied in Frieden in Aussicht stellen kann. "Ich beobachte, dass es Menschen umso leichter fällt, am Ende loszulassen, je authentischer sie leben, also je mehr sie so leben, wie sie sind.", sagt Hanna Salm. Und: "Ich habe oft den Satz gehört, 'ich wünschte, ich hätte nicht so viel auf später geschoben.'" Auch Hanna Salm kann aufgrund ihrer Wahrnehmung zudem bestätigen, dass es selten Fehler sind, die Menschen gemacht haben und am Ende bereuen, sondern eher Versäumnisse und Dinge, die sie nicht gewagt haben.

Oft müssen es keine großen Veränderungen sein

Zugegeben: In der Praxis ist es ganz sicher nicht einfach, unser Leben genau so einzurichten, wie wir es möchten, oder es immer gleich anzupassen, wenn wir Bedarf dazu sehen. Haben wir einmal einen Kurs eingeschlagen, sind in einem Trott drin, sprinten im Hamsterrad orientierungslos vor uns hin, kann es wahnsinnig schwer sein, auszubrechen und die Richtung zu wechseln. Doch oft müssen wir das auch gar nicht so radikal. Oft brauchen wir gar nicht viel zu ändern, um viel zu erreichen. Häufig genügt schon eine Verschiebung von Prioritäten, um uns unser Leben wieder zu eigen zu machen. Manchmal hilft es, uns daran zu erinnern, warum wir diesen Weg einmal eingeschlagen haben, auf dem wir uns befinden, um darin den Sinn zu sehen und unsere Motivation oder Überzeugung wiederzufinden. Und manchmal können wir, nur indem wir bewusst hinschauen, uns anders positionieren, unsere Einstellung neu ausrichten, sogar genau das wollen, was ist, und sind plötzlich nicht mehr die getriebene, sondern die treibende Kraft. 

Im Unterschied zu anderen Tieren können wir in unserem Leben vieles sein und machen und haben zahlreiche, tolle Optionen zur Wahl. Wenn wir hier und da mal Entscheidungen treffen, an denen wir hinterher zweifeln, die wir zu einem späteren Zeitpunkt mit mehr Wissen und Erfahrung nicht mehr so treffen würden, ist das kein Grund, sich zu grämen – das Leben ist ein ergebnisoffenes Experiment. In der Tat wäre es jedoch schade, würden wir unser persönliches Experiment nicht selbst gestalten, sondern "einfach passieren" lassen. Denn dafür müssten wir kein Mensch sein. Das könnten wir genauso gut als Qualle.

Brigitte

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