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Arbeitsunfähigkeit Wenn ich 'Krankfeierer' höre, fühle ich mich ertappt

Arbeitsunfähigkeit: Eine Frau auf einer Fensterbank
© Photocreo Bednarek / Adobe Stock
Die Zahl der krankheitsbedingten Ausfalltage von Arbeitnehmenden steigt. Für die Wirtschaft ist das schlecht. Und für die Menschen? Was hinter dem Trend zur Krankmeldung steckt, wie wir damit umgehen und überhaupt – diskutiert unsere Autorin hier.

Der Umgang mit krankheitsbedingten Arbeitsausfällen hat sich in unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten verändert: Nach einer Zeit, in der viele Menschen stolz darauf waren, sogar mit Husten und Schniefnase zur Arbeit zu gehen, haben wir Burnout und unsere Psyche entdeckt und während der Corona-Pandemie erfahren, dass ein Mal Halsschmerzen zu ignorieren für eine ganze Belegschaft Folgen haben kann. Meine Wahrnehmung ist: Wir als Gesellschaft sind in Gesundheitsfragen sensibler, achtsamer, selbstbewusster geworden.

Krankenstand so hoch wie nie

Möglicherweise zeigt sich der gesellschaftliche Gesinnungswandel nun in unseren Zahlen und Statistiken: Die Krankmeldungen steigen, Arbeitskräfte fallen immer häufiger aus. Im Jahr 2023 verzeichnete die Techniker Krankenkasse gut 19 krankheitsbedingte Ausfalltage pro versicherter Person, die DAK sogar 20. Zum Vergleich: Im Jahr 2004 hat das Statistische Bundesamt knapp neun Krankheitstage pro beschäftigter Person registriert. Ein Niveau, das sich über mehrere Jahre hielt. 2022 zeigt die Kurve den ersten gewaltigen Sprung von elf auf 15 Tage, der sich im Folgejahr in etwa genauso wiederholt. Die Zahlen, die bis jetzt für 2024 vorliegen, lassen vermuten, dass wir einen neuen Krankenhöchststand verzeichnen werden.

Aus Sicht von Unternehmen und Arbeitgebenden ist das besorgniserregend: Ausfalltage kosten Geld. Zwischen 27 und 42 Milliarden Euro, schätzt das Institut für Weltwirtschaft in Kiel, gingen der deutschen Wertschöpfung 2022 durch Krankmeldungen verloren. Für große Unternehmen sind solche Zahlen ärgerlich und problematisch, für kleinere Arbeitgebende oder Familienunternehmen hängt damit mitunter die Lebensgrundlage zusammen. In jedem Fall erscheint es deshalb sinnvoll investierte Zeit, sich eingehender mit der Frage auseinanderzusetzen: Warum melden sich Beschäftigte zurzeit so häufig krank? Und dann natürlich: Wie gehen wir damit um. 

Brauchen wir gesündere Arbeitsplätze – oder strengere Kontrollen?

Viele Expert:innen sind an dem Thema dran. Sie schauen sich an, was die Gründe für die vielen Krankmeldungen sind: Atemwegserkrankungen (Erkältungen und Co.) auf Platz 1, Muskel-Skelett (so etwas wie "Rücken") auf 2, psychische Beschwerden auf 3. Sie bewerten, was auffällig ist und wo sie Handlungsbedarf sehen. Sie erarbeiten Ideen und Maßnahmen, die helfen könnten. Ein Ergebnis dessen ist zum Beispiel, dass Unternehmen neuerdings angehalten sind, Umfragen zu psychischen Belastungen im Arbeitskontext durchzuführen. Es gibt unzählige Vorschläge zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen in gesundheitsfördernder Weise – die hier aber gar nicht mein Thema sein sollen. Mich beschäftigt nämlich etwas ganz anderes: Dass ich in meinen Feeds wieder und wieder Zeilen lese wie "Was Firmen legal gegen 'Krankfeierer' tun können". Oder "Was tun bei Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit". 

Solche Zeilen irritieren mich und werfen bei mir Fragen auf, die ich mir unter meinem beschränkten Erfahrungshorizont gar nicht gestellt hätte: Ist unser Problem, dass sich Menschen ungerechtfertigterweise krankmelden und ihre Arbeitgeber betrügen? Brauchen Unternehmen mehr Mittel und Handhabe, um die Einschätzung ihrer Beschäftigten und Beurteilungen von Ärzt:innen zu überprüfen – und dagegen vorzugehen? Dann beginne ich, an mir und meinen Bewertungen zu zweifeln: Habe ich womöglich "krankgefeiert", als ich nach einem Unfall wegen Verletzungen an Bein und Rippen vier Tage von meinem Schreibtischjob abgemeldet war? Feiert eine Person krank, die nach dem Tod eines angehörigen Menschen für mehrere Wochen krankgemeldet ist? Ich empfinde es eigentlich als positive Entwicklung, dass das Kapitel des Zähnezusammenbeißens und Hartseins vorbei ist. Dass sich Menschen Zeit für sich nehmen, wenn sie sie brauchen. Also wer sind denn nun diese "Krankfeierer", gegen die Firmen etwas tun müssten? In meiner Irritation habe ich beim Hausärzteverband nachgefragt.

Hausärzt:innenverband: "An sich eine positive Entwicklung"

"Den Eindruck, dass eine Faulheitswelle über Deutschland schwappt und niemand mehr Lust hat zu arbeiten, können wir überhaupt nicht bestätigen", sagt Vincent Jörres, Pressesprecher des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes. "Ein maßgeblicher Faktor für die zurzeit auffällig hohen Zahlen ist, dass die Krankmeldungen neuerdings elektronisch bei den Versicherungen eingehen. Dadurch werden alle erfasst, was in der Vergangenheit nicht der Fall war." Seit 2023 sind Praxen verpflichtet, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU-Meldungen) digital an die Versicherungen zu senden. Zuvor mussten Beschäftigte dies selbst tun – und haben es häufig nicht gemacht, sagt Vincent Jörres. Gerade vor zehn, 20 Jahren, als Krankmeldungen nur per Post an die Versicherungen geschickt werden konnten, haben sich viele Leute den Weg zum Briefkasten gespart, insbesondere bei kurzen Ausfallzeiträumen. Heißt also: Unsere Statistiken vermitteln einen falschen Eindruck, weil Krankmeldungen heute vollständiger erfasst werden als früher.

Nichtsdestotrotz, gesteht Vincent Jörres zu, melden sich Menschen in Deutschland zurzeit häufiger krank, sind bereitwilliger, sich arbeitsunfähig schreiben zu lassen. In der Wahrnehmung des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands gibt es dafür vor allem zwei Gründe: Erstens sind Menschen durch Corona vorsichtiger geworden und haben ein ausgeprägteres Bewusstsein dafür, dass sie andere Personen anstecken könnten. Zweitens gehen heute mehr Menschen mit psychischen Beschwerden zur Ärztin und sind dann bereit, "eine Krankschreibung zu akzeptieren", wie es Vincent Jörres formuliert. "Das ist an sich eine positive Entwicklung", sagt der Experte.

"Bettkantenentscheidung": Soll ich mich krankmelden, obwohl ich es vielleicht nicht bin?

Es gibt aber noch eine Komplikation: die sogenannte "Bettkantenentscheidung". Dieser Ausdruck hat sich für die Entscheidung etabliert, die Menschen treffen müssen, wenn sie nicht eindeutig krank sind, aber sich trotzdem die Frage stellen, ob sie sich von der Arbeit abmelden, also krankmelden. Ich denke dabei zum Beispiel an Situationen wie die folgenden: Ich habe die ganze Nacht gegrübelt und nur zwei Stunden geschlafen. Ich habe Kopfweh und fühle mich schlapp, aber sonst ist alles okay. Ich bin gerade aus diversen Gründen akut gestresst und überfordert von allem. In solchen Momenten könnten ich und andere Menschen vor der "Bettkantenentscheidung" stehen – und, so verstehe ich es, zu sogenannten "Krankfeierern" werden. 

Laut einer Umfrage der Krankenkasse Pronova BKK unter gut 1.200 Beschäftigten fiel diese Entscheidung bei 10 Prozent der Befragten "häufig" zugunsten der Krankmeldung aus, bei 23 Prozent "manchmal", bei 26 Prozent "selten" und bei 36 Prozent "nie". Wir könnten zu diesen Zahlen jetzt natürlich sagen: "Nur 36 Prozent der Arbeitnehmenden feiern niemals krank – was für ein Skandal!" Doch auf der anderen Seite gingen laut derselben Umfrage mehr als 66 Prozent der Beschäftigten nach einer Erkrankung schon wieder zur Arbeit, ehe ihre Symptome auskuriert sind. Und das könnten wir interpretieren als: Gleicht die Verluste durch Bettkantenentscheidung doch wieder aus. 

Fazit

Ich kann meine drängendsten Fragen und Irritationen für den Moment beantworten und besänftigen: Unser Problem ist nicht, dass alle Leute ihre Arbeitgeber betrügen und die Unternehmen mehr Macht im Krankmeldeprozess bräuchten. Ich habe nicht krank gefeiert, als ich nach meinem Unfall nicht gearbeitet habe, und eine Person, die in einer Trauerphase abwesend ist, tut das auch nicht. 

Die Entscheidung "bin ich heute arbeitsfähig oder nicht?" zu treffen, fällt vielen Menschen schwer – oft sogar dann, wenn für Außenstehende klar ersichtlich ist: "Du bist es nicht". Die meisten denken nicht nur an sich, sondern an ihre Kolleg:innen, die ihren Ausfall auffangen müssen, an ihre Führungskraft und was die sich für ein Bild von ihnen macht oder an ihren Platz und ihre (Un-)Ersetzlichkeit in ihrem Unternehmen. Deshalb ist es gut und wichtig, dass uns spätestens nach ein bis zwei Tagen Personen bei dieser Entscheidung unterstützen, die dafür qualifiziert sind: Hausärzte, Orthopädinnen, Gynäkologinnen. Mediziner:innen sind dafür ausgebildet zu beurteilen, ob jemand krank oder arbeitsfähig ist. Arbeitgeber, Führungskräfte, Kolleg:innen sind es nicht. 

Ich verstehe, dass es gerade für kleine Unternehmen ein riesengroßes Problem sein kann, wenn ihre Beschäftigten ständig ausfallen. Und wir könnten und sollten sicherlich darüber sprechen, wie wir damit umgehen wollten, wenn plötzlich die Mehrheit der Beschäftigten nach jeder durchgefeierten Nacht die Bettkantenentscheidung trifft: Heute bin ich krank. Das wäre nämlich ein Hinweis darauf, dass es ihnen an Sinn und Motivation in ihrer Tätigkeit fehlte und an Solidarität zu ihren Kolleg:innen und Unternehmen. Auch in dem Fall glaube ich zwar nicht, dass Misstrauen und Kontrolle seitens der Arbeitgeber eine gute Lösung wären – aber ich möchte hier gar nicht über Einzelfälle beziehungsweise ein "Was wäre, wenn"-Szenario sprechen: Eine Arbeitsverweigerungswelle ist aktuell nicht unser Problem. 

Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der Gesundheit und Wohlergehen der Menschen im Vordergrund stehen, müssen wir, glaube ich, Rahmenbedingungen zu schaffen versuchen, in denen sich Beschäftigte arbeitsunfähig melden können, wenn sie es sind – und wenn darunter manchmal eine Bettkantenentscheidung fällt, zu der nicht alle einer Meinung sind. Eine dieser Rahmenbedingungen könnte zum Beispiel sein, Ruhe und Vertrauen ineinander zu bewahren, wenn statistisch gesehen der Krankenstand hoch ist. 

Brigitte

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