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Selbsttranszendenz Was Menschen gemeinsam haben, die zufrieden älter werden

Psychologie: Abbildung einer Frau mit dem Kosmos in ihrem Kopf
© Mila Tovar / Adobe Stock
Der Begriff Selbsttranszendenz bezeichnet das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein. Warum es sich für uns lohnen kann, es zu kultivieren, und wie das gelingt, erfährst du hier.

Ob wir es Seele nennen, Geist, Psyche oder ob wir es als Produkte neurologischer Reaktionen und Impulse betrachten: Ein Teil dessen, was uns als menschliche Wesen ausmacht, ist nichts Stoffliches oder Organisches, sondern, wie es in der Philosophie traditionell heißt, metaphysisch. Unsere Ideen, Träume, Erinnerungen, Pläne und Fantasien existieren, ohne dass wir sie anfassen oder physikalisch bemessen können. Den Beweis ihrer Existenz erbringen wir seit Jahrtausenden jeden Tag, indem wir Helikopter erfinden, Bücher schreiben, Theorien aufstellen oder uns gegenseitig von unseren Leben erzählen. 

Wir können davon ausgehen, dass Tiere und Pflanzen ebenfalls einen metaphysischen Anteil haben, doch da wir nicht in der Weise mit ihnen kommunizieren können, wie wir es untereinander tun, und wir nur unsere menschliche Erfahrung selbst erleben, können wir ihn schlechter einschätzen als unseren eigenen – der auf jeden Fall beträchtlich ist. 

Warum wir uns als Einheit manchmal gespalten fühlen können

Zwar ist unser Leben an unsere Physis gebunden, und deshalb steht vermutlich alles, was uns ausmacht, zumindest in einem Zusammenhang zu unserem stofflichen Körper. Aber das ändert nichts daran, dass vieles von dem, was wir erleben und erfahren, was unsere Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, nicht-körperlicher Art ist. Und manchmal kann es schwer sein, beide Anteile zusammenzubekommen oder zusammenzuhalten. Manchmal kann daraus ein Gefühl des Gespaltenseins entstehen oder ein Ungleichgewicht, weil wir unseren physischen oder metaphysischen Anteil zu wenig oder zu viel beachten und pflegen. 

Einige Psycholog:innen vertreten die These, dass eine routinierte und gewissenhafte Pflege dieses metaphysischen Anteils in fortschreitendem Alter, etwa nach der durchschnittlichen Lebensmitte um die 50, Zufriedenheit und Wohlbefinden begünstigen könne. Eine Studie von 2021 mit dem Titel "Self-transcendence and life stories of humanistic growth among late-midlife adults", erschienen im "Journal of Personality", stützt diese These. 

Selbsttranszendenz und Zufriedenheit

In der Studie ging es konkret um das Konzept der Selbsttranszendenz. Gemeint ist damit das Gefühl beziehungsweise die Fähigkeit, uns als Teil eines größeren Zusammenhangs zu begreifen. Erleben wir manchmal Momente, in denen wir beispielsweise in den Sternenhimmel blicken und uns ein Staunen darüber erfüllt, dass wir in diesem unvorstellbar großen Universum existieren, zusammen mit unzähligen anderen Wesen, Planeten oder Lichtern von Reaktionen, die wir zwar noch sehen, die aber in Wahrheit längst vorüber sind, kennen wir dieses Gefühl der Selbsttranszendenz. Beschäftigen wir uns bei einem Waldspaziergang mit Fragen wie, warum wir als Menschen auf die Welt gekommen sind statt als Kastanien, kultivieren wir damit ebenfalls unsere Selbsttranszendenz. Und wenn wir in der Lage sind, zu begreifen, dass all die Menschen, die vor uns gelebt haben, Teil unserer Geschichte sind und uns und unser Leben geprägt haben und das gleiche in Bezug auf uns und die Menschen gilt, die einmal leben werden, so können wir uns fast als Fortgeschrittene in Sachen Selbsttranszendenz betrachten. 

Die Forschenden haben im Rahmen ihrer Studie 144 Menschen der Altersgruppe 55 bis 60 auf Basis von Befragungen dahingehend eingeordnet, wie ausgeprägt ihr Empfinden von Selbsttranszendenz ist, und daraufhin Lebenszufriedenheit und allgemeines psychisches Befinden aller Teilnehmenden evaluiert. Es fiel auf, dass jene, die eine stärker ausgeprägte Selbsttranszendenz verspüren, tendenziell zufriedener und resilienter waren. Aus diesem Grund sehen sie mit dieser Stichprobe die Vermutung eines Zusammenhangs zwischen Selbsttranszendenz – im weitesten Sinne Spiritualität – und psychischem Wohlbefinden gestützt.

Einordnung

Wie in vielen Studien, in denen zwei Merkmale abgefragt werden, zwischen denen sich ein Zusammenhang zeigen lässt, wissen wir allein aus dieser Untersuchung mit einer kleinen und spitzen Teilnehmendengruppe nicht, um was für einen Zusammenhang es sich handelt. Fühlen sich Menschen zufriedener, weil sie sich als Teil von etwas Größerem begreifen? Sind sie empfänglicher und offener für Selbsttranszendenz, weil sie zufrieden sind? Oder besteht ein ganz anderer Zusammenhang, den wir mit unserer Art des Denkens gar nicht erfassen können? Was wir jedoch recht eindeutig sehen, ist, dass sich Selbsttranszendenz und Zufriedenheit in einem allmählich fortschreitenden Alter nicht ausschließen oder einander im Wege stehen – und das ist immerhin schon etwas. 

Von Umfrageergebnissen einmal abgesehen, erscheint es zudem denkbar und sogar plausibel, dass das Gefühl, mit etwas in Verbindung zu stehen, was über die eigene Körperlichkeit hinausgeht, Glück und Behaglichkeit fördern kann – vor allem in einem Alter, in dem der Körper allmählich zu verfallen beginnt und uns häufiger an unsere Sterblichkeit und organische Begrenztheit erinnert. So wie jeder Moment in unserem Leben Teil eines größeren Zusammenhangs, unserem Leben, darstellt, so ist unser Leben ein Kapitel einer größeren Geschichte, die zwar irgendwann für uns zu Ende ist, aber nicht mit uns endet. Das zu erkennen, kann unter bestimmten Bedingungen diese zwei Anteile miteinander versöhnen, die wir manchmal nur schwer zusammenbekommen, unseren Körper und das, was wir als Seele, Geist, Psyche oder Produkte neurologischer Reaktionen betrachten mögen. Doch gewiss ist es nicht der einzige Weg. Schließlich harmonieren oft genug all unsere Anteile selbst ohne unser bewusstes Zutun bemerkenswert gut.

Brigitte

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