Anzeige

Atticus-Prinzip Was es über dich verrät, wenn du niemandem böse sein kannst

Atticus-Syndrom: Abbildung von Menschen unter einem bunten Himmel
© Jorm Sangsorn / Adobe Stock
Du wirst selten wütend und nimmst anderen kaum etwas langfristig übel? Vielleicht liegt es daran, dass du eine gewisse Gemeinsamkeit mit Atticus Finch hast.

Atticus Finch ist eine fiktive Figur aus dem (unbedingt lesenswerten) Roman "To Kill a Mockingbird" von Harper Lee. Er lebt in einer Zeit und Welt, in der es viele gute Gründe für ihn gäbe, wütend auf seine Mitmenschen zu sein und an ihnen zu verzweifeln: Atticus lebt in den 1930er Jahren in den Südstaaten der USA. Hier werden Menschen offen ausgeschlossen, missachtet und verurteilt, wenn und weil sie Schwarz sind. Frauen haben nur marginales Mitspracherecht. Die Stärkeren und Privilegierten leben auf Kosten der Schwächeren, unterdrücken sie, anstatt sie zu fördern. Die Welt ist ungerecht und die Mehrheit der Menschen weit davon entfernt, das zu erkennen und zu ändern.

Als alleinerziehender Vater und Anwalt sieht sich Atticus Finch alltäglich mit dieser Ungerechtigkeit konfrontiert. Er übernimmt die Verteidigung eines Schwarzen, der der Vergewaltigung bezichtigt wird, und muss sich dafür Hass und Drohungen seiner Mitbürger stellen. Er versucht, seine Kinder zu Anständigkeit zu erziehen, während sie in der Schule lernen, dass es bessere und minderwertige Menschen gibt und dass einige schon verloren haben, sobald sie auf die Welt kommen. 

Trotzdem ist Atticus Finch nicht wütend. Er ist nicht verzweifelt. Als einer der Wenigen erkennt er das Unrecht, das jeden Tag die Menschen um ihn herum begehen, und sieht es ihnen trotzdem nach. Wieso?

Die Atticus-Philosophie

Ein zentraler Aspekt in Atticus' Einstellung ist der Gedanke, dass wir einen Menschen "niemals wirklich kennen könnten, bis wir seine Schuhe getragen hätten und darin gegangen seien". Aus unserer Sicht mag es falsch und schlecht erscheinen, wie sich eine Person verhält. Doch solange wir uns nicht in genau derselben Lage befunden haben – mit denselben biografischen Erfahrungen und Prägungen –, können wir nicht sicher sein, dass wir uns anders verhalten hätten. 

Menschen haben Beweggründe, von denen wir nichts wissen. Würden wir immer alle Beweggründe kennen, könnte es sein, dass wir für vieles Verständnis aufbringen würden, das uns empört. Daraus folgt nicht, dass wir niemanden juristisch oder moralisch verurteilen dürften. Es folgt allerdings, dass es müßig ist, böse und wütend zu sein. Denn wie könnten wir einer Person böse sein, die wahrscheinlich nicht anders kann?

Gute Absicht unterstellen oder nicht?

Die US-amerikanische Podcasterin Brené Brown behandelt in einer Folge ihres Podcasts "Unlocking Us" die Frage, ob sie anderen Personen grundsätzlich unterstellt, dass sie stets ihr Bestes geben, oder nicht. Handeln Menschen immer nach ihrem Gewissen und in guter Absicht – und schaffen eben nicht mehr – oder ist es ihnen egal? Wir kennen die Antwort nicht und dürfen selbst entscheiden, was wir glauben möchten. Ziehen wir vor, anderen eine gute Absicht zu unterstellen, werden wir vermutlich ähnlich wie Atticus selten wütend und böse auf unsere Mitmenschen sein. Dafür allerdings umso tiefer enttäuscht und traurig. Glauben wir lieber, Menschen könnten besser sein, wenn sie nur wollten, werden wir uns weniger traurig fühlen, aber häufiger frustriert und ärgerlich sein. Unsere Welt ist nämlich immer noch ungerecht und die Mehrheit der Menschen weit davon entfernt, es zu erkennen und zu ändern. 

Doch genau, wie wir nicht ausschließen können, dass wir ebenso falsch und schlecht handeln würden, wenn wir in den Schuhen einer Person herumlaufen, deren Verhalten wir als falsch und schlecht wahrnehmen, besteht die Möglichkeit, dass wir ein Atticus sein können, wenn wir seine Schuhe tragen. Friedfertig, anständig und verzeihend. Und fest davon überzeugt, dass "die meisten Menschen 'wirklich nett' sind, wenn wir sie endlich sehen".

sus Brigitte

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel