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Katharina Pommer Das innere Kind kann mich mal

Frau auf einem Karussel
© Настя Бороздина / Adobe Stock
Der größte Psycho-Trend der letzten Jahre: sich mit dem inneren Kind auszusöhnen. Aber macht das wirklich so viel Sinn? Therapeutin Katharina Pommer sieht es etwas anders.

BRIGITTE: Es gibt eine lange Tradition in der Psychologie, die auf der These beruht, dass unsere inneren Muster stark durch unsere frühesten Erfahrungen geprägt werden. Ergo: Wer sich um sein Kind-Ich nicht kümmert, kann diese Muster nie durchbrechen. Sie sagen: Das stimmt so nicht.

KATHARINA POMMER: Was ich kritisiere, sind vor allem die falschen Versprechungen, die damit verbunden sind. Als ich 2006 meine Praxis eröffnete, fand Google 344 000 Einträge zum Begriff "Inner Child", heute sind es über 30 Millionen. Eine steile Karriere für einen Begriff, der eher eine Metapher ist als wissenschaftlich fundiert. Man kann für horrende Summen Retreats zum Thema "Inneres Kind" buchen und dann erwarten die Kund:innen, dass sie für 2500 Euro in 48 Stunden an alles Verborgene herankommen.

Gar nichts, aber es greift oft zu kurz, das ist mein zweiter Kritikpunkt. Also: Ja, es gibt Muster und Verhaltensweisen, die uns geprägt haben, im Guten wie im Schlechten. Aber der zweite Schritt sollte die Erkenntnis sein: Was auch immer mir passiert ist, ich bin dem nicht ausgeliefert. Emotionale Fitness hat uns niemand beigebracht, sie ist aber erlernbar. Ich habe als Therapeutin erlebt, wie Männer ihre Frauen verlassen haben (und umgekehrt) mit der Begründung:Ich muss meinem inneren Kind mehr Raum geben. Und das ist eine perfide Abwälzung von Verantwortung, weil sie damit sagen: Das war ja nicht ich! Das war das Kleine in mir, das Aufmerksamkeit braucht!

Leute, die ständig von einer Therapie, einem Seminar, einem Buch zum nächsten switchen, in der Annahme, ihnen fehlt noch etwas, verlernen irgendwann die Souveränität. Weil sie immer eine Instanz brauchen, die ihnen sagt, ob etwas in Ordnung ist. Häufig haben solche Menschen nicht genügend Bindungssicherheit von ihren Bezugspersonen bekommen und sehnen sich nach einer Art "Nachbeelterung". Das ist im Rahmen einer Therapie auch sinnvoll, und ich bin absolut dafür, wenn Menschen sich qualifizierte Hilfe holen. Aber wenn ich keine Entscheidung mehr treffen kann, ohne meinen Therapeuten oder meinen Life Coach anzurufen, dann läuft etwas falsch.

Haben wir das selbstständige Denken verlernt, oder sind wir nur unsicher, weil wir uns mehr mit anderen vergleichen, etwa auf Social Media?

Instagram & Co. spielen sicherlich eine Rolle bei dieser Getriebenheit. Wir stecken in einem Dauerspagat zwischen ehrgeiziger Selbstoptimierung einerseits und dem Wunsch, all unsere negativen Gefühle rauszulassen und trotzdem geliebt zu werden. Wir wollen gern abschalten und können doch nicht aufhören, uns mit anderen zu messen. Und schaffen es nicht, eine realistischere und somit auch gesündere Sicht auf uns zu entwickeln.

Auf der einen Seite haben die ständigen Krisen der letzten Jahre eine Art Bruch hinterlassen, wir müssen dadurch immer wieder lernen, auf sicherem Grund zu laufen und suchen Halt in uns selbst. Auch weil äußere Ordnungssysteme an Verbindlichkeit verlieren, etwa die Religion. Das hat auch sein Gutes, Menschen werden resilienter. Auf der anderen Seite haben in solchen Zeiten natürlich Leute ein leichtes Spiel, die uns versprechen, wir hätten unser Schicksal komplett in der Hand. Etwa über Selbstsuggestionen, wenn Menschen also meinen, sie könnten ihr Unterbewusstsein darauf trainieren, dass sie nie mehr unglücklich sind, nie mehr ängstlich, nie mehr krank. Dabei ist das zynisch – wollen Sie Krebspatient:innen sagen, sie seien selbst schuld an ihrer Krankheit, weil sie nicht positiv gedacht haben?

Verstehen, dass wir mit schwierigen Erlebnissen nicht allein sind, das verbindet uns ja als Menschen, so unterschiedlich unser Leben verläuft. Und dann: nicht auf das "Warum" schauen, sondern nach vorn, auf das "Wofür".

Wenn ich alleinerziehend bin und mein Geld nicht mehr für ein Kinoticket mit der besten Freundin reicht, kann ich mich darüber grämen, dass mein Ex-Partner mich hat sitzen lassen, dass meine Eltern mich nicht bei einer besseren Berufswahl unterstützt haben – das sind "Warum"-Fragen. Oder ich frage mich, wofür ich jeden Tag um sechs aufstehe. Etwa weil ich alles für meine Kinder tun würde. Oder weil ich mich als Teil der Gesellschaft betrachte und mich gebraucht fühlen möchte und der Kinobesuch auch wieder kommen wird. Eine ganz andere Blickrichtung. Man könnte auch sagen: Das Kind in mir muss Zukunft finden. Wir brauchen so etwas wie eine Zukunft, die Halt gibt, um Zuversicht zu finden. In der Rückschau finden wir das selten.

Laut Studien sind gesunde Beziehungen und körperliche Bewegung notwendig, um Trauma zu bewältigen. Wichtig ist, dass wir Menschen, die uns nicht gutgetan haben, auf Dauer keine Macht mehr über unser Leben geben. Wenn ich unter meinen Eltern gelitten habe, kann ich auch entscheiden: Ich bin nicht mehr bereit, aufgrund eurer Taten Schmerzen zu erleiden. Eben weil ich nicht mehr das hilflose Kleinkind bin, das abhängig ist von eurem Wohlwollen. Nicht mehr das Opfer. Daraus kann und darf man Konsequenzen ziehen: Kontakt reduzieren, Kontakt abbrechen, die eigenen Kinder nicht den Großeltern anvertrauen, all das sind Optionen, die man als erwachsener Mensch hat. Manche Menschen schaffen es auch, schmerzhafte Erfahrungen in etwas Positives zu verwandeln: Weil du, Vater, mich geschlagen hast, ist eine Frau aus mir geworden, die unglaublich empathisch mit ihren Kindern umgeht. Weil du, Mutter, mich immer ignoriert hast, ist aus mir eine emanzipierte Frau geworden, die zu sich steht.

Eher ein Denkanstoß zum Perspektivwechsel. Es wäre auch ein überhöhter Anspruch, alle Verletzungen heilen zu wollen, die uns im Lauf der Zeit zustoßen. Wir alle tragen Narben, das verbindet uns. Worum es geht, ist die Frage: Wie kann ich Ja sagen zum Leben, es als gut, schön und wahr empfinden – trotz allem?

Nehmen wir mal an, es geht um elterliche Zuwendung und Aufmerksamkeit. Natürlich kann ich jetzt ein Leben lang sagen, da fehlt mir was, deshalb geht es mir so schlecht. Oder ich kann lernen, selbst achtsam mit mir umzugehen und meine Bedürfnisse zu kommunizieren im Alltag. Was tun Sie zum Beispiel, wenn Sie beim Haarewaschen beim Friseur gefragt werden, ob die Wärme so passt?

Sehen Sie? Das tun ganz viele! Weil sie womöglich niemandem zur Last fallen wollen, oder denken: Der andere wird schon wissen, was er tut. Dabei ist das eine gute Übung, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen und zu sagen, danke, ich hätte es gern einen Hauch wärmer. Oder mich beim Essen zu fragen: Schmeckt und bekommt mir das eigentlich wirklich, was da vor mir auf dem Teller liegt, oder esse ich das nur aus Gewohnheit?

Ja, aber auch da sind wir keine Opfer unserer Muster und Gewohnheiten. Wir können uns selbst täglich neu definieren. Angenommen, ich gehe immer wieder fremd und sabotiere damit meine Ehe. Vielleicht finde ich in einer Therapie heraus, aha, ich kann mich schwer auf jemanden einlassen, weil mein Vater die Familie verlassen hat. Aber was ist die Konsequenz: auch die nächste Beziehung in den Sand setzen, weil, ich kann ja nichts dafür? Oder mir eingestehen: Mein eigenes Verhalten kotzt mich so an, ich entscheide mich bewusst dafür, mich wirklich zu öffnen und mir nicht woanders meine Lust zu verschaffen? Mehr Akzeptanz und Milde für uns selbst, die Vergangenheit, die wir nicht mehr ändern können, und mehr Blick nach vorne: Das könnte uns womöglich weiterbringen als ein weiteres Inneres-Kind-Retreat. 

Der Untertitel ist Programm: "Lass dich von deiner Vergangenheit nicht tyrannisieren – du bist unkomplizierter, als du denkst",verspricht Katharina Pommer in ihrem neuen Ratgeber. Oft persönlich und immer lebensnah zeichnet sie ein Gegenbild zur ständigen Nabelschau und Selbstfindung. "Das Kind in mir kann mich mal!", 292 S., 22 Euro, Goldegg Verlag
Der Untertitel ist Programm: "Lass dich von deiner Vergangenheit nicht tyrannisieren – du bist unkomplizierter, als du denkst",verspricht Katharina Pommer in ihrem neuen Ratgeber. Oft persönlich und immer lebensnah zeichnet sie ein Gegenbild zur ständigen Nabelschau und Selbstfindung.
"Das Kind in mir kann mich mal!", 292 S., 22 Euro, Goldegg Verlag
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Brigitte

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