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Psychologie An diesem Gedanken habe ich gemerkt, dass ich im Leben angekommen bin

Psychologie: Eine Frau in einer Hängematte
© Maygutyak / Adobe Stock
Unsere Autorin hat einige Jahre gebraucht, um sich im Leben angekommen zu fühlen. Hier teilt sie ihre Erfahrungen und erzählt, wie sich ihre Einstellung über die Zeit verändert hat.

Meine Lebenseinstellung hat sich geändert. Nein, Moment, so kann ich das nicht sagen. Meine Einstellung zu meinem Leben hat sich geändert. Es fiel mir mit einem Mal auf, wenngleich es sicher nicht von heute auf morgen geschah, sondern sich über einen längeren Zeitraum hinzog. Ähnlich wie plötzlich kein Weg mehr daran vorbei führt aufzuräumen, nachdem wochenlang keine Zeit für den Haushalt blieb. Oder wie auf einmal der Tag gekommen ist, an dem die Haare unbedingt einen neuen Schnitt brauchen, nachdem sie gestern noch einigermaßen lagen. Auf die Frage, ob ich gerne so alt werden möchte wie möglich, würde ich neuerdings mit Ja antworten.

Ich wollte nie alt werden

Einige Menschen werden nun vielleicht denken "Hä?". Ein sehr berechtigter Gedanke, den ich nur allzu gut kenne und auf den ich an dieser Stelle gerne eingehe. Als ich ein Kind war, hat sich in mir aus Gründen, die ich hier nicht weiter erläutern möchte, das Gefühl eingestellt, dass ich in dieser Welt fehl am Platz bin. Dass ich überall, wo ich auftauche, störe und nirgendwo hineinpasse. Als Teenager habe ich für einige Zeit sehr viel darüber nachgedacht, wie und wann ich mich am besten umbringe. Diese Gedanken bin ich rechtzeitig losgeworden. Doch auch ohne sie hatte ich stets das Gefühl: Es wäre wünschenswert, dass ich früh sterbe. Würde ich heute Abend zum letzten Mal einschlafen, wäre das gut. Ich würde zwar niemals eine Wand einreißen, um auszutreten, aber wenn sich irgendwo eine Tür auftut, gehe ich hindurch. 

Das mag jetzt dramatischer klingen, als es ist – trotz oder mit dieser Einstellung habe ich bislang ein weitestgehend erfülltes Leben geführt. Es gab fürchterliche und schwere Phasen, aber es gab ebenso wundervolle und leichte. Ich habe lediglich nie gefühlt, dass ich an meinem Leben hänge oder dass ich bereit dazu wäre, gewisse Einschränkungen und Schmerzen in kauf zu nehmen, um weiterzuleben. Lieber kurz und ohne allzu viel Leid als möglichst lang, war vielleicht in etwa meine Empfindung. Die ist jetzt aber plötzlich eine andere: Am liebsten möchte ich 100 Jahre alt werden oder älter. Auch wenn das vermutlich bedeutet, dass ich einige meiner Jahre damit verbringen werde, im Bett zu liegen, mich über die Jugend zu wundern und an früher zu denken – ich möchte so lange leben, wie es irgendwie geht.

Warum hat sich meine Einstellung verändert?

Gerne würde ich nun erklären, was zu diesem Wandel meiner Einstellung geführt hat – kann es aber leider nicht, weil ich es nicht weiß. Ich habe lediglich ein paar Vermutungen anzubieten:

Vielleicht hängt der Wandel mit meinem Alter zusammen. Es heißt, dass der körperliche Verfall – rein biologisch betrachtet – mit 25 beginnt. Zwischen 30 und 40 lassen sich offenbar erste Verschleißerscheinung beobachten. Deckt sich mit meiner Erfahrung. Ich bin noch nicht alt, aber ich bin alt genug, um bereits zu spüren bekommen zu haben: Der Alterungsprozess ist kein Mythos und keine Theorie, sondern Realität. Möglicherweise hat diese Erfahrung meine Einstellung geändert, da sie mir klar gemacht hat, dass ich keine andere Wahl habe, als mich zu arrangieren und meine Ansprüche an mein Leben anzupassen – sofern ich keine Wand einreißen möchte.

Vielleicht hängt der Wandel mit den Erfahrungen zusammen, die ich in den vergangenen Jahren gesammelt habe. Jenes Grundgefühl, fehl am Platz zu sein, das sich bei mir einstellte, als ich ein Kind war, spüre ich mittlerweile nicht mehr, und ich glaube, das liegt hauptsächlich an dem, was ich in der letzten Zeit erlebt habe. Zugleich habe ich beobachtet, dass mein Leben, wenn es jeden Tag regnet, nicht kategorisch anders ist, als wenn jeden Tag die Sonne scheint. Ich bevorzuge zweifellos glückliche Phasen und was immer ich tun kann, um anstrengende und traurige Episoden zu vermeiden, tue ich mit größtem Engagement. Doch es muss offenbar beides geben und in meiner Erfahrung existieren sowohl Dornen im Paradies als auch Schmetterlinge in der Hölle. 

Eventuell könnte der Wandel meiner Einstellung auch mit mehreren kleinen Veränderungen zusammenhängen, die ich in letzter Zeit auf den Weg gebracht habe, und mit den Entscheidungen, die ich traf. Ich habe einige Prioritäten in meinem Leben verschoben beziehungsweise überhaupt einmal geklärt und dahingehend versucht, mein Verhalten und mein Denken anzupassen – was mir teilweise gelungen ist. Ich interpretiere und reagiere heute in anderer Weise als vor einigen Jahren und womöglich wirkt sich das auf meine Einstellung zu meinem Leben aus.

Meine beste Vermutung ist, dass es eine Kombination aus diesen und anderen Punkten ist, die mir meine neue Einstellung beschert hat und mich im Leben hat ankommen lassen. Und dass es keine einfache Formel gibt, um mit einem Mal mit einem veränderten Lebensgefühl aufzuwachen.

Was ich damit sagen möchte – und was nicht

Ich möchte mit diesen Ausführungen nicht einmal ansatzweise eine Meinung zu Sterbehilfe, lebensverlängernde Maßnahmen oder gar Suizid äußern. Das ist für mich eine völlig andere Diskussion, zu der ich hiermit ausdrücklich keinen Beitrag leiste. Mir geht es in diesem Moment lediglich darum, eine Beobachtung zu teilen, die ich nicht unerheblich finde: Selbst eine sehr tief verwurzelte Sichtweise und ein fest verankertes Lebensgefühl kann sich mit der Zeit verändern. In meinem Fall habe ich es nicht forciert – es ist mir in erster Linie passiert, wenngleich meine Lebensführung gewiss dazu beigetragen hat. Es kann sich in der Zukunft wieder ändern.

Der Schluss, den ich aus dieser Beobachtung für mich ziehe, lautet: Im Leben kann es sich lohnen, Geduld zu haben und im Zweifel etwas abzuwarten, selbst wenn ich nicht genau weiß worauf. Es kann sich lohnen, auch kleinen Veränderungen Aufmerksamkeit zu schenken und sich darum zu bemühen, denn mitunter können sie einen großen, grundlegenden Wandel zur Folge haben. 

Informationen zu Hilfsangeboten

Leidest du unter Depressionen, hast du Selbstmordgedanken oder kennst du jemanden, der solche schon einmal geäußert hat? Die Telefonseelsorge bietet Hilfe an. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0800/1110111 und 0800/1110222 erreichbar. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.

Brigitte

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