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Radikale Akzeptanz Seit ich eines verstanden habe, kämpfe ich weniger mit inneren Konflikten

Psychologie: Eine Frau auf einem Berg
© amila / Adobe Stock
Innere Konflikte können viel Energie kosten und uns von anderen Seiten unseres Lebens ablenken – und abhalten. Wie unsere Autorin den Kämpfen in ihrem Kopf begegnen kann, beschreibt sie hier.

Ein stinknormaler Donnerstag im Oktober. Abends war ich mit einem Kumpel verabredet. Wir wollten essen gehen in einem Tapas-Restaurant, das ich sehr mag. Den Kumpel habe ich gerne um mich, das Zusammensein mit ihm fühlt sich in der Regel leicht und angenehm an. Doch bereits am Morgen dieses Donnerstags kam ein mir wohlvertrautes Gefühl in mir auf: Ich möchte heute zu Hause bleiben. Wundervoll. Da ist er wieder, mein persönlicher Klassiker. Wie oft ich diese Situation schon erlebt habe, mag ich gar nicht wissen. Das Nervige daran ist, dass ich üblicherweise nicht einfach fünf Minuten in mich gehe und dann eine Entscheidung treffe. Nein. Ich überlege den ganzen Tag hin und her, nehme von Gesprächen nur ein Drittel wahr, drifte mit meinen Gedanken alle paar Minuten ab und kann meine innere Unklarheit doch nicht aus dem Weg räumen. Und die Scham darüber, dass mich solche Probleme überhaupt beschäftigen, während andere Menschen nach einem Unfall das Gehen neu lernen, hat mich einer raschen Lösung leider noch nie näher gebracht.

An jenem konkreten Donnerstag habe ich immerhin meine Scham überwunden und mit einer Psychologin über meinen inneren Konflikt gesprochen. Zu meiner Überraschung hat sie weder die Augen verdreht noch gelacht oder mich mitleidig angeschaut, sondern mich gefragt, wie ich die beiden Seiten, die in mir ein Tauziehen veranstalten, beschreiben würde. Was steckt hinter der Seite, die meinem Kumpel absagen und zu Hause bleiben möchte? Für welche Bedürfnisse tritt sie ein? Welche Gefühle verbinde ich mit ihr? Und die Seite, die ihn treffen will, welche Argumente hat sie? Wie stehe ich zu ihr? Das Erstaunliche ist: Diese Fragen haben mich zu einer Lösung geführt.

Dialektischer Ansatz: Es gibt A und B und beide hängen zusammen – und haben recht

Als ich vor Kurzem die Folge "Innere Widersprüche lösen" aus dem Podcast "Betreutes Fühlen" mit Atze Schröder und Doktor Leon Windscheid hörte, musste ich spontan an dieses Erlebnis von mir denken, da die beiden darin einen, wie mir scheint, sehr ähnlichen Ansatz zu dem Umgang mit inneren Konflikten vorstellen. Was sie behandeln, nennt sich dialektisch behaviorale Therapie und geht auf die Amerikanerin Marsha Linehans zurück. Der Kerngedanke dabei, so habe ich es zumindest herausgehört, ist, dass wir verschiedene Seiten, Stimmen, Anteile (oder wie wir es sonst nennen wollen) in uns haben, die einander widersprechen können. Zum Beispiel das Bedürfnis nach Alleinsein und nach Gesellschaft. Oder das Bedürfnis nach Alleinsein und den Wunsch, eine zuverlässige Freundin zu sein. Oder das Bedürfnis nach Käsepizza und den Anspruch an sich selbst, sich gesund zu ernähren und diszipliniert zu sein.

Das Dialektische ist nun, dass die Seiten nicht einfach unabhängig voneinander da sind, sondern sich gegenseitig bedingen. Nach einer Woche Kohlsuppendiät wird das Bedürfnis nach Käsepizza stärker. Nach einem trubeligen Tag im Büro wächst das Bedürfnis nach dem Alleinsein. Zu verstehen und zu akzeptieren, dass mehrere Stimmen gleichzeitig in uns erklingen können und sie alle ihre Berechtigung und Gründe haben, könne, so die Idee dieses therapeutischen Ansatzes, die inneren Kämpfe entschärfen. Und nun zurück zu meiner Erfahrung – denn weil ich die gemacht habe, glaube ich daran.

Streithähne benennen, Kompromiss suchen – und es ist Ruhe

Ich konnte an besagtem Donnerstag meine inneren Streithähne relativ leicht beschreiben: Auf der einen Seite stand das Bedürfnis nach Ruhe, Sicherheit und Entspannung. Auf der anderen mein Anspruch an mich, zuverlässig zu sein und nicht bei jeder kleinen Stimmungsschwankung einen guten Kumpel hängen zu lassen. Unterstützt wurde diese zweite Seite von der Lust auf Trüffelgnocchi in Weißweinsoße und der Hoffnung, dass der Abend schön wird und nicht anstrengend. Beide Seiten hatten meiner Meinung nach ihre Bewandtnis, von daher war ein Kompromiss gefragt: Einer Seite würde ich heute den Vorzug geben und beim nächsten Mal ist dann in einer vergleichbaren Situation die andere an der Reihe – insbesondere wenn sich das, wozu mir die diesmalige Siegerseite geraten hat, heute doof anfühlt. Da mir an diesem konkreten Tag ein ruhiges Wochenende mit genügend Zeit für mich kurz bevorstand, habe ich auf die Stimme gehört, die von mir wollte, dass ich Tapas essen gehe. Und wie der Zufall so will, der alte Schlawiner, hat mir das einen sehr schönen Abend beschert, auf den ich, wenn ich ihn hätte vorhersehen können, ungern verzichtet hätte.

Interessanterweise habe ich seit diesem Donnerstag im Oktober einen solchen inneren Konflikt, also hin- und hergerissen sein zwischen absagen und Verabredung einhalten, nicht mehr erlebt. Das schreibe ich zwar ebenfalls eher dem Zufall und anderen Faktoren zu als der Tatsache, dass ich ein einziges Mal die beiden miteinander streitenden Seiten bewusst registriert und zugelassen habe – aber was weiß ich schon. Auf jeden Fall gefällt mir diese Idee der dialektisch behavioralen Therapie, dass mehrere Stimmen gleichzeitig recht haben können, selbst wenn sie sich zu widersprechen scheinen. Dass unterschiedliche Gedanken nebeneinander richtig sein können. Die angenehme Konsequenz für mich daraus ist nämlich mehr friedlicher Kompromiss und weniger Kampf.

Verwendete Quellen: Podcast "Betreutes Fühlen", Folge "Innere Widersprüche lösen", 13. Februar 2024

Brigitte

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