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Rückschaufehler Aus diesem Grund sind wir oft härter mit uns, als angebracht wäre

Psychologie: Eine Frau, die über ein Feld läuft und zurückblickt
© darakaliton / Adobe Stock
Der Rückschaufehler ist eine kognitive Verzerrung, die dazu führen kann, dass wir uns zu Unrecht verurteilen und weniger aus unseren Erfahrungen lernen, als wir könnten. Was es damit auf sich hat, erfährst du hier.

Wenn wir die Welt wahrnehmen, ordnen, beurteilen und uns ein Bild von ihr machen, sehen wir dabei nicht nur einen sehr kleinen Ausschnitt. Wir bringen nicht nur Erfahrungen aus unserer persönlichen Biografie mit ein, sind in unserer Deutung nicht nur von situationsbedingten Einflüssen wie Hormonstatus und Darmtätigkeit geprägt. Zu all den Modifikationen, die wir bei unserer Vorstellung von der Welt vornehmen, die in die Geschichte einfließen, die wir uns selbst erzählen, kommen eine ganze Reihe systematischer Denkfehler, bekannt als kognitive Verzerrungen, die sich aus unserer menschlichen Psyche und Intelligenz ergeben. Einigen sagt vielleicht zum Beispiel der Bestätigungsfehler etwas, der dazu führt, dass wir neue Informationen meistens so verstehen, dass sie unsere bestehenden Annahmen und Sichtweisen bestätigen. Ein weiterer Denkfehler dieser Art nennt sich Rückschaufehler, hindsight bias auf Englisch, und den zu kennen, kann hilfreich sein, da er sich darauf auswirken kann, wie wir unser Verhalten beurteilen und was wir daraus lernen. 

Hindsight bias: Warum wir unser früheres Ich überschätzen

Der Rückschaufehler beschreibt das Phänomen, dass wir später im Rückblick unser Wissen und unsere Kompetenz zu einem früheren Zeitpunkt überschätzen. In einem berühmten Experiment, das diese kognitive Verzerrung illustriert, sollten die Testpersonen zum Beispiel die Höhe des Eiffelturms nennen. Dann erfuhren sie die korrekte Höhe. Einige Stunden oder Tage später waren sie aufgefordert, zu sagen, wie hoch sie den Eiffelturm zu Beginn des Experiments einschätzten. Die meisten Proband:innen nannten nun einen Wert, der der tatsächlichen Höhe des Pariser Wahrzeichens näher kam als ihre wirkliche Angabe – selbst dann, wenn die Versuchsdurchführenden ihnen sagten, es sei wichtig, dass sie sich richtig erinnerten. Sobald sie die Höhe des Eiffelturms einmal wussten, konnten sie sich nicht mehr vorstellen, dass sie sie vor einiger Zeit noch nicht kannten beziehungsweise arg danebenliegen konnten.

Wie der Rückschaufehler Scham- und Schuldgefühle fördern kann

Mit den Erfahrungen, die wir sammeln, insbesondere durch die Fehler und Versäumnisse, die wir begehen und bemerken, lernen wir dazu und werden tendenziell klüger. Zum Beispiel würden wir heute vielleicht nicht mehr, wie es unser 18-jähriges Ich einmal getan hat, unser Fahrrad einen Winter lang draußen stehen lassen, um im nächsten Frühjahr festzustellen, dass es völlig verrostet ist. Wir würden gewisse Dinge nicht mehr sagen, von denen wir nun verstehen, dass sie andere Menschen verletzen, und wir würden die eine oder andere Entscheidung anders treffen. 

Blicken wir nun zurück auf einzelne Ereignisse in unserer Vergangenheit, auf Situationen, in denen wir uns dümmer oder schlechter verhalten haben, als wir uns wünschten, kann der Rückschaufehler dazu führen, dass wir uns strenger be- und schärfer verurteilen, als eigentlich angebracht ist. Weil wir in unserer Beurteilung nicht unsere frühere, unwissendere Version zugrundelegen, sondern unser jetziges Ich, eine spätere, ältere, um Erfahrungen reichere Version. Für die es weitaus leichter ist, klüger zu handeln. 

Das kann zur Folge haben, dass wir denken "das hätte ich kommen sehen müssen" oder "das hätte ich doch besser gekonnt", anstatt zu sehen "das wusste ich damals nicht" oder "zu dem Zeitpunkt konnte ich nicht besser/ anders". Und das kann uns dann unter Umständen erschweren, uns etwas zu verzeihen. Es kann Scham- und Schuldgefühle in uns auslösen und uns die Hauptsache übersehen lassen: Das, was wir gelernt haben. Das, was in unserer früheren Version noch nicht vorhanden war und heute mehr da ist. 

Wie wir mit dem Rückschaufehler umgehen können

Weder der Rückschaufehler noch unsere sonstigen kognitiven Verzerrungen sind ein berechtigter Anlass, an unserer Fähigkeit zu zweifeln, ein zufriedenstellendes Leben zu führen – schließlich haben bereits viele Milliarden Menschen mit diesen Verzerrungen diese Fähigkeit unter Beweis gestellt. Wir mögen die Welt nicht sehen, wie sie ist, und müssen mit einem Denkvermögen vorliebnehmen, das systematisch fehlerhaft ist. Doch dadurch, dass wir sind, wie wir sind, können wir leben, wie wir leben. Schauen wir uns an, wie gerne dies viele Menschen tun und wie sehr die meisten an ihrem Leben hängen, kann das nicht allzu verkehrt sein. 

Wir brauchen nun also nicht verzweifelt unsere doch gar nicht so genialen Köpfe zu schütteln und zu versuchen, unsere kognitiven Verzerrungen zurecht zu zerren und unsere Wahrnehmungs- und Urteilsfehler abzustellen – wahrscheinlich würden wir das ohnehin nicht schaffen. Allerdings kann es für uns unabhängig von Perfektionismus und Wahrheitsfragen bereichernd und hilfreich sein, mehr darüber zu wissen, wie wir denken und was uns in unseren Wahrnehmungen und Bewertungen beeinflusst. Für uns, für unser Selbstbild, unsere Stimmung und unser Fühlen, kann es einen Unterschied bedeuten, ob wir glauben, dass wir in der Vergangenheit versagt haben und etwas hätten besser machen müssen. Oder ob wir begreifen, dass wir dies nur glauben – während wir in Wahrheit einfach nicht besser konnten, es dafür heute aber tun. 

Brigitte

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