Anzeige

Therapeutin im Interview "Wut wird von Frauen zu oft heruntergeschluckt"

Psychologie: Frau blickt auf Vulkan
© Indee.stocker19 / Shutterstock
Wut ist ein elementares Gefühl – und trotzdem erkennen es manche Menschen nicht einmal, wenn sie wütend sind. Dann kann sich Wut ihre eigenen Wege suchen.

Bei Wut haben viele Menschen ein kleines Figürchen im Sinn, das brodelt, wütet und schließlich mit hochrotem Kopf an die Decke geht – eben wie es uns zu Zeiten des HB-Männchens nahegebracht wurde. Dieser zog mit seinen Wutausbrüchen alle Aufmerksamkeit auf sich, Werbeauftrag erfüllt. In der Realität bereitet eine solche Vorstellung einigen von uns mittlerweile eher ein allgemeines Schamgefühl, wer legt seine Gefühle in der Intensität heutzutage schon noch offen? Die wenigsten – und wir würden fast vermuten, dass noch weniger davon weiblicher Natur sind. Vielmehr hat sich heutzutage ein Schleier des Lächelns über unsere Gesellschaft gelegt, unter dem fleißig unterdrückt und mit sich selbst ausgemacht wird. Die öffentliche Ausbreitung negativer Gefühle, vor allem Wut, ist somit vielen Menschen sogar gänzlich fremd. Dabei gehört sie zu den Grundemotionen eines jeden von uns, sie wird uns in die Wiege gelegt, wie man an trotzigen, schreienden Kindern im Supermarkt regelmäßig beobachten kann.

Bis heute wirkt da eine geschlechterspezifische Erziehung, die Mädchen vermittelt, dass sie eher lieb und leise zu sein haben

Ob es ein Zufall ist, dass die wütende Werbefigur von damals männlich ist? Und was passiert, wenn man Wut versteckt, bis man sie selbst kaum mehr spürt? Darüber haben wir mit Andrea vorm Walde gesprochen. Sie ist psychologische Beraterin in Hamburg und bezeichnet sich selbst als "Anwältin des Herzens". Und sie weiß: Auch Wut kann uns auf dem Herzen liegen und unser Leben negativ beeinflussen, wenn wir sie dauerhaft ignorieren. Als Frau haben wir dieses Verhalten aber ihrer Ansicht nach schon in die Wiege gelegt bekommen: "Bis heute wirkt da eine geschlechterspezifische Erziehung, die Mädchen vermittelt, dass sie eher lieb und leise zu sein haben – im Gegensatz zu Jungen, denen da ganz anderes zugestanden wird", sagt sie und fügt hinzu: "Das Problem, das ich speziell bei Frauen und Wut sehe, liegt einzig darin, dass sie von ihnen zu oft heruntergeschluckt wird."

Männer hingegen könnten ihre Wut öfter besser rauslassen, würden dabei dann aber oft auch aggressiver. Liegt die Lösung also doch im HB-Männchen? Nein, beruhigt Andrea, es gehe entgegen der gängigen Annahme gar nicht darum, dass Wut unbedingt nach draußen müsse: "Viel wichtiger ist, für sich selbst zu wissen, was da eigentlich wütend macht und warum man mit einer so starken Emotion reagiert."

Dann könne Wut nämlich auch eine durchaus positive Emotion sein – indem sie uns zeigt, wo unsere Grenzen liegen und wann sie überschritten werden. Wer Wut herunterschluckt, übergeht damit oft auch seine eigenen Bedürfnisse. Das geschieht laut der Therapeutin oftmals aber nicht einmal bewusst: "Je weniger wir uns trauen, Gefühle zu leben, desto mehr ignorieren wir sie und sie bleiben wie versteckt", erklärt Andrea. Versteckt bedeutet in diesem Fall nicht nur für die Außenwelt, sondern sogar vor einem selbst. Wer immerzu lernt, Emotionen zu unterdrücken, verlernt irgendwann, sie zu spüren.

Wenn Wut durch den Körper zu uns spricht

Wird die Wut dauerhaft verleugnet, verschwindet sie aber keinesfalls, nur weil wir selbst sie nicht mehr zu deuten wissen. Vielmehr seien Gefühle klüger, als man denkt: "Wenn wir Emotionen zu lange unterdrücken, werden sie sich immer einen Weg bahnen und sich körperlich zeigen", warnt die Expertin. Das könne sich beispielsweise über Kopfschmerzen, Nackenschmerzen und Verspannungen zeigen. Aber auch über die klassischen Bauchschmerzen, die von der "Wut im Bauch" herrühren können: "Das ist durchaus als Alarmruf der Seele zu verstehen und gilt für alle möglichen Gefühle, so natürlich auch für Wut."

Um sich dem Gefühl wieder zu nähern, müssen wir weder ausbrechen noch innen weiter brodeln – sondern lieber mal eine Wanderung zum Vulkan beginnen, um sich genauer anzuschauen, was sich darin versteckt. Dann braucht auch niemand Angst vor der Wut haben, macht Andrea Mut: "Ob man sie schluckt oder 'herumbrüllt', entscheidet nicht über unsere innere Ruhe und unsere psychische Gesundheit, sondern die Bearbeitung der Hintergründe."

Andrea vorm Walde ist psychologische Beraterin in Hamburg, andreavormwalde.de

Guido

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel