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Psychisch krank am Arbeitsplatz Sag ich's meinem Chef oder schweige ich lieber?

V.l.: Johanna Dreyer, Luisa Weyrich und Nele Groeger, Gründerinnen der Agentur "Shitshow"
V.l.: Johanna Dreyer, Luisa Weyrich und Nele Groeger, Gründerinnen der Agentur "Shitshow"
© Alena Schmick
Über psychische Erkrankungen reden? Ja, aber bitte nur im Privaten. Doch sollte man nicht endlich anfangen, die "unsichtbare Erkrankung" auch im Arbeitsalltag sichtbar zu machen? Die Gründerinnen der Agentur "Shitshow" verfolgen, was das angeht, ein klares Ziel.

Psychisch bedingte Fehlzeiten in der Arbeitswelt nehmen auffällig zu. "Mehr als jeder vierte Erwachsene erfüllt im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung", so die DGPPN ("Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.").

Es wird also allerhöchste Zeit, etwas dagegen zu tun. Das haben sich auch die drei Gründerinnen Nele Groeger, Johanna Dreyer und Luisa Weyrich der Berliner Agentur "Shitshow" gedacht. Ihr Ziel: "Organisationen und Unternehmen darin unterstützen und befähigen, mentale Gesundheit zu schützen und zu fördern. Unser Fokus liegt auf der Arbeitswelt, weil die Stigmatisierung dort häufig noch am schwerwiegendsten ist und viele Unternehmen nicht genau wissen, wie sie das Thema anpacken sollen", so Nele im Gespräch mit BRIGITTE.de.

Psychisch krank am Arbeitsplatz: Verhaltenstipps von "Shitshow"

Doch sollte ich als Betroffene auf der Arbeit wirklich sagen, dass ich psychisch krank bin? Habe ich dadurch nicht sogar berufliche Nachteile? Und wie melde ich mich richtig krank? Nele hat uns die wichtigsten Fragen zum Thema beantwortet.

BRIGITTE: Soll ich der*dem Chef*in sagen, dass ich psychisch krank bin?

Nele Groeger: Grundsätzlich gilt, dass Vorgesetzte nichts von der eigenen psychischen Erkrankung wissen müssen. Leider ist es nach wie vor so, dass es viele Chef*innen gibt, die einem eine psychische Erkrankung zum Nachteil machen. Öffnet man sich in einem Unternehmen, in dem noch keine Sensibilität für mentale Erkrankungen herrscht, kann man dadurch stigmatisiert, diskriminiert und benachteiligt werden. Plötzlich wird einem nichts mehr zugetraut oder man bekommt die neue Stelle nicht, auf die man ein Auge hatte.

Bevor ich das Gespräch führe: Worauf sollte ich da achten?

Es kann helfen zu schauen, ob im Unternehmen eine Kultur existiert, in der es möglich ist, sich zu öffnen.

Gibt es Führungskräfte, die offen von psychischen Belastungen berichten? Gibt es Unterstützungsprogramme für Mitarbeitende, die transparent kommuniziert und beworben werden? Grundsätzlich gilt aber: Darüber reden oder nicht kann nicht grundsätzlich mit "Ja" oder "Nein" beantwortet werden. Es gibt da kein Patentrezept.

Wenn ich das Gespräch mit meinem Vorgesetzten dennoch wagen möchte, wie gehe ich das am besten an?

Möchte man es dennoch wagen, hat man meistens einen Grund dafür. Sich diesen bewusst zu machen und ein klares Ziel zu formulieren, kann ein guter erster Schritt sein: Befinde ich mich in einer akuten Phase meiner Erkrankung und wünsche mir Entlastung? Oder habe ich eine Diagnose, fühle mich gerade gut und leistungsfähig und möchte, dass sich in meinem Job Dinge ändern, damit es mir auch in Zukunft gut geht?

Mit diesem Ziel vor Augen lässt sich einfacher entscheiden, ob es (auch zum gerade bestehenden Zeitpunkt) Sinn macht, der Chef*in oder dem Team davon zu erzählen. Dabei kann es helfen, sich in der Vorbereitung auf ein mögliches Gespräch mit einem Coach oder der Therapeut*in abzustimmen. Für das Gespräch hilft es, eine konkrete Entlastungsstrategie zu entwickeln, wie zum Beispiel: "Ich möchte gern weiterhin gut und produktiv arbeiten. Dafür bräuchte ich an zwei Stunden in der Woche Zeit, um zur Therapie zu gehen".

Psychisch krank am Arbeitsplatz : Sag ich's meinem Chef oder schweige ich lieber?
© Alena Schmick

Und wie sage ich es den Kolleg*innen?

Auch in Bezug auf Kolleg*innen ist es gut, möglichst konkret zu werden. Eine Formulierung könnte sein: "Ich kämpfe ab und an mit depressiven Verstimmungen. Dann habe ich Konzentrationsprobleme, weil ich viel grübele. Ich bin deshalb in Behandlung und arbeite daran, aber es ist mir wichtig, dass ihr das wisst, damit ihr versteht, warum ich in solchen Phasen vielleicht etwas fahriger bin. Wenn ihr dazu noch irgendetwas wissen möchtet, könnt ihr mich gerne fragen." Aber: Je nach Ausprägung der akuten Symptome ist es wichtig, zu schauen, ob man sich dem Gespräch gewachsen fühlt.

Wenn ich wegen meiner psychischen Erkrankung nicht arbeiten kann: Wie melde ich mich krank? Sage ich den wahren Grund oder lüge ich?

Auch hier bietet es sich an, sich selbst zu fragen, was einen mehr entlastet: Die Wahrheit oder die Lüge? Wie gesagt:

Man muss die Art der Erkrankung niemandem offenlegen – auch arbeitsrechtlich nicht. Das kann für viele Betroffene entlastend sein.

Die neutrale und wahrheitsgemäße Zustandsbeschreibung: "Ich bin krankgeschrieben und komme deshalb eine Woche nicht zur Arbeit", ist vollkommen legitim und keine Lüge. Wenn ich dennoch transparent sein möchte, muss ich mich – wie auch beim Gespräch mit dem Arbeitgeber – sicher fühlen.

Kann meine psychische Erkrankung ein Nachteil für meine berufliche Karriere sein?

Das ist leider definitiv noch so.

Psychische Erkrankungen sind ein Grund für Stigmatisierung und Benachteiligung am Arbeitsplatz

– obwohl psychische Erkrankungen in den allermeisten Fällen nicht zur Arbeits- oder Leistungsunfähigkeit führen. Was uns immer wieder auffällt: Wir erzählen viel zu wenig positive Geschichten. Zum Beispiel von der Person, die mit ihrer Angsterkrankung lebt und arbeitet und gute Coping-Strategien für sich entwickelt hat.

Stattdessen kursieren häufig Schauergeschichten über den Totalausfall. Dabei wird oft gar nicht zwischen unterschiedlichen Erkrankungsbildern differenziert: Psychische Erkrankung werden häufig mit Depressionen oder Angsterkrankungen gleichgesetzt. Es gibt aber auch Störungsbilder wie eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, die häufig gar nicht diagnostiziert werden, weil sie mit hoher Funktionalität einhergehen und damit in der Arbeitswelt akzeptiert sind.

Psychische Erkrankungen haben oft körperliche Begleiterscheinungen wie Rückenschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden oder extreme Erschöpfung. Wie kommuniziere ich das?

Wenn es um konkrete körperliche Symptome geht, ist es natürlich sinnvoll, sich selbst zu fragen: "Was könnte mir gerade ganz konkret helfen?" Zum Beispiel von zu Hause aus arbeiten oder einmal am Tag eine längere Pause haben. Mit diesem konkreten Wunsch kann man an den Vorgesetzten oder das Team herantreten und aufklären. Ansonsten gilt: Man kann auch nur die körperlichen Symptome als Grund nennen und die Diagnose dahinter nicht kommunizieren, wenn das entlastend wirkt.

Welche Kommunikationstipps für Vorgesetzte empfehlen sich, wenn es um die mentale Gesundheit der Mitarbeiter*innen geht?

  • urteilsfreies Zuhören und Fragen stellen
  • nicht von sich auf andere schließen
  • Hilfe und Unterstützung anbieten
  • Signale setzen wie: "Mir ist deine Gesundheit wichtig"
  • in Zeiten von Homeoffice: mehr Fragen nach dem Befinden stellen
  • Mindset-Check-Ins integrieren: Tool zur Überprüfung des mentalen Wohlbefindens der Mitarbeiter

Erfahrungsgemäß kann es Betroffenen im Team sehr helfen, wenn Vorgesetzte selbst offen mit ihren psychischen Belastungen umgehen.

Liebe Vorgesetzte da draußen: Ihr habt da also eine Chance, zu glänzen und zum Kulturwandel beizutragen!

Brauchen wir einen regelmäßigen Mental Health Off Day?

Einen Mental Health Day nur für Betroffene zu etablieren, halte ich für problematisch. Das schafft Unterschiede und bietet wieder Angriffsfläche für Vorurteile. Wenn wir den Mental Health Day als einen Tag definieren, an dem sich alle – egal ob psychisch krank oder nicht – freinehmen, um psychischer Belastung vorzubeugen und Entlastung zu schaffen, dann ja gern. Gerade sieht der inoffizielle oder geheime Mental Health Day bei vielen ja so aus: Man lässt sich krankschreiben, obwohl man nicht krank ist, um kurz einmal durchzuschnaufen.

Verwendete Quelle: eigenes Interview, DGPPN ("Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.")

Brigitte

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