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"Introvertierte Menschen empfinden Glück tiefer"

Introvertiere Menschen: Schüchterne Frau auf dem Bett
© stockfour / Shutterstock
Wer laut ist, wird gehört: Extrovertiert steht für Erfolg. Doch gerade introvertierte Menschen haben Stärken, die wir dringend brauchen. Kommunikationscoach Sylvia Löhken ist Expertin für Introvertierte - und selbst eine von ihnen.

BRIGITTE: Frau Löhken, sind Sie selbst ein stiller Mensch?

Sylvia Löhken: Ja, ich war schon als Kind die Einzige, die mit einem Stapel Bücher im Kämmerchen saß und ganze Nachmittage mit Lesen verbrachte. Meine Mutter versuchte immer, mich hinauszuscheuchen. Später habe ich dann einige Zeit in Japan gelebt. Diese Jahre waren ein erstes großes Aha-Erlebnis, weil ich gesehen habe, es geht auch anders, es geht auch "leise" - und das ist in Ordnung.

BRIGITTE: Leben wir denn in einem zu lauten Land?

Sylvia Löhken: Wir leben zumindest in einer Kultur, in der das Laute immer noch mit Durchsetzungskraft und Erfolg assoziiert wird. Aber wie überall gibt es auch hier Menschen, die introvertiert und dabei sehr erfolgreich sind. Sie fallen nur weniger auf. Zum Glück haben wir hier noch keine Zustände wie in den USA, einer sehr extrovertierten Kultur, wo es passieren kann, dass Eltern ihre introvertierten Kinder zum Psychologen schleppen, damit der sie "repariert", etwa, weil sie angeblich nicht genug Freunde haben. In Deutschland scheint es eher akzeptabel zu sein, wenn ein Kind introvertiert ist.

BRIGITTE: Kommt man bereits introvertiert zur Welt, oder erlernt man es?

Sylvia Löhken: Wir werden alle mit der Anlage zur Intro- bzw. Extraversion geboren. Aber da ist unser Gehirn noch nicht fertig; wie sich unsere Persönlichkeit entwickelt, entscheidet sich auch an unseren Bezugspersonen und der Kultur, in der wir aufwachsen. Etwa die Hälfte unserer Persönlichkeitsausprägung ist unserer sozialen Umgebung geschuldet. Ich wurde früh ermutigt, mich auszutauschen, das konnte sich also bei mir ausprägen, weshalb ich auch heute gern als Vortragsrednerin und Coach arbeite. Introversion prägt uns zwar, aber sie legt uns nicht fest.

BRIGITTE: Aber als Eltern eines eher introvertierten Kindes befürchtet man dennoch oft, dass es in der Gesellschaft übersehen wird.

Sylvia Löhken: Wenn man als Elternteil seinem Kind vermittelt, dass es okay ist, wie es ist, auch wenn es nur ein oder zwei Freunde hat, kann sich das Kind prächtig entwickeln und guten Kontakt zu anderen aufbauen. Und es sollte Rückzugsräume haben, in der Schule, zu Hause. Oft hilft es auch, den Lehrern mitzuteilen, wenn das eigene Kind ein Intro ist. Und die Erkenntnis: Introvertierte Kinder werden anders Erfolg haben als extrovertierte. Aber sie werden Erfolg haben.

Introvertierte sind schneller überstimuliert

BRIGITTE: Wodurch unterscheiden sich Intros und Extros?

Sylvia Löhken: Extrovertierte brauchen Stimulation von außen. Sie ziehen die Energie aus dem Austausch mit anderen, aus neuen Eindrücken. Ihnen macht es nichts aus, wenn sie gerade an einer Sache arbeiten und das Telefon klingelt. Dann reden sie ein wenig und machen dort weiter, wo sie aufgehört haben. Bei leisen Menschen ist das anders. Introvertierte sind schneller überstimuliert, weil sie im Kopf eine höhere elektrische Aktivität aufweisen. Auch wenn sie scheinbar ganz ruhig und friedlich dasitzen, passiert in ihrem Kopf ständig mehr. Die meisten leisen Menschen können zu viele Eindrücke von außen nicht verkraften. Die Extros surfen auf Außenreizen, die Intros haben irgendwann genug. Dann werden sie leicht müde und gereizt.

BRIGITTE: Aber das kann doch auch nur von der Tagesform abhängen.

Sylvia Löhken: Es gibt da noch einen zweiten biologischen Unterschied - er liegt in den Botenstoffen im Gehirn. Diese transportieren Reize und sind bei Intros und Extros in unterschiedlicher Konzentration vorhanden. Der Psychiater C.G. Jung, der den Unterschied von Intro und Extro geprägt hat, hatte keine Ahnung, dass man heute, hundert Jahre später, seine These hirnphysiologisch beweisen kann. Extrovertierte haben viel Dopamin, das ist ein Belohnungsstoff, sie benötigen öfter einen Kick, sind risikofreudiger. Bei Introvertierten ist es vor allem der Neurotransmitter Acetylcholin, der ihr Temperament bestimmt. Der sorgt eher für ein Ruhebedürfnis und führt dazu, dass Intros sicherheitsorientierter denken.

BRIGITTE: Welche Vorteile hat denn die Gesellschaft von den Intros?

Sylvia Löhken: Ihre Stärken liegen in ihrer Sorgfalt, in der Konzentration, in ihrem analytischen Denken. In der Gabe, sich in den Dingen zu versenken und sie wirklich zu durchdenken. Intros vertreten oft eine sehr unabhängige Meinung. Auch das genaue Beobachten und Zuhören sind Stärken der Leisen, die sehr wertvoll sind, weil man komplizierte Sachverhalte und Beziehungen so viel besser durchdringt.

BRIGITTE: Man schätzt, dass bis zu 50 Prozent der Bevölkerung introvertiert ist - lauter Eigenbrötler, die am liebsten den Tag allein verbringen würden?

Sylvia Löhken: Ach, wenn ich mir eine Sängerin wie Adele oder eine Politikerin wie Angela Merkel anschaue, kommen die doch gut klar, sie machen ihre Introversion aber auch nicht zum Thema. Beide wissen, was sie leisten und wann sie ihren Rückzugsort brauchen. Beide sind beharrlich, lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, verfolgen konsequent ein Ziel, wenn sie davon überzeugt sind, oder wägen ab. Die meisten Menschen sind ohnehin gemäßigte Intros bzw. Extros, sie tragen Anteile beider Ausprägungen in sich, die unterschiedlich stark hervortreten.

BRIGITTE: Sein Privatleben kann man seiner Mentalität anpassen - was aber passiert da, wo man die Spielregeln nicht selbst bestimmt, wie zum Beispiel im Job?

Sylvia Löhken: Als ich aus Japan zurückkam, in eine Managementposition, hatte ich einen ausgeprägt extrovertierten Chef. Da ist mir aufgefallen, wie unterschiedlich wir arbeiteten. Ich gab meinen Mitarbeitern sehr viel Freiraum, während mein Chef stark lenkend war und Probleme hatte, andere Ideen gelten zu lassen. Gleichzeitig war er sehr dynamisch und hochvisionär. Auf diese Weise bin ich darüber ins Nachdenken gekommen, wie wichtig es ist zu wissen, wie der andere tickt und welche Art von Kommunikation er braucht.

BRIGITTE: Müssen die Stillen nicht auch lernen, den Mund aufzumachen?

Sylvia Löhken: Natürlich muss ich als leiser Mensch Position beziehen, aber auch die Unternehmen tun gut daran zu lernen, sich auf sie einzustellen. Denn Intros haben buchstäblich eine längere Leitung. Der Blutfluss in ihren Gehirnen ist erwiesenermaßen ein anderer. Sie sind nicht begriffsstutzig, aber sie sind nach innen gewandt und denken sehr viel sorgfältiger nach. Sie vergleichen ständig, werten erst einmal Informationen aus - und das sorgt eben für längere Nervenbahnen im Gehirn. Eine Intro-Antwort dauert vielleicht, aber die Qualität ist oft besser.

BRIGITTE: Wie wird man Introvertierten im Büro außerdem gerecht?

Sylvia Löhken: Introvertierte arbeiten gern lange und ungestört an einem Projekt. Sie sind oft gestresster, wenn sie mit anderen in einem Raum sitzen müssen. Auch typisch, etwa bei Meetings: Diejenigen, die spontan sind, die gern reden, machen schnell Vorschläge und regeln das unter sich, während die Intros erst mal nachdenken. Hier kann man dafür sorgen, dass introvertierte Ideen gehört werden. Intros sind unglaublich stark, wenn man ihnen im Voraus die Möglichkeit gibt, Ideen zu entwickeln.

Intros können sich gut in andere hineinversetzen

BRIGITTE: Was zeichnet leise Menschen außerdem aus?

Sylvia Löhken: Zuverlässigkeit, Konzentration, Fokus, Beharrlichkeit. Introvertierte können sich besonders gut in die Befindlichkeiten anderer hineinversetzen, etwa bei Verhandlungen.

BRIGITTE: Dennoch gilt im Job das Selbstmarketing immer noch als Maß aller Dinge.

Sylvia Löhken: Ja, und doch lauern hier auch Fallen. Die offensive Kommunikation, das Präsentieren mit Vergnügen, eine kesse Lippe in Meetings - das alles wird mit durchsetzungsstark und erfolgreich verbunden. Und Extrovertierte neigen dazu, schon kleine Erfolge hochzujazzen, ohne dass das Ergebnis wirklich toll ist.

BRIGITTE: Aber Studien zeigen auch, dass Menschen, die laut und schnell reden, als klüger wahrgenommen werden als in sich Gekehrte.

Sylvia Löhken: Richtig mächtige Menschen, reden die tatsächlich hastig? Menschen, deren Status hoch ist, nehmen sich alle Zeit beim Reden. Zeit ist ein Machtrevier. Ich rate Klientinnen immer, ihre Geschwindigkeit beim Sprechen zu drosseln - gerade bei Verhandlungen. Viele denken, dass ein schneller Redefluss mit Klugheit assoziiert wird, das ist aber nur in extrem extrovertierten Gesellschaften der Fall. In Japan wäre das genau umgekehrt. Dort redet der Chef im Meeting am wenigsten. Dort hat es der Statushöhere nicht nötig, viele Worte zu machen, das lässt er andere für sich erledigen.

BRIGITTE: Machtdemonstration auf die stille Art.

Sylvia Löhken: Es geht immer auch darum, wer der Stärkere ist, das kann man nie völlig ausblenden. Eine Studie aus den USA zeigt aber, dass je nach Umgebung eine extrovertierte oder eine introvertierte Führungskraft erfolgreich sein kann.

BRIGITTE: Müssen Unternehmen bei der Auswahl ihrer Mitarbeiter mehr darauf achten, ob Intro oder Extro - und genau überlegen, in welchen Bereichen diese arbeiten sollen?

Sylvia Löhken: In jedem gängigen Persönlichkeitstest, den man etwa im Assessment Center macht, geschieht das längst. Nur sagt niemand konkret, was das Ergebnis im Umgang miteinander bedeutet. Wir fragen uns heute bei jeder Henne, ob die artgerecht gehalten wird. Da ist es umso erstaunlicher, dass Arbeitgeber sich nicht dafür interessieren, wie ihre intro- bzw. extrovertierten Mitarbeiter am besten arbeiten können. Aber auch als Intro muss ich liefern: Wenn ich weiß, ich habe einen extrovertierten Kollegen, der viel Stimulation braucht, dann kann ich zum Beispiel im Gespräch mit ihm sagen: "Moment, das ist interessant, da muss ich mal kurz nachdenken." Dann wird er weniger schnell ungeduldig und versteht mich besser.

Sie müssen deutlicher machen, was sie alles können

BRIGITTE: Nehmen wir an, ich bin Chefin und merke: Kollege Soundso redet ungern in Konferenzen, zieht sich zum Arbeiten lieber zurück und kommt nicht gern zu Betriebsfeiern. Wie gehe ich mit solchen Mitarbeitern um?

Sylvia Löhken: Ich hatte mal eine Klientin, die ihrer Chefin nicht extrovertiert genug war und der gesagt wurde, sie solle sich wegbewerben. Das hat sie auch. Der Ex-Chefin brachen plötzlich funktionierende Abläufe und Kontakte weg, weil diese Mitarbeiterin nicht mehr im Haus war. Sie hatte einfach keine Ahnung, was die Frau alles gewuppt hat. Genau das müssen Introvertierte im Arbeitsalltag lernen. Sie müssen denjenigen, die es wissen sollten, deutlich machen, was sie alles können und leisten.

BRIGITTE: Und wie mache ich das?

Sylvia Löhken: Ich rate meinen Klienten, über ihre Arbeit Buch zu führen. Das hilft, eigene Erfolge sichtbar zu machen. Introvertierte sind notorisch darin, Erfolge zu unterschätzen oder diese für selbstverständlich zu halten. Es geht vor allem darum, ein Bewusstsein für die eigene Leistung zu schaffen. Wenn ich etwas aufschreibe, das mir gut gelungen ist, bleibt das wunderbar verankert. Tue ich das regelmäßig, lerne ich, meine Erfolge in mein Bewusstsein zu heben, und das stärkt meinen Selbstwert. Dann habe ich nach außen ganz automatisch eine ganz andere Überzeugungskraft, denn ich weiß, was ich anzubieten habe.

BRIGITTE: Und lande doch wieder bei der Extraversion?

Sylvia Löhken: Ist es tatsächlich extrovertiert, wenn ich souverän sagen kann, worin die Stärke meiner Leistung besteht? Es gibt auch eine leise Art, Erfolge deutlich zu machen. Menschen wie Mark Zuckerberg, Bill Gates, Angela Merkel: Sie alle haben es geschafft, als Introvertierte ihre Leistungen herauszustellen - und das auf ihre ganz eigene Art.

BRIGITTE: Psychologen sagen aber auch, dass zum Glücklichsein die Extraversion gehört. Denn dadurch wird man erst in die Lage versetzt, wirklich Glück zu empfinden.

Sylvia Löhken: Das ist Humbug. Extrovertierte mögen durch ihre Dopamin-Ausschüttung schneller euphorisch und enthusiastisch sein. Wenn ich das mit Glück gleichsetze, stimmt die psychologische Hypothese, aber ich glaube das so nicht. Extrovertierte sind hoch lodernde Lagerfeuer, Intros sind Holzkohlefeuer, die wärmen und die lange brennen - länger als die Lagerfeuer. Genauso ist auch deren Glücksempfinden. Intros empfi nden Glück zwar nicht nur himmelhoch jauchzend, sind aber auch nicht zu Tode betrübt, wenn mal etwas schiefgeht. Bei Introvertierten geht das Empfinden tiefer, eher ins Meditative hinein. So wie bei den buddhistischen Mönchen, die ihr Glück ja nachmessbar in der Meditation fi nden, wie eine Studie zeigte. Und das ist doch ein toller Gegenbeweis!

Interview: Merle WuttkeTeaserfoto: Stacey Newma/istockphoto.com

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