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Resilienz-Expertin weiß "Menschen wachen oft erst auf, wenn sie sich völlig hilflos fühlen"

Ohnmachtsgefühle: Frau lehnt an Fenster
© Sol Vazquez Cantero / Shutterstock
Resilienz-Expertin Dr. Mirriam Prieß über die besten Strategien gegen Ohnmacht, den Umgang mit einem schwierigen Gefühl.

BRIGITTE: Hilflosigkeit ist extrem unangenehm. Wie werde ich das Gefühl schnell los?

Dr. Mirriam Prieß: Das ist der falsche Ansatz. Denn wenn Sie etwas loswerden wollen, sind Sie ständig damit beschäftigt. Der allererste Schritt ist also: anzunehmen, was ist. Das gilt für die Situation, in der Sie eigentlich nicht sein wollen, und für das Gefühl, das Sie eigentlich nicht haben wollen.

Klingt aber nur in der Theorie einfach ...

Natürlich ist das harte Arbeit und gelingt manchmal nicht allein. Aber woran sich die meisten erschöpfen und weswegen Krisen viel länger dauern als nötig, ist dieses Reingraben in die Ohnmacht, indem man zusätzlich beginnt, noch gegen die eigenen negativen Gefühle bis hin zur Hilflosigkeit anzukämpfen. Dabei ist es wichtig, sich einzugestehen: "Okay, ich bin gerade hilflos. Jeder Mensch hat Grenzen." Erst wenn ich das akzeptiere, kann ich Lösungen suchen.

Wie gelingt diese Akzeptanz?

Das kann niemand für Sie beantworten, denn das "Wie" sind immer Sie selbst. Jeder von uns hat andere Voraussetzungen, genauso wie die Situationen von Ohnmacht verschieden sind. Aber eins ist immer wichtig: die Erkenntnis, dass man mehr ist als das, was gerade passiert. Dabei hilft Begegnung. Natürlich die Begegnung mit mir selbst, aber auch die Begegnung mit Menschen, die mich verstehen und unterstützen, und die Begegnung mit der Natur oder anderem, in dem ich Sinn finde.

Ohnmacht führt zu Angst und Verzweiflung, aber auch zu Wut oder Aggressivität. Woran liegt es, wie wir reagieren?

An unserer Persönlichkeit und unserer Sozialisation. Frauen sind häufig eher verzweifelt oder traurig, Männer werden eher wütend. Viele erkennen dann nicht, dass hinter diesem Gefühl oder hinter aggressivem Verhalten eigentlich die eigene Hilflosigkeit steckt. Frauen können diese oft mehr annehmen. Das heißt aber nicht, dass es für sie leichter ist, damit umzugehen. Denn häufig fügen sich die Frauen der Hilflosigkeit, anstatt aus ihr heraus zu wachsen.

In wiefern prägen uns Ohnmachtserfahrungen, die wir als Kind gemacht haben?

Entscheidend. Wenn wir mit dem Wissen aufwachsen, dass wir gesehen und angenommen werden, wie wir sind, ist das die Grundlage für eine gute Beziehung zu uns selbst. Und die braucht man, um im Dialog mit sich und seinen Gefühlen zu bleiben. Wenn diese Basis fehlt, wenn mir als Kind nie jemand zur Seite gestanden hat, dann werde ich mir später selbst auch nicht zur Seite stehen können. Das heißt: Je ohnmächtiger ich als Kind gewesen bin, desto kindlicher wird auch meine Ohnmacht als Erwachsener. Vielleicht werde ich sogar Gefallen daran finden. Wer Opfer ist, muss schließlich nichts tun. Dabei gibt es letztendlich keinen Grund, sich im Erwachsenenalter als Opfer zu fühlen. Das klingt zwar hart. Aber nur wenn ich meinen eigenen Anteil an einer Situation erkenne, komme ich wieder in die Handlungsmacht.

Aber wenn man nun aufgrund von Hautfarbe oder Geschlecht diskriminiert wird, ist man doch wirklich machtlos?

Wichtig ist: Wenn mir jemand respektlos begegnet, ist das eigentlich gar nicht meine Angelegenheit. Je mehr ich mir die gestörte Haltung des anderen anziehe – und natürlich ist es manchmal eine große Herausforderung, es nicht zu tun –, mache ich mich selbst zum Problem, anstatt es beim anderen zu belassen. Solange ich gegen das, was mir passiert, ankämpfe, hafte ich daran. Und je länger ich das tue, desto mehr davon nehme ich in mich auf.

Was bedeutet das konkret?

Ich habe Klient*innen, die haben im Job so lange gegen Respektlosigkeit angekämpft, bis sie selbst keinen Respekt mehr vor sich hatten. Es ist aussichtslos, gegen etwas anzugehen, das nicht meins ist. Das bedeutet nicht, dass man sich unterwerfen oder falsche Dinge gutheißen soll. Es geht um Feinheiten: Ich respektiere, was ist, ich kämpfe nicht, aber ich vertrete mich. Ich setze eine gesunde und deutliche Alternative. Dann bleibe ich im Konstruktiven, bin wieder bei mir und dem, was ich selbst bewirken kann.

Wir leben in unsicheren Zeiten: Globalisierung und Klimawandel verändern unser Leben – und nun auch noch Corona. Nehmen Ohnmachtsgefühle zu?

Letztendlich ist all das auch von uns gemacht. Ob es um private oder gesellschaftliche Themen geht – Menschen wachen oft erst auf, wenn sie sich völlig hilflos fühlen. Dann wollen sie wissen: "Wie komme ich da raus?" Niemand fragt: "Wie bin ich reingekommen?" Dabei ist die Erkenntnis des eigenen Zutuns so wichtig. Sie löst noch nicht das Problem, aber sie hilft, eine andere Haltung zu entwickeln und in die Handlungsfähigkeit zu kommen. Möglicherweise ist die Ohnmacht auf dem Vormarsch – umso wichtiger, dass wir erkennen, womit wir sie selbst produzieren.

Dr. Mirriam Prieß ist Ärztin, Psychotherapeutin und Unternehmenscoach und auf die Themen Angst, Burn-out und Resilienz spezialisiert. Sie ist Autorin mehrerer Bücher (zuletzt "Zeit für einen Spurwechsel", Südwest).

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BRIGITTE 25/2020

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