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Nichts bereuen: Geht das überhaupt?

Nichts bereuen: Frau am Wasser
© Rosa Araci Henriques/shutterstock
Den falschen Beruf gewählt oder die Liebe des Lebens sausen gelassen: Warum es trotzdem keinen Grund gibt, mit vermeintlichen Fehlern zu hadern und wann Reue eine Chance sein kann, erklärt die Philosophin Ruth Chang.

Die Amerikanerin Ruth Chang ist Professorin für Philosophie an der Rutgers-Universität in New Brunswick, New Jersey. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Frage, wie man unter schwierigen Bedingungen Entscheidungen trifft. Als Expertin beriet sie diverse Unternehmen und Institutionen wie die CIA, die amerikanische Marine und die Weltbank. Im Interview mit BRIGITTE spricht sie über das Thema Reue.

"Wir wachsen an unseren Entscheidungen"

BRIGITTE: Frau Chang, haben Sie schon einmal etwas richtig bereut?

Ruth Chang: Ja – meine erste Berufswahl. Ich habe zuerst Jura studiert, und als ich mit dem College fertig war, konnte ich mich nicht entscheiden, ob ich noch zusätzlich Philosophie studieren oder sofort in einer Anwaltskanzlei beginnen sollte. Ich setzte mich also hin und machte auf einem Zettel eine lange Liste mit Gründen für und gegen die eine oder andere Option. Daraufhin habe ich mich für die Anwaltskanzlei entschieden, weil das mehr berufliche Sicherheit versprach. Ein Fehler, den ich glücklicherweise schon vier Monate später einsah. Ich kündigte meine Stelle als Rechtsanwältin und ging zurück an die Universität.

Da haben Sie aber schnell reagiert. Viele schaffen das nicht. Sie bleiben in einer Ausbildung und später in einem Beruf, der ihnen keinen Spaß macht. Die Zahlen der neuen BRIGITTE-Studie "Mein Leben, mein Job & ich" belegen das sehr deutlich: Jede vierte Frau, heißt es darin, bereut ihre Berufswahl, jede dritte ihre Ausbildung.

Das liegt daran, dass viele Menschen sich treiben lassen. Sie entscheiden nicht selbst über die wichtigen Dinge ihres Lebens, nicht über ihren Beruf, ihre Partnerschaft oder ihre Freundschaften, sondern lassen Zufälle bestimmen. Zufälle und andere Menschen, die sie entweder unterstützen oder die sich ihnen in den Weg stellen, die sie loben oder kritisieren. Sie gestalten ihr Leben nach den Regeln, die andere ihnen vorgeben.

Fehlt es diesen Menschen an Willenskraft?

Willenskraft hat damit nichts zu tun. Es ist die Angst, einen Fehler zu machen. Denn eine Entscheidung für einen bestimmten Menschen oder einen Beruf bedeutet ja tatsächlich, dass man die vielen anderen Möglichkeiten nicht mehr verwirklichen kann. Es ist ein Fluch unserer Zeit, dass wir ständig mit den vielen verschiedenen Arten, wie man sein Leben verbringen kann, konfrontiert werden - auch durch Fernsehserien oder soziale Medien. Das irritiert viele Menschen sehr. Und so leben sie lieber vor sich hin, entscheiden sich nie richtig für etwas, geraten mehr in einen Beruf als dass sie ihn ergreifen, rutschen mehr in eine Partnerschaft, als dass sie sich tatsächlich verlieben. Und ihr Blick schweift dabei stets nervös umher, immer bereit, sich von anderen irritieren zu lassen: Hat die Kollegin nicht die bessere Ehe? Führt die Nachbarin nicht das spannendere Leben? Hat die Freundin nicht den interessanteren Mann?

Und dann kommt die Reue: Hätte ich doch bloß ...?

Genau: Hätten sie es doch bloß anders gemacht. Das Problem vieler Menschen ist, dass sie nicht begreifen, dass viele Optionen erst einmal gleichwertig sind. Lebe ich in der Stadt oder auf dem Land? Werde ich Hausfrau oder Managerin? Für jede Entscheidung gibt es gute Gründe. Jedes Leben kann lebenswert sein. Und jedes dieser Leben kann ich zu meinem machen, wenn ich mich voll und ganz darauf einlasse. Ein Lebensweg zeigt doch weniger, ob wir anderen irgendwie überlegen oder unterlegen sind, sondern vielmehr, welche Persönlichkeit wir haben, welche Werte, welche Überzeugungen, welchen Charakter.

Wenn wir etwas bereuen, heißt das also nicht zwangsläufig, dass wir die falsche Wahl getroffen haben und unsere wahren Wünsche ganz andere sind?

Das Gefühl der Reue zeigt uns erst einmal, dass wir nicht zu dem Leben stehen, das wir uns mal ausgesucht haben. Und ja, das kann natürlich daran liegen, dass wir eine falsche Entscheidung getroffen haben. Ich zum Beispiel war nicht der Mensch, der den von mir zuerst eingeschlagenen Berufsweg durchziehen konnte. Ich wollte einfach nicht mein Leben als Anwältin verbringen. Das hat nicht zu mir gepasst, also habe ich es geändert. Aber ein Gefühl der Reue kann sich durchaus auch nach einer für uns richtigen Entscheidung einstellen.

Wann passiert das?

Immer, wenn wir uns nicht auf unser Leben einlassen. Denn jede Entscheidung bringt Schwierigkeiten mit sich. Ein spannender Job bedeutet oft sehr viel Arbeit. Drei Kinder kosten unerhört viel Nerven. Doch wer voll und ganz zu diesem Leben steht, wird sich auch verändern. Wer sich bewusst für ein Leben auf dem Land entscheidet, wird sich an den beschaulichen Alltag gewöhnen. Wer einen stressigen Job in der Stadt annimmt, wird sich zu dem Menschen weiterentwickeln, der in dieses Leben passt. Man sieht das immer am besten, wenn selbstbezogene Menschen Kinder bekommen: Aus Egoisten werden plötzlich Väter und Mütter, die das Wohl ihrer Kinder an die erste Stelle setzen. Aber das alles passiert natürlich nur, wenn sie sich auf diese Aufgabe, dieses Leben, einlassen. Wenn sie die Veränderung zulassen, dann treten Teile der Persönlichkeit in den Vordergrund, die vorher verborgen waren.

Und dann bereut man nichts?

Genau. Denn wir sind mit diesen, von uns einmal getroffenen Entscheidungen eine Art Liebesbeziehung eingegangen. Sie gehören jetzt zu uns, und wir wachsen mit ihnen.

Aber manchmal entwickeln sich Dinge doch in eine Richtung, die man nicht vor- hersehen konnte.

Sicher. Natürlich kann es sein, dass wir uns an einen Partner binden, dessen Firma unter üblen Umständen pleitegeht, was ihn zum Trinker macht, der seine ganze Lebenslust verliert. Oder wir entscheiden uns, in Aktien zu investieren, und dann bricht plötzlich die Börse zusammen. Das sind Schicksalsschläge, die wir nicht vorhersehen können und über die wir uns natürlich ärgern und grämen können.

"Es gibt eine positive Art von Reue, die uns weiterbringt"

Aber bereuen bringt nichts?

Ich finde es falsch, wenn man Entscheidungen bereut, für die man damals gute Gründe hatte. Man kann nie wissen, wie die Dinge sich entwickeln. Auch nicht, wie wir uns weiterentwickeln. Man kann nur im Moment selbst entscheiden. Und wenn man diese Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen trifft, wenn man mit seiner ganzen Persönlichkeit dahintersteht, sich auf sie einlässt - dann gibt es aus meiner Sicht keinen Grund, eine solche Entscheidung später zu bereuen.

Aber was ist, wenn wir all das damals richtig gemacht haben - und dennoch nicht mehr zu dem Leben stehen können, das wir gerade führen?

So etwas passiert natürlich auch. Nehmen wir an, wir wollten in unserer Jugend zu einer coolen Clique gehören und haben deshalb angefangen, gemeinsam mit den anderen Drogen zu nehmen. Aber dann werden wir älter und bereuen es, weil wir abhängig geworden sind und das nicht mehr sein möchten. Wir haben uns verändert. Dann bereuen wir aber nicht unsere Entscheidung damals. Denn die haben wir unter den damaligen Bedingungen und als die Persönlichkeit, die wir damals waren, getroffen. Sondern wir bereuen, dass wir mal der Mensch waren, der eine solche Entscheidung getroffen hat. Und das ist eine positive Art der Reue. Weil sie uns weiterbringt.

Inwiefern?

Weil nun eine Entscheidung ansteht: Bleibe ich weiter drogenabhängig oder mache ich eine Therapie? Oder: Verlasse ich diesen Mann, mit dem ich doch so unglücklich bin? Gebe ich die Karriere auf, die mich immer tiefer in eine Welt führt, zu der ich nicht gehören will? Wir müssen doch nicht unser ganzes Leben lang Entscheidungen verwirklichen, die nicht mehr zu uns passen. Wir können irgendwann auch sagen: Jetzt reicht es. Jetzt will ich nicht mehr.

Wäre ein Leben ohne Reue möglich oder überhaupt wünschenswert?

Ich habe einen Kollegen, der behauptet, dass er weder Reue noch Schuldgefühle kennt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm das glauben soll. Ich bin jedenfalls der festen Überzeugung, dass diese Gefühle unser Leben reicher machen. Denn sie lassen uns wachsen. Ein Mensch, der Reue empfindet, trennt sich von alten Überzeugungen und Lebensweisen. Es wird für ihn sehr schwierig, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, der doch nicht oder zumindest nicht mehr zu ihm passt. Und das ist gut. Denn nur so entwickeln wir uns weiter.

BRIGITTE 22/17

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