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Neues Jahr, neue Ziele: Wie sinnvoll ist ein Lebensplan?

Neues Jahr, neue Ziele: Wie sinnvoll ist ein Lebensplan?
© Fräulein.Palindrom/Photocase
Soll man sich Ziele setzen? Klingt vernünftig. Soll man sich treiben lassen? Klingt verlockend. Bestseller-Autorin Ildikó von Kürthy über Silvester, den Zauber des Abschiednehmens - und den Sinn des Lebens.

Es ist kurz vor Mitternacht, und meine Zeit ist abgelaufen. Noch fünf Minuten bis zum Jahreswechsel. Das Feuerwerk werde ich nicht mehr erleben. Ein paar verfrühte Raketen werde ich vielleicht noch mitbekommen, angezündet von den wenigen Ungeduldigen, die nicht warten wollen, die sich nicht einfügen wollen und die nicht untergehen wollen im offiziellen Silvesterfarbenrauschgetöse. Jetzt, wo es ja nicht mehr drauf ankommt und die Wahrheit keinem mehr weh tut, auch nicht mir selbst, würde ich sagen, dass ich in meinem Leben vieles viel zu wenig getan habe. Aber eins habe ich definitiv viel zu viel getan: gewartet.

Ich habe Wochen in den Warteschleifen meines Telefonanbieters verbracht: "Bitte haben Sie einen Moment Geduld, Sie werden bedient, sobald ein Platz frei wird." Ich habe Monate am Computer gesessen, vor sich widerspenstig aufbauenden Seiten und sich träge füllenden Ladebalken. Bestimmt anderthalb Jahre lang habe ich auf Partys gewartet, dass noch irgendwas passiert, und währenddessen in den 70er Jahren unnötig viel Persico, in den 80ern Blue Curaçao und seit dem Jahrtausendwechsel zunehmend Rotwein mit einer vollmundigen Beerennote im Abgang getrunken.

"Eigentlich habe ich immer gewartet"

Eigentlich habe ich immer gewartet: Auf den richtigen Zeitpunkt. Auf einen günstigeren Moment. Auf den Mut, etwas zu tun, auf den Mut, etwas zu lassen. Auf das nächste Mal oder das übernächste. Auf den Bus, die Ferien, einen Studienplatz, darauf, dass endlich die Kündigungsfrist, das Probejahr oder das Scheidungsjahr verstreicht. Und in diesem Moment warte ich mal wieder auf einen Anruf. Viel Zeit hast du nicht mehr. Meine ist gleich vorbei. Und das Warten hat jetzt definitiv ein Ende. Noch zwei Minuten bis Mitternacht.

Und was haben Sie an Silvester vor? Haben Sie bereits Pläne, oder wollen Sie mal sehen, was sich im letzten Moment so ergibt? Vielleicht erbarmt sich ja jemand und lädt einen zu dem großen, rauschenden, unvergesslichen Fest ein, das man selbst nie gemacht hat, weil man erstens Angst hatte, dass keine Sau kommt, und weil man zweitens keine Lust hatte, am nächsten Morgen die Kippen aus den Blumenkübeln zu klauben. Am wahrscheinlichsten ist, dass man auch dieses Jahr wieder in einer kleinen Runde ebenso Übriggebliebener in der Küche sitzt, Fleischspieße in Fett taucht und versucht sich einzureden, dass ein Fondue-Essen mit ein paar Leuten doch auch supernett sei, während man sich insgeheim bang fragt, ob einem mittelmäßigen Silvester automatisch ein mittelmäßiges Jahr folgen wird. Und wenn einen in ein paar Monaten jemand fragt: "Was hast du an Silvester gemacht?", dann wird man verlegen murmeln: "Nichts Besonderes."

Selber schuld. Man könnte doch mal zur Abwechslung etwas Besonderes machen. Etwas Unvergessliches. Probehalber sterben zum Beispiel. Ein Experiment mit sich selbst als Versuchskaninchen, das mir kürzlich ein Psychologe empfohlen hat: sich vorstellen, es blieben nur noch fünf Minuten Zeit, um auf das Leben zurückzublicken und sich schnell klarzumachen und aufzuschreiben, was darin wichtig war und was darin fehlte, was man gern getan hat und was nicht, welche Pläne man immer wieder nur gemacht hat, statt sie zu verwirklichen. Fünf Minuten. Deadline. Und wenn man dann zu denen gehört, die sich nach vierdreiviertel Minuten gemütlich zurücklehnen, ein letztes Schlückchen Champagner schlürfen, sich selbst zuprosten und sagen "Gut gemacht", dann gehört man garantiert zu einer Minderheit.

Die Bestsellerliste ist überfüllt mit Lebens-, Karriere- und Erfolgsratgebern, die Praxen von Therapeuten sind überfüllt mit Leuten ganz ohne, mit dem falschen oder mit einem gescheiterten Lebensplan. Es vergeht kein Wochenende in Deutschland, an dem nicht mindestens dreiundzwanzigtausend Seminare zu den Themen "Glück durch Erfolg", "Lebe deine Träume" oder "Strategien für die Zukunft" angeboten werden. Das deutet auf eine Bedürftigkeit unserer Mitmenschen in Sachen Orientierung und Lebensplanung hin.

Den meisten würde beim Psycho-Silvester-Experiment eine Deadline von fünf Minuten wahrscheinlich gar nicht ausreichen, um all das aufzuzählen, was sie nicht gemacht, verpasst, aufgeschoben, nicht oder viel zu spät beendet haben. Verpasste Chancen, vergeigte Lebensläufe, verblichene Träume in Zahlen klingen die so: 68 Prozent aller Angestellten machen Dienst nach Vorschrift, weil sie unzufrieden mit ihrem Job sind, 20 Prozent haben bereits innerlich gekündigt, und nur eine Minderheit ist vollkommen zufrieden in ihrem Beruf. Eine Studie des Kölner Rheingold-Instituts ergab: Die meisten Deutschen fühlen sich wie im Hamsterrad. Sie geben täglich ihr Bestes, doch wissen sie nicht, wozu das Ganze. Visionen? Ideale? Zukunftsbilder? Nein.

In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" stand einmal, "dass Frauen in Zeiten der Globalisierung ihr Glück eher im heimischen Winkel wähnen. Mit rund 35 Prozent wollen mehr als ein Drittel der deutschen Hochschul-Absolventen zukünftig in ihrer Heimatstadt arbeiten. Lediglich 18 Prozent der Studentinnen können sich vorstellen, nach dem Studium im Ausland zu arbeiten. Unter den Männern wollen nur zehn Prozent ihr Geld anderswo als in Deutschland verdienen. Wie ein roter Faden zieht sich Sicherheitsbedürfnis und Cocooning durch die Lebensplanung".

Das Leben bietet so überwältigend und einschüchternd viele richtige und falsche Möglichkeiten, so viele Wege, darunter so viele Holzwege, dass die Leute vor lauter möglichen Lebensentwürfen dann doch am liebsten den wählen, der ihnen zumindest am wenigsten falsch und am wenigsten risikoreich erscheint. Wer nichts wagt, der kann auch nichts verlieren. Dein Geld, das hat sich gerade schauerlich gezeigt, scheint doch auch unter deiner Matratze am sichersten und du selbst darauf, mit der Decke überm Kopf und einem Mann neben dir, der nicht weiter stört und von dem es sich nicht lohnt, ihn nach so vielen Jahren zu verlassen.

"Sicherheit ist eine Illusion"

"Sicherheitsbedürfnis"? Dass ich nicht lache. Wer auf Sicherheit setzt, der stutzt seine Lebenspläne bereits zurecht, bevor er überhaupt scheitern konnte. Und ehrlich gesagt macht es doch weit mehr Spaß, an etwas zu scheitern, was man unbedingt tun wollte, als an etwas, worauf man sowieso keinen Bock hatte. Krisen sind, zum Glück, unvermeidbar. Sicherheit ist eine Illusion, und wer auf Sicherheit setzt, geht das größte Risiko überhaupt ein: nämlich, kalt erwischt zu werden an Silvester, fünf Minuten vor Schluss.

Ein Jahr im Ausland? Lieber nicht, der Wiedereinstieg könnte misslingen. Einen Liebesbrief schreiben? Und wenn keine Antwort kommt? Diesen Mann verlassen? Was, wenn ich keinen besseren finde? Zwei Monate unbezahlten Urlaub nehmen und nach Peru trampen? Und wer gießt die Blumen?

Es ist eine Schande, wie viele sich zufrieden geben - ohne zufrieden zu sein. "70 Prozent der Leute, die zu mir kommen, haben sich beschieden und leben unter ihren Möglichkeiten", sagt die Management-Trainerin Sabine Asgodom. Sie selbst war über 40, als sie ihren Job aufgegeben und sich selbständig gemacht hat, sie war über 50, als sie sich scheiden ließ. Sie sagt: "Mein Plan war: frei zu sein." Heute ist sie Bestsellerautorin, preisgekrönte Moderatorin von Seminaren und Veranstaltungen zu Selbst-PR, Potenzial-Optimierung und Durchsetzungsstrategien. Leider sagt sie auch, dass Entwicklung und Wachstum nur möglich sind, wenn wir Risiken eingehen. Nur in der Risikozone lägen Erfahrungen und Erfolge, "dort liegt das Größerwerden und das Freierwerden. Ohne Risiko keine Entwicklung".

Aber kann man das Glück, die Erfüllung herbeiplanen? Ja. Ist nicht jeder Masterplan fürs Leben lächerlich und vermessen, weil er das Schicksal außen vor lässt und die eigene Veränderung? Ja. Hauptsache, ein Lebensplan? Ja.

Oder lieber doch spontan reagieren, das Leben passieren lassen und die Chancen ergreifen, wenn sie kommen? Ja. Ja, was denn nun? Lebenspläne beruhen auf Sehnsüchten und Träumen, sie geben dem Leben Richtung und Sinn und Bewegung. Jedoch nur, wenn sie flexibel sind, wenn sie einen üppigen Reaktionsspielraum lassen, und vor allem taugen sie nur dann etwas, wenn es wirklich die eigenen Pläne sind, die man verfolgt. Sonst stehst du irgendwann am Ziel eines anderen. Und davon hast du nix außer schlechter Laune.

Fremden Träumen folgen?

Eine Freundin erzählte mir einmal von einem hochbegabten Jungen, der ein Studium auf einer unheimlich angesehenen Wirtschaftsakademie begonnen hatte. Trotz Bestnoten und dem Entsetzen seiner Lehrer und Eltern brach er das Studium nach einem halben Jahr ab und schrieb sich an der Kunsthochschule ein. Er hatte festgestellt, dass das, was er tat, nicht das war, was er tun wollte. Wie gesagt, ein hochbegabter Junge.

Ich möchte gar nicht so genau wissen, wie viele Leute in einen Lebensplan verstrickt sind, den sie sich nur gemacht haben, weil Tugend, sondern zunächst die Negation der eigenen Bedürfnisse. Konzentriert man sich dagegen auf seine Stärken, kommt man ohne Selbstdisziplin aus und erreicht mehr."

Der peinlichen Haltung all jener, die einem fremden Traum gefolgt sind, einen falschen Mann geheiratet, einen sterbenslangweiligen Beruf gewählt oder sich für ein Häuschen auf dem Land verschuldet haben, obschon sie die Stille nachts kaum ertragen können, liegt ein idiotischer und fataler Satz zugrunde: "Was ich einmal angefangen habe, das bringe ich auch zu Ende."

Tschuldigung, aber das ist so hammerblöde. Einen Fehler zu machen lohnt sich doch nur, wenn man ihn einsieht und korrigiert. Dann hat man was davon. Aber bräsig, trotzig und dämlich in der falschen Richtung weiterzumarschieren, bloß weil man nicht umkehren will? Passig und Lobo nennen das die "Eskalation des Engagements". In dem Kapitel mit dem Supertitel "Jedem Ende wohnt ein Zauber inne: Aufgeben - der schnelle Weg zum Sieg" stellen sie die Frage: "Woher aber kommt diese Unfähigkeit aufzugeben? Durchhaltevermögen wird in der Schule als wichtiges Erfolgskriterium gepriesen. Dabei kommt die Entwicklung der Fähigkeit, rechtzeitig aufzuhören, viel zu kurz."

Nun, ich denke, ich habe die zwei Hauptschuldigen für unser perverses Duchhaltevermögen gefunden: Sie heißen Dummheit und Hoffnung. Auf Dummheit gehe ich nicht weiter ein, denn daran lässt sich nur schwer was ändern. Über die Hoffnung heißt es, sie stürbe zuletzt. Und das stimmt leider. Sie ist ein verflucht langlebiges und unheimlich zähes Biest, und nichts ist so hinderlich, so lähmend, so fesselnd wie die falsche Hoffnung. Denn während man sich Hoffnungen macht, macht man in der Regel nichts anderes. Wer hofft, handelt nicht.

Mit wohligem Schaudern denke ich an den Film "Die Höllenfahrt der Poseidon", in dem nur diejenigen die Schiffskatastrophe überleben, die sich in Bewegung setzen und sich auf die Suche nach einem Ausweg machen. Der Rest wartet, hofft auf Rettung und ertrinkt. Und mit unwohligem Schaudern denke ich an Stephan A., der mich verließ, als ich 16 war, und auf dessen Rückkehr ich noch ein halbes Jahr später töricht, tatenlos und still vor mich hin leidend hoffte, während er bereits dabei war, erfolgreich Bettina K. aus der Parallelklasse zu erobern. Wenn die Hoffnung schneller stürbe, würden wir weniger Zeit verlieren.

"Die lebenslängliche Hoffnung auf das nächste Mal"

Max Frisch schreibt in seinem Tagebuch: "Immer öfter wundert es mich, warum wir nicht einfach aufbrechen. Wohin? Es genügte, wenn man den Mut hätte, jene Art von Hoffnung abzuwerfen, die nur Aufschub bedeutet, Ausrede gegenüber jeder Gegenwart, die verfängliche Hoffnung auf den Feierabend und das Wochenende. Die lebenslängliche Hoffnung auf das nächste Mal, auf das Jenseits - es genügte, den Hunderttausend versklavter Seelen, die jetzt an ihren Pültchen hocken, diese Art von Hoffnung auszublasen: groß wäre das Entsetzen, groß und wirklich die Verwandlung."

Tja, dem ist nichts hinzuzufügen, und ich selbst hätte es ja auch gar nicht besser sagen können. Ein guter, kluger Lebensplan, den man regelmäßig anzweifelt und anpasst, schützt einen vor falschen Hoffnungen und schafft ein Bewusstsein für das, was man will und wer man sein möchte.

Mit guten Lebensplänen ist es - es sei mir erlaubt, einen handfesten Vergleich aus mir vertrauter Sphäre anzuwenden - wie mit guten Einkaufszetteln. Ich finde heraus, was mir jetzt fehlt, schreibe es auf, ziehe los und bemerke im Supermarkt, dass ich den Zettel zu Hause habe liegen lassen. Ich weiß aber noch so ungefähr, was draufstand: Rotkohl, Rotwein, Kinderschokolade. Sollte ich dann beim Gemüsemann stehen und feststellen, dass der Rotkohl aussieht wie ein sehr alter Grünkohl und mir der Sinn sowieso mehr nach grünen Bohnen steht, dann wäre ich schön blöd, nicht meinem Instinkt - und in Sachen Lebensmittel und ihrer weiteren Verwertung habe ich einen Hundert-Prozent-Instinkt - zu folgen und mein Geld und meine Energie in einen ungewollten Rotkohl zu investieren.

Man muss Pläne auch lassen können. Und sie müssen punktgenau und überschaubar sein. Woher soll ich heute wissen, was ich am Donnerstag nächster Woche essen möchte? Woher soll ich heute wissen, dass ich mit fünfzig am Meer leben will? Was für eine törichte, spießige Frage, die gern in Bewerbungsgesprächen gestellt wird: "Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?" Es gibt nur eine richtige Antwort darauf: "Ich habe zum Glück keine Ahnung, Sie Depp!"

Ziele korrigieren zu können, ist wichtig

Ziele zu haben ist wichtig. Sie zu korrigieren genauso. Sie dürfen einem nicht den Blick verstellen auf das Leben, das gerade passiert, sie dürfen nicht dem Zufall den Weg versperren und nicht frischen Sehnsüchten die Luft abschnüren. Irgendwann tut man die Dinge nur noch, weil sie auf der To-do-Liste stehen, und nicht mehr, weil man sie tun will. Irgendwann hat man die Nase so tief vergraben in dem Reiseführer des Lebens, dass man die Schönheiten und Gewaltigkeiten auf dem Weg zum Ziel nicht mehr bemerkt.

Mit To-do-Listen ist es wie mit Kleiderschränken, sie müssen regelmäßig entrümpelt werden. Die strassbesetzte, verwegen teure honigfarbene Bluse mit Stehkragen und Manschetten, einmal getragen vor vier Jahren. Weg damit. Die Plateaupumps, die einem nicht stehen und auf denen man nicht stehen kann, zweimal getragen vor zwei Jahren, heute noch Schmerzen am Überbein: weg damit. Pläne und Klamotten, aus denen man herausgewachsen ist, nehmen bloß Platz weg und kosten unnötige Energie.

Seit entwürdigend vielen Jahren nehme ich mir zum Beispiel vor, in der Weihnachtszeit Plätzchen zu backen und im Frühjahr mindestens vier Wochen zu fasten. Zu meiner Vorstellung einer nach allgemeinen Maßstäben als idyllisch zu bewertenden Weihnachtszeit gehört der selbst gefertigte Keks, und ein großer Sommer muss mit großem Hunger beginnen. Das Problem: Ich kann nicht backen, und nach anderthalb Stunden ohne feste Nahrung wird mir schwarz vor Augen.

Ich habe endlich beides von meiner To-do-Liste gestrichen und werde es stattdessen in dieser Saison mit Selbstgebackenem vom Bäcker und dem verwirklichbaren Vorsatz probieren, im März an jedem zweiten Sonntag den Nachtisch wegzulassen.

Die dadurch frei gewordene Energie werde ich dazu nutzen, alle Bücher, die seit mehr als drei Jahren ungelesen rumstehen, zu verschenken, endlich die Gebrauchsanweisung des Dampfgarers vollständig zu lesen und den uralten Traum "Ich hätte gern ein eigenes Pferd" durch den aktualisierten Traum "Ich will mehr Platz für Zufälle schaffen" ersetzen.

Wie man das macht? Eine Freundin von mir hat einmal ihre Wohnung zum Tausch angeboten und ist für zwei Monate in einen anderen Stadtteil gezogen. In ihrer neuen Wohnung auf Zeit stand ein Klavier. "Hallo, Zufall", dachte meine Freundin und begann, Klavierunterricht zu nehmen. Sie entdeckte ihr Talent und eine neue Nachbarschaft und ein anderes Leben. So kann es kommen, wenn man sich mal gehen lässt.

"Wir bleiben eh nicht die, die wir sind"

Wir bleiben ja eh nicht die, die wir sind. Ob wir wollen oder nicht. Und deswegen sollen wir es lieber wollen, denn es geschieht ja sowieso. Eltern sterben, Kinder werden geboren. Freunde gehen, Beziehungen und Muskeln erschlaffen. Es gibt so vieles, was nicht zu verhindern ist und unser Wesen und Schicksal und unsere Pläne beeinflusst, da kann es nicht schaden, dem Leben hier und da einen sanften Stups in eine selbst gewählte Richtung zu geben. Und auf dem Wegweiser in diese Richtung kann ruhig "Treiben lassen" oder "Weniger Pläne und mehr Dummheiten machen" stehen.

Sabine Asgodom trägt in ihrem Kalender mit Rotstift die Wochenenden ein, an denen sie keine Termine annimmt, keine Pläne macht und die Zeit auf sich zukommen lässt. An jedem Tag der Arbeitswoche plant sie eine "unhappy hour" ein - ein Zeitfenster, in dem sie lästige Dinge erledigt. Dinge, die sie lieber vor sich herschieben würde. So schlägt sie das System mit Mitteln des Systems und kommt ihrem Ziel immer näher, ein ziemlich freier Mensch zu sein.

Weil: Jedem Plan liegt der Wunsch zugrunde, ein bestimmter, ein anderer Mensch zu sein. Der Wandel der eigenen Identität ist der Kern jeden Traums. Zu jedem Ziel, "Bis Februar sechs Kilo abnehmen" oder "Millionärin werden" oder "Ryan Gosling heiraten" oder "Macht und Einfluss haben", gehört eine Person, die dieses Ziel erreichen kann. Und das Problem ist: Diese Person sind wir nicht. Noch nicht.

"Die Heldin auf den Traum aufs Leben loslassen"

Deswegen fragt Therapeut und Buchautor Michael Mary seine Klienten nicht: "Was wollen Sie erreichen?", sondern: "Wer wollen Sie sein?" Die Frau, die sich Reichtum wünscht - sie will nicht in erster Linie reich, sondern unabhängig sein. Die Frau, die eine Scheidung erwägt, möchte frei sein. Die Frau, die auf den Chefsessel will, möchte selbstbestimmt und mutig sein. Michael Marys Ansatz ist, die Leute in ihre Zukunft zu schicken und sie dann die Frage beantworten zu lassen: Wie wäre ich als Millionärin, als Ehefrau, als geschiedene Frau, als Chefin? Welche Eigenschaft hätte ich? Und wie würde ich mich in der Gegenwart mit dieser Eigenschaft verhalten? Mit Marys Arbeitsbuch "Anleitung zum Erfolg" kann man diese Ziele hinter den Zielen gut herausfinden.

"Die Heldin aus dem Traum aufs Leben loslassen" nennt der Paartherapeut Mary diese Strategie - und seine persönliche Silvester-Empfehlung lautet: "Der Figur, die man gern wäre, drei Entscheidungen überlassen, die innerhalb der nächsten drei Monate umgesetzt werden. Sie wären gern mutig? Was würden Sie tun, wenn Sie es wären? Tun Sie es. Sie wären gern besonnen? Was würden Sie tun, wenn Sie es wären? Tun Sie es."

Und, werte wohltemperierte Leserin, werden Sie bereits nervös? Breitet sich eine kleine, aber tödliche Dosis Tatendrang in der ansonsten trägen Seele aus? Räkeln sich Träume, nehmen verwegene Pläne Gestalt an? Ich sage Ihnen was: Wer am Ende dieser Geschichte nicht sein Leben verändert - und wenn es nur der Wechsel des Stromanbieters ist -, der hat entweder kein Problem, Glückwunsch an dieser Stelle, oder ein großes, nämlich dasselbe wie ich: Wann immer ich mir vornehme zu handeln, bin ich allein von meinem heroischen Entschluss so begeistert, dass mir die Tat selbst oftmals als eher zweitrangig und vernachlässigenswert vorkommt. Ich war mehrmals so stolz auf mich, dass ich es geschafft hatte, mir vorzunehmen, mit dem Rauchen aufzuhören, dass ich mir quasi als Belohnung dafür das Rauchen nicht abgewöhnt habe. Zum Glück las ich in der "Psychologie heute" etwas über dieses idiotische Verhalten und schloss daraus, dass es sich bei dieser Neurose um eine verbreitete handelt: "Allein der Entschluss, eine Änderung einzuleiten, verursacht positive Gefühle. So ist es kein Wunder, dass sich Menschen oft in der Phase zwischen Entschluss und Tat am wohlsten fühlen."

Aber nur so lange, bis er dort von seinen Sehnsüchten und Träumen und unverwirklichten Plänen wieder aufgespürt wird. Die Dinger lassen sich glücklicherweise nicht so leicht abschütteln. Ich rauche nicht mehr. Ich warte weniger. Die matschfarbenen Krokostiefel werden im nächsten Jahr in meinem Kleiderschrank und der Traum vom Haus am Meer wird im nächsten Jahr in meinem Herzen keinen Platz mehr wegnehmen. Mag weder Kroko noch das Meer besonders. Weg damit. Was denn? Schon Mitternacht?

"Ob es besser wird, wenn es anders wird, weiß ich nicht, dass es aber anders werden muss, wenn es besser werden soll, weiß ich", sagte Georg Christoph Lichtenberg. "Wenn du das tust, was du immer getan hast, wirst du das bekommen, was du immer bekommen hast", sagt Sabine Asgodom. "Allen Veränderungen, selbst jenen, die wir ersehnt haben, haftet etwas Melancholisches an; denn wir lassen einen Teil von uns selbst zurück; wir müssen ein Leben sterben, ehe wir ein anderes beginnen können", sagte Anatole France. "Und jedem Ende wohnt ein Zauber inne", sagt Sascha Lobo. Dem ist wieder einmal nichts hinzuzufügen.

Na dann: Prost Neujahr! In diesem Jahr wirst du ein anderer Mensch sein.

Text: Ildikó von Kürthy

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