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Warum unser Leben mehr Mut braucht

Mutig sein: Frau auf Reisen
© Day2505 / Shutterstock
Will ich meiner Angst Glauben schenken, die mir das Heute stiehlt, indem sie mich das Morgen fürchten lehrt? Nein, sagt die Philosophin und Theologin Melanie Wolfers und plädiert für ein couragiertes Leben aus vollem, tiefem Herzen.

BRIGITTE: Wenn ich mich so umsehe, leben viele ihren Alltag so, wie er sich eben ergeben hat.
MELANIE WOLFERS: Leider. Nichts hinterlässt nämlich einen schaleren Nachgeschmack als der Eindruck: Ich bleibe Zuschauerin im eigenen Leben und lasse es an mir vorüberziehen.

Aber es muss ja nicht immer gleich schlecht sein ...
Es ist aber mutlos.

Die Hauptzutat für ein gutes Leben ist also Mut?

Ein anderes Wort für Mut ist Courage, das sich von "Cor", dem lateinischen Wort für Herz ableitet. Mut bedeutet also ursprünglich, aus vollem und tiefem Herzen leben.

Trau dich, es ist dein Leben - dein einmaliges, kostbares Leben. Und trau dir!

Ich denke, dass viele sehr genau wissen, dass sie faule Kompromisse eingehen und nicht aus tiefstem Herzen leben ...

...und das so hinnehmen?

Ja.
Aber es ist wirklich schon viel gewonnen, wenn ich um meine faulen Kompromisse weiß. Damit es aber nicht bei diesem Wissen bleibt, sondern daraus Tun wird und ich nicht länger Zuschauerin bleibe, helfen zwei Gedanken: Trau dich, es ist dein Leben - dein einmaliges, kostbares Leben. Und trau dir! Trau deinem Gefühl, dass dir sagt: Ich möchte mehr. Was ich aber nur bedingt als Appelle verstehe.

Aber es sind doch Appelle!
Jein. Ich denke, ein bloßer, von außen an uns herangetragener Appell, mutiger zu sein, verhallt wirkungslos. Das kennen wir doch von der Aufforderung: sei spontan! Oder: lach mal, dann fühlst du dich besser. Außerdem vermittelt ein Appell stets den Eindruck, dass man mit seinen Gefühlen nicht ernst genommen wird.

Sie haben eine große Entscheidung mutig getroffen: Sie lehrten Philosophie und spirituelle Theologie an der Uni, arbeiteten als Hochschulseelsorgerin - und traten dann in die Ordensgemeinschaft der Salvatorianerinnen ein.
Ich wusste: Wenn ich jetzt nicht auf mein Herz höre und aufbreche, wird mich in einigen Jahren die Frage quälen, ob ich nicht an einer besseren Möglichkeit meines Lebens vorbei lebe, einer Möglichkeit, die nun unwiderruflich vorbei ist. Ob ich nicht hinter dem zurückgeblieben bin, wofür ich stehen und wie ich leben will. Mit diesem nagenden Zweifel wollte ich nicht sein! Doch mutig leben meint mehr.

Aber mehr Mut geht doch gar nicht!
Natürlich war meine Entscheidung mutig. Aber der Mut, der uns die Tür zu unserem Leben öffnet, beginnt nicht erst bei einer so weitreichenden Lebensentscheidung. Mut beginnt nicht erst bei nobelpreisverdächtigen Großtaten. Sein eigentliches Revier ist der konkrete Alltag.

Sie meinen, wir denken Mut zu groß?
Ja, und das auf sehr unterschiedliche Weise. Ich berate und begleite Menschen, und eines Tages bat mich eine Abiturientin um ein Gespräch, ihre Berufswünsche schwankten, sie wusste nicht, für welches Studienfach sie sich entscheiden sollte.

Lassen Sie mich raten: Ihre Eltern drängten sie in eine Richtung.
Eben nicht! Die Eltern betonten immer wieder, dass sie machen könne, was sie wolle - Hauptsache, sie werde glücklich. Echte Vorzeigeeltern, dachte ich zuerst. Doch dann zeigte sich, dass genau hier das Problem lag: Der Zwang, glücklich werden zu müssen, blockierte sie. Es hört sich paradox an, trifft aber zu: Viele wären glücklicher, wenn sie auch einmal unglücklich sein dürften.

Das Wagnis-Revier ist der Alltag

Und manche wären mutiger, wenn sie Mut nicht so groß denken würden?

Es ist doch so: Ein Leben wird nicht dadurch ein Leben aus vollem und tiefem Herzen, weil man einmal an einer Weggabelung eine Entscheidung mutig getroffen hat. Man muss den Mut schon in den Alltag tragen, denn in vielen alltäglichen Begebenheiten brauchen wir Mut. Außerdem: Wenn wir Mut nur groß denken, was ist dann mit all jenen Lebenssituationen, die man – bei allem Mut, den man hat – kaum ändern kann oder auch ändern will?

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Als Mutter kann ich nur sehr bedingt aus meinem Leben aussteigen, als Alleinerziehende noch weniger. Manchmal ist es auch unser Körper, der uns Grenzen aufzeigt. Mut heißt also nicht: Ich schmeiße alles über den Haufen. So wie ein Leben aus vollem Herzen auch nicht meint: Ich bin permanent glücklich. Mutig sein bedeutet: Ich bringe mich selbst ins Spiel, und das jeden Tag aufs Neue.

Wie kann das aussehen?
Ein Beispiel: Wir können einen Konflikt mit unserem Partner ansprechen oder wir können schweigen. Ich möchte damit nicht sagen, dass Reden immer Gold ist. Ich möchte vielmehr den Blick auf alltägliche Situationen lenken, die wir alle kennen und erleben. Ich bin jeden Tag aufs Neue mit Momenten konfrontiert, in denen ich zu mir stehen kann. Mache ich das, werde ich nicht permanent glücklich sein, aber ich werde aus tiefem Herzen leben.

Anpassung entfremdet uns auch von anderen

Wie gelingt es mir, im Alltag zu mir zu stehen?
Ich begegne immer wieder vier Dingen, die den Mut in die Schranken weisen und uns ängstlich handeln lassen, ich nenne sie die vier Stolpersteine: Sicherheitsstreben, Anpassung, Scham und die Annahme, Verletzlichkeit sei Schwäche.


Warum blockiert Sicherheitsstreben unseren Mut?
Kennen Sie das Phänomen "Kopfkino", insbesondere auch in Momenten puren Glücks?

Ja, aber wenn ich ehrlich bin, sind die Filme meist unschön. Ich male mir dann Schlimmes aus.

Damit sind Sie nicht allein. Es ist die Angst vor der Verletzlichkeit, die dazu führt, dass wir unserem Glück nicht trauen. Wir fürchten, dass die Freude bald der Enttäuschung weichen wird. Also gehen wir auf Nummer sicher. Bei Sicherheit haben viele eine Schaukel vor Augen. Sie denken, je verwundbarer, desto unsicherer ...


... und je abgesicherter, desto weniger verwundbar.
Genau. Doch das Bild ist falsch. Wer sich nicht traut, das Gehäuse seines auf Sicherheit bedachten Ich zu verlassen, bleibt mit sich allein. Wer nicht verwundbar ist, ist auch nicht berührbar. Beim Sicherheitsstreben geht es also immer um die Frage: Will ich meiner Angst, die mir das Heute stiehlt, indem sie mich das Morgen fürchten lehrt, Glauben schenken? So verhindert eine dauerhaft aktivierte "Zentralverriegelung Angst" ein mutiges Leben. Sie schiebt nämlich allen tieferen Beziehungen einen Riegel vor. Es stimmt natürlich: Derjenige, der sich einen wehrhaften Panzer aus Stärke und Überlegenheit zulegt, kann zweifelsohne nicht mehr so leicht getroffen werden. Aber den kann auch nichts oder niemand mehr berühren. Und berührt werden macht das Leben aus.

Was meinen Sie mit dem zweiten Stolperstein, der Anpassung?
Für uns Menschen ist es von zentraler Bedeutung dazuzugehören. Wir nehmen Witterung auf: Was ist angesagt, wie werde ich Teil des Clans?

Und entfremden uns dabei von uns selbst.
Ja, aber nicht nur. Wir entfremden uns auch von den anderen. Wir sind kein Gegenüber mehr, sondern ein Spiegelbild, und verlieren so beides: die Verbundenheit zu uns und echte Verbundenheit zu unseren Mitmenschen. Ähnlich tickt übrigens die Scham, dieses Gefühl, das uns sagt: So wie ich bin, bin ich nicht okay. Viele denken ja, Scham sei ein Frauenthema oder beträfe nur Menschen mit Minderwertigkeitsgefühlen. Das stimmt nicht. Scham ist eine Grundkomponente des Menschseins und hat viele Gesichter. Scham kann uns auch aggressiv agieren lassen oder übertrieben selbstbewusst. Der Punkt ist aber stets: Sie hält uns davon ab, uns aufs Leben einzulassen.

Ich soll bewusst Momente riskieren, die mich beschämen?
Nein. Aber ich darf der Scham auf die Spur kommen: Warum habe ich sie in genau diesem Moment so heiß gespürt? Meist braucht es dafür ein Gegenüber. Wenn wir mit vertrauten Menschen über schamvolle Momente sprechen, verliert die Scham einen Teil ihrer Macht.

Bleibt noch die Annahme, Verletzlichkeit sei Schwäche. Das habe ich so noch gar nicht gesehen.

Ich plädiere absolut nicht dafür, sich naiv verletzbar zu machen. Aber das Idealbild ist: Mutige Menschen sind unverwundbar. Doch ungeachtet der Idealbilder und aller Strategien zur Unterdrückung der eigenen Verletzlichkeit gilt: Sie gehört zur Mitte unserer Existenz! Erst wer Verletzlichkeit als Teil seines Lebens anerkennt, wird mit verunsichernden und schmerzhaften Erfahrungen konstruktiv umgehen können. Perfektionismus ...

... dem viele Frauen nachjagen ...

...ist ein unbewusster Versuch, der eigenen Verletzlichkeit zu entkommen und sich unangreifbar zu machen. Dabei lässt sich die Angst vor dem Urteil anderer und vor der eigenen Unzulänglichkeit mit Perfektionismus nicht austreiben.

Was ist, in einem Satz, also Mut?
Mut ist, wenn anderes wichtiger wird als Angst. Wobei ich doch noch etwas nachschieben muss: In der Furcht, sich (falsch) zu entscheiden, greift eine fundamentale Angst nach uns - die vor Vergänglichkeit. Unsere Zeit ist begrenzt! Aber gerade deswegen sollten wir die Angst nicht zu vorlaut werden lassen - was sie wird, wenn sie uns um jeden Preis vor unserer Verwundbarkeit schützen will. Doch nur wenn wir uns berührbar machen, bringen wir uns selbst ins Spiel. Wir fliegen nicht länger unter dem Radarschirm. Sondern tauchen auf der Bildfläche des Lebens auf.

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Brigitte 22/2018

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