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Mut zur Stärke: Bestseller-Autorin Ildikó von Kürthy über ihre 131 Fehler

Mut zur Stärke: Ildikó von Kürthy
Keine Panik vor dem Auftritt? Ja, schön wärs!
© Frank Grimm
Seine Schwächen zu akzeptieren ist der neue Megatrend. Wir sollen sie lieben und das Beste aus ihnen machen. BRIGITTE-Autorin Ildikó von Kürthy ist da ganz anderer Meinung.

Ich versuche tief durchzuatmen, aber meine Lunge kommt mir vor wie zubetoniert. Mein Herz zerschlägt meinen Hals. Ich stehe auf der Bühne, und der Holzboden unter meinen Füßen schwankt wie eine schäbige Jolle im Taifun.

Im Halbdunkel sehe ich ein paar Menschen, die in den Kulissen letzte Handgriffe erledigen, bevor die Show beginnt. 

"Noch eine Minute. Beleuchtung im Saal dimmen", sagt jemand.

Ich stehe hinter dem Theatervorhang, der sich in 60 Sekunden öffnen wird. Ich berühre kurz den schweren, roten Stoff. Auf der anderen Seite sitzen die Zuschauer, die auf meinen Auftritt warten. Ihr vorfreudiges Gemurmel dringt zu mir wie Stimmen aus einer anderen Welt. 

Ich schiele nach dem Notausgang. Einen Moment lang denke ich, ich sei der einsamste Mensch der Welt. Aber ich bin nicht allein. Das bin ich nie. Meine Angst ist immer bei mir. Fast so lange ich denken kann. 

"Noch 30 Sekunden."

Ich schaue auf meine zitternden Hände herunter und frage mich, welcher Volltrottel eigentlich gesagt hat, wir müssten selbstbewusst zu unseren Schwächen stehen und das Beste aus ihnen machen, wo sie mir doch viel zu oft im Weg gestanden haben. 

Defizite werden seit einigen Jahren so selbstbewusst getragen wie kurze Röcke und bauchfreie Pullis. Man zeigt wieder Schwäche so wie Bein oder Dekolleté und darf lauthals rufen: "Ich will so bleiben, wie ich bin!" Und eine durchtherapierte Schar hauptsächlich weiblicher Verbündeter wird eindringlich zurückflüstern: "Du darfst." 

Warum müssen wir uns im 20. Jahrhundert eigentlich unbedingt so akzeptieren, wie wir sind? Nicht mal seine Schwächen und Fehler darf man mehr ungestört ablehnen. Ich habe viele Schwächen und jede einzelne von ihnen hätte ich lieber nicht. Rechtschreibung und Zeichensetzung gehören dazu sowie höhere, aber auch niedere Mathematik. Ich habe Lampenfieber und Klaustrophobie, Angst vor Dunkelheit, vor Höhe, Weite, Enge, vorm Fliegen, um meine beiden Kinder, vor Terror, dem Tod und vor fast allem anderen auch. Ich habe eine disziplinlose, ausgesprochen träge Grundstruktur und eine ausgeprägte Impulskontrollstörung, was die Einnahme von in Fett gebackenen Speisen oder Grauburgunder angeht. Und das soll nun alles nicht so schlimm sein? 

Die Schlachtrufe, die den Beginn dieses Jahrtausends beschallen, lauten: Schwach ist das neue Stark! Alt ist das neue Jung! Dick ist beautiful und 60 das neue 40. Ich kann es nicht mehr hören. 

"Noch 20 Sekunden."

Puls schätzungsweise bei 240. Das Gemurmel jenseits des Vorhanges versiegt. In der Stille pocht mein Herz bis in die letzte Reihe. Wisst ihr was!?, möchte ich rausschreien, geben wir es doch zu: Unsere Ängste, Schwächen, Defizite - sie tun weh! Die Zeichensetzungsfehler vielleicht weniger als die Phobie, das katastrophale Namensgedächtnis weniger als die panische Schüchternheit, der Hang zur Unordnung weniger als das Unvermögen, Ruhe zu bewahren, wenn’s drauf ankommt. 

"Nichts ist so produktiv wie Selbstunsicherheit", sagt der Schriftsteller Martin Walser.

Und auch wenn das super klingt, es ist leider einfach nicht wahr, dass aus jeder Schwäche mit entsprechendem Bemühen eine Stärke wird. Es stimmt höchstwahrscheinlich, dass genialische Leistungen durch die Kompensation von Leid entstehen und dass der große Künstler immer auch ein großer Zweifler an sich selbst ist. Aber das Konzept der Überkompensation ist kein empfehlenswertes Erfolgsmodell, denn umgekehrt ist kein Verlass darauf: Du wirst nicht automatisch irgendwann mal berühmt, bloß weil du auf dem Schulhof rot wirst, sobald dich jemand anspricht. Nicht in jedem schüchternen Menschen steckt ein gefeierter Burgschauspieler, nicht aus jedem Studienabbrecher wird der CEO von Apple, und nicht immer liegt im Humus der Kläglichkeit die Saat für eine prächtige Karriere verborgen. 

Viele Schwächen sind einfach nur das, was sie sind: lästig, blöd, nervig, manchmal auch schrecklich belastend oder dramatisch lebensverändernd. Sie sind Plagegeister oder Dämonen, sie sind Stolpersteine oder massive Hindernisse auf unserem Weg, und einige von ihnen zwingen uns zu großen Umwegen oder zum Umdrehen, weil wir sie nicht wegräumen, nicht bewältigen können. 

Ich fühle mich belästigt durch die ständigen Aufforderungen zum Schwächenmanagement und zur Persönlichkeitsoptimierung. Diese Ökonomisierung des Privaten gaukelt mir vor, es sei doch völlig in Ordnung, nicht perfekt zu sein und Schwächen zu haben - allerdings nur dann, wenn ich aus diesen Defiziten etwas mache, sie verwerte und gewinnbringend einsetze. Das schafft neuen Druck, nämlich den, im scheinbar toleranten kapitalistischen System trotz oder gar wegen meiner Schwächen Erfolg zu haben. Und was das Allerschlimmste an unserer steten Verherrlichung unserer Schwächen ist: Sie lenkt uns von unseren Stärken ab. 

Die Mehrheit der Menschen glaubt, dass sich gute Leistungen nur erzielen lassen, indem persönliche Defizite erkannt und behoben werden. Fast alle Eltern schenken der schlechtesten Note im Zeugnis ihres Kindes mehr Aufmerksamkeit als der besten. Aus diesem Grund hatte ich acht Jahre lang Nachhilfe in Mathe und Latein, während mein offensichtliches Talent in Sprachen lediglich dankbar hingenommen und nicht weiter gefördert wurde. Was für ein ungeheurer Energie­ und Kapitalverlust! 

Meine Eltern haben über die Jahre ein kleines Vermögen in meine Schwächen investiert, mir damit einiges an Lebenszeit vergällt, mich jedoch immerhin zu einem leidlich guten Notendurchschnitt bugsiert. Aber was sagt dieser verdammte Durchschnitt über mich aus? Über meine Talente, über meine Sehnsüchte und über das, was mich einzigartig macht? Nichts! 

"Der Durchschnitt wird niemals besondere Leistungen erbringen. Er ist nicht innovativ. Er ist hilflos und führt in eine evolutionäre Sackgasse", sagt der österreichische Genetiker Markus Hengstschläger. "Wir wussten noch nie weniger über die Zukunft. Niemand weiß heute schon, welche Fähigkeiten wir eines Tages zur Lösung von Problemen brauchen werden, die wir noch gar nicht haben. Individualität ist unser Kapital. Möglichst viele verschiedene im System zu haben, sichert seit jeher das Überleben. Ein Fußballteam, das nur aus Mittelstürmern besteht, hat ja auch keine Aussicht auf Erfolg." 

Es ist nicht der Mut zur Schwäche, der uns fehlt. Es ist der Mut zur Stärke. 

"Noch zehn Sekunden."

Da draußen, auf der anderen Seite des Vorhangs, sitzen an diesem Abend mehrere Hundert Menschen. Ich darf mich als beruflich erfolgreich bezeichnen, auch wenn ich mich in diesen letzten zehn Sekunden vor meinem Auftritt elend fühle und gebeutelt von meinen Ängsten, die mich so unerfreulich treu begleiten. Abschütteln konnte ich sie nicht, ich habe mich mit ihnen irgendwie arrangiert, ihnen oft genug nachgegeben und versucht, das zu verändern, was veränderbar ist, und mich ansonsten auf das zu konzentrieren, was ich ohne Nachhilfe gut kann. 

Manchmal höre ich mich Sätze sagen wie: "Meine Angst hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Ich wäre ohne meine Schwächen nicht da, wo ich stehe."

Was für eine Binsenweisheit! Und kokett noch dazu. Niemand wäre ohne seine Schwächen da, wo er ist. Aber wer weiß, wo er überall sein könnte, wenn er seine Stärken gestärkt hätte und Antworten gesucht hätte auf die Frage: Woran möchtest du nichts ändern? 

"Noch fünf Sekunden. Musik und Bühnenlicht an."

"Hast du Angst?", fragt ein Techniker. Ich nicke. 

"Das ist gut. Das ist sehr gut." 

"Warum?", flüstere ich. Im Zuschauerraum ist es still geworden. Er antwortet: "Würdest du jetzt lieber zu Hause auf dem Sofa sitzen? Darum geht es doch: sich im Leben lebendig zu fühlen." Ich freue mich schon jetzt auf mein Sofa und atme tief durch. 

Der Vorhang öffnet sich.

ERLEBT ILDIKÓ VON KÜRTHY LIVE: AM 27. SEPTEMBER BEIM GROSSEN BRIGITTE-TAG!

Wir freuen uns sehr, dass sie (trotz Lampenfieber!) zugesagt hat: Bestsellerautorin Ildikó von Kürthy gehört zu den Podiumsgästen beim großen BRIGITTE-Symposium "Mein Leben, mein Job und ich" im Colosseum Theater in Essen. Lasst euch inspirieren vom Philosophen Richard David Precht, der sich mit den Chancen unserer digitalen Zukunft und neuen Lebensmodellen beschäftigt. Trefft Rhetorik-Trainerin Isabel Garcia, Unternehmerin Tijen Onaran ("Global Digital Women"), BRIGITTE-Finanzexpertin Helma Sick, Moderatorin Lisa Ortgies, BRIGITTE-Psychologe Oskar Holzberg - und viele weitere Coaches, Job-Expertinnen, Gründerinnen sowie Rednerinnen der Amazon Academy. 

Wann: Donnerstag, 27. September 2018, 9 Uhr 

Wo: im Colosseum Theater, Altendorfer Str. 1, 45127 Essen 

Eintritt: 199 Euro für Abonnentinnen, 249 Euro Early-Bird (Ticketkauf bis 31.5.2018), 299 Euro regulär. 

Mehr Infos und Anmeldung: www.brigitte.de/academy

Brigitte 09/2018

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