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Meinung äußern: Wie man zu seiner Meinung stehen kann

Meinung äußern: Facebook Symbol und Likes
© TY Lim / Shutterstock
Tabus begleiten uns seit Jahrtausenden. Aber wie fühlt es sich an, ein Tabu zu leben? In unserer Serie "Ich bin ein Tabu" erzählen sechs Menschen ihre Geschichte. Wie hält man es aus, für unpopuläre Meinungen im Netz angefeindet zu werden? Anja Haegele steht dazu – auch wenn sich gerade jetzt in Corona-Zeiten der Ton noch mal ganz schön verschärft.

Vor geraumer Zeit schrieb ich auf Facebook einen Post, in dem ich erzählte, dass ich immer wieder aus meinem Küchenfenster im zweiten Stock Menschen dabei beobachte, die ihren Hund in unseren Vorgarten machen lassen, sich umsehen, ob jemand zusieht, und dann schnell und möglichst unauffällig das Weite suchen. Ich habe zornig kommentiert, was ich davon halte (nicht viel) und hoffte auf Zuspruch von meinen Freunden. Weit gefehlt. Nur ein paar wenige regten sich mit mir auf. Viele andere sagten aber, ich müsse doch auch Verständnis für die Hundehalter haben, schließlich würde niemand gern über ein Mäuerchen in einen fremden Vorgarten steigen und überhaupt – ich solle doch eine Tüte nehmen und die Kacke einfach wegräumen, statt mich so lange aufzuregen.

Dann kam die Corona-Krise.

Alle öffentlichen Einrichtungen, Restaurants und Schulen waren bereits geschlossen, alle Veranstaltungen waren abgesagt, alle Kontakte auf ein Minimum reduziert, es stand nun die Frage einer totalen Ausgangssperre im Raum – und viele Leute, die sich selbst als Demokraten bezeichnen, forderten sie auch ein. Ich war entsetzt. Darüber, dass weder über die wirtschaftlichen Folgen des Shutdowns noch über den Entzug bürgerlicher Rechte,für die Menschen jahrhundertelang gekämpft haben, diskutiert wurde, geschweige denn über die Verhältnismäßigkeit all dieser Einschränkungen im Namen des Infektionsschutzes. Ich schrieb auch dies auf Facebook und verlinkte zu entsprechenden Essays und Kommentaren.

Meine Meinung war zu diesem Zeitpunkt nicht sehr populär.

Um es kurz zu machen: Meine Meinung war zu diesem Zeitpunkt nicht sehr populär. Ich sei herzlos, neoliberal, egoistisch, "exponenzielle Kurve – hast du immer noch nicht begriffen, oder?", wie könne ich so was sagen. Und ja, es hat mich teilweise schon gekränkt und aufgeregt, was an Kommentaren kam. Mein Mann sagte: "Lass es einfach, spar dir die Kraft." Deshalb habe ich zwischendurch ein paar Tage ganz auf soziale Medien verzichtet. Es hat mir gutgetan. Trotzdem habe ich dann doch wieder etwas dazu geschrieben. Es ist nicht so, dass ich auf Krawall aus bin oder mich gern streite. Ich weiß natürlich auch, dass Facebook nicht das ideale Medium für sachliche Auseinandersetzungen ist.

Andererseits denke ich: Wenn man eine Meinung hat, sollte man auch den Mut haben, den Rücken dafür gerade zu machen und öffentlich dazu zu stehen, anstatt sie für sich zu behalten, nur weil es bequemer ist. Das versuche ich auch meinen Kindern beizubringen: "Wenn euch etwas stört, müsst ihr es sagen. Und im Zweifel laut!"

Ich denke, in einer demokratischen Gesellschaft ist es wichtig, verschiedene Standpunkte abzubilden.

Wenn ich mich in den sozialen Medien äußere, geht es mir aber gar nicht so sehr darum, Freunde zu überzeugen, die ganz anders denken. Es geht mir vor allem darum, herauszufinden, wer ähnlich denkt wie ich – um Netzwerke zu knüpfen. Und der schweigenden Mehrheit zu zeigen, dass es in Ordnung ist, eine abweichende Meinung zu haben und dazu zu stehen. Ich denke, in einer demokratischen Gesellschaft ist es wichtig, verschiedene Standpunkte abzubilden. Wenn daraus eine meinetwegen auch lebhafte Diskussion erwächst, bin ich froh. Wahrscheinlich kann ich so denken, weil es mir noch nie besonders wichtig war, von vielen gemocht zu werden. Zumindest nicht um den Preis meiner Meinung. Doch natürlich gibt es auch dabei Grenzen. Mein Sohn, mit dem ich viel über meine kritische Einstellung gegenüber dem Corona-Shutdown gesprochen hatte, hat diese Argumente stark verkürzt gegenüber seinen elfjährigen Freunden wiedergegeben. Die waren von ihren Eltern anders instruiert und geschockt. Ich habe ihm geraten, das bleiben zu lassen – weil ich fürchte, dass er die Folgen einer kontroversen Meinung in diesem Fall weder einschätzen noch aushalten kann.

Denn natürlich haben meine starken Meinungen mich (nicht nur auf Facebook) immer wieder Beziehungen gekostet. Und ich selbst habe zu Beginn der Krise eine Frau auf Facebook entfreundet, die ich im wahren Leben eigentlich sehr mag. Aber ihre Beiträge zu Corona fand ich so angstpanisch und falsch, sie haben mich so aufgeregt – das konnte ich nicht mehr lesen! Da musste ich auch mal an meinen Blutdruck denken.

Anja Haegele, 48, ist BRIGITTE-Redakteurin und bei uns vor allem für die Reisethemen zuständig.

Weitere Hintergründe und Informationen findest du im Interview mit Tabu-Expertin Dr. Sabine Krajewski.

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BRIGITTE 11/2020

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