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Psychologie Warum manche Menschen Macht missbrauchen – und andere nicht

Psychologie: Warum manche Menschen Macht missbrauchen – und andere nicht
© eyetronic / Adobe Stock
Die meisten Menschen können auf Anhieb Fälle nennen, in denen eine Person ihre Machtposition missbraucht hat. Woran liegt das? Und wieso gehen manche verantwortungsvoller mit Macht um als andere? Wir haben darüber mit Expert:innen gesprochen.

Menschen können wunderbare Dinge vollbringen, wenn sie miteinander kooperieren: Kinder großziehen, lebensbedrohliche Jahreszeiten überleben, komplexe Sprachsysteme entwickeln, Straßen bauen, Arbeitsgemeinschaften bilden, in denen alle Urlaub nehmen und sich bei einer Krankheit auskurieren können. Zusammenzuwirken und einander zu unterstützen zahlt sich in sehr vielen Fällen aus, deshalb ist es für uns grundsätzlich ein naheliegendes Verhalten.

Allerdings ist das Interesse an einer Kooperation mit den Artgenossen offensichtlich nicht die einzige Kraft, die Menschen in ihrem Miteinander beeinflusst. Wir erleben und kennen aus der Geschichte mehr als genug Beispiele, in denen sich Personen(gruppen) gegenseitig bekämpft, unterdrückt und missbraucht haben. Neben Kriegsführung, Missionierung oder Gewaltverbrechen ist ein unkooperatives Verhaltensmuster, das insbesondere in den vergangenen Jahren immer wieder Aufmerksamkeit erregt hat, der sogenannte Machtmissbrauch: Eine Person nutzt in ihrer Machtposition andere Menschen zu deren Nachteil oder Schaden aus. 

Nachdem im Zuge der MeToo-Bewegung zahlreiche Fälle von Machtmissbrauch an die Öffentlichkeit gelangten, lassen sich die wohl prominentesten deutschen Beispiele aus diesem Jahr auf zwei Namen herunterbrechen: Julian Reichelt und Till Lindemann. Beide Männer sollen ihre Macht dazu gebraucht haben, sexuelle Verhältnisse mit Frauen zu forcieren. Allerdings sind dies lediglich die prominentesten Beispiele für ein verbreitetes Phänomen. Ob in Job, Schule, Glaubensgemeinschaft, Partnerschaft oder Familie, im Alltag können wir Machtmissbrauch in allen möglichen Beziehungen und Größenordnungen beobachten.

Das wiederum wirft Fragen auf: Wieso gehen einige Menschen verantwortungsvoll mit Macht um, andere aber nicht? Welche Voraussetzungen fördern Machtmissbrauch? Kann Macht den Charakter einer Person verändern? Was wäre ein angemessener Umgang mit Macht und was ist dazu nötig, ihn zu fördern oder gar sicherzustellen? Wir haben darüber mit dem Psychiater Professor Doktor Borwin Bandelow und mit der Sozialphilosophin Isette Schuhmacher gesprochen.

Was ist eigentlich Macht?

"In der Philosophie unterscheiden wir begrifflich mindestens drei Verständnisse von Macht, 'power to', 'power over' und 'power with'", sagt Isette Schuhmacher, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Social Critique der Humboldt-Universität in Berlin. 'Power to' bezeichne, kurz gefasst, die Fähigkeit, etwas zu tun, die Macht also, die wir als Individuum über unser eigenes Leben haben. 'Power with' meint die kollektive Handlungsfähigkeit, die wir durch Kooperation und den Zusammenschluss mit anderen Menschen erlangen. Und bei 'power over' geht es um die Dimension, über die wir meist sprechen, wenn wir über Machtmissbrauch reden: Um die Macht, die ein Mensch über andere hat. Macht bedeutet dann die Durchsetzung eines Willens gegen einen anderen.

Genauso wenig wie 'power to' und 'power with' ist die letztgenannte Form von Macht eine moderne, zivilisatorische Erfindung, sondern etwas, das in menschlichen Gemeinschaften natürlich entsteht: Eltern haben Macht über ihre Kinder, der Jäger, der das Wildschwein erbeutet hat, über den, der hungrig ist (und über das Wildschwein sowieso), eine von mehreren Individuen begehrte Person über die Begehrenden. Gewisse Eigenschaften wie Schnelligkeit, körperliche Kraft, Wissen oder Intelligenz, Besitz, Beliebtheit können – bei ungleicher Verteilung – bestimmte Menschen auf natürliche Weise in eine Machtposition gegenüber anderen versetzen.

Machtverteilung in der Gesellschaft: Ein altbewährtes Modell mit zum Teil neuen Regeln

In der Organisation von Gemeinschaften haben die Konzentration von Macht und die Zuweisung von Herrschaft an eine oder wenige Personen eine Tradition, die der Erfindung der Zehn Gebote und des lateinischen Alphabets lange vorausgeht: "In menschlichen sozialen Strukturen gab es immer Häuptlinge, Anführer, Chefs", sagt Borwin Bandelow. "Das Gleiche gilt übrigens für das Tierreich: Bei Affen erkennen wir auf Anhieb, wer der Oberaffe ist, Wölfe haben einen Rudelsführer. Die Gemeinschaften, in der sich die Mehrheit einem oder wenigen Anführern unterworfen hat, haben sich offenbar durchgesetzt und hatten einen Überlebensvorteil gegenüber solchen, in denen die Individuen anarchistisch nebeneinanderherlebten."

Von den Machtverhältnissen, die in unserer Gesellschaft existieren, beruhen viele mittlerweile nicht (nur) auf individuellen Fähigkeiten, situativen Voraussetzungen oder Überlebensnotwendigkeit, sondern unterliegen vielfältigeren Einflüssen und Gesetzen: Traditionen, Normen, historischen Ereignissen und Entwicklungen, Entscheidungen. "Wir leben nach bestimmten Werten und Regeln, folgen Verhaltensmustern und Konventionen und daraus entstehen bestimmte Subjekte mit bestimmten Identitäten", so Isette Schuhmacher. Vorgesetzte, Angestellte, Kund:innen, Regierende – wir leben mit Vorstellungen von Rollen, die gesellschaftlich geprägt sind. Das führt dazu, dass wir sie nicht völlig frei, spontan und unvoreingenommen erfüllen oder Menschen begegnen, die sie erfüllen, sondern mit gewissen Erwartungen und Ideen. Zum Beispiel würden die meisten Personen eher ihren gleichgestellten Kolleg:innen widersprechen als ihren Vorgesetzten, selbst wenn Erstere kompetenter sind als Letztere. Beim Gespräch mit einer:m Bundeskanzler:in wären viele womöglich nervöser als beim Plausch mit einem Unbekannten an der Bushaltestelle.
 

Davon abgesehen existieren in unserer Gesellschaft Gefälle und eine Ungleichverteilung von Macht aufgrund einer strukturellen Benachteiligung bestimmter Personengruppen – zum Beispiel von Frauen. Beides kann dazu führen, dass ursprüngliche, einfache oder individuelle Dynamiken, die Machtverhältnisse regulieren können, in manchen Kontexten nicht oder weniger stark greifen. Und dass einige Menschen aufgrund von Konventionen und sozialer Privilegien in Machtpositionen gelangen, nicht, weil sie dazu besonders befähigt oder geeignet sind.

Was macht Macht für Menschen interessant und attraktiv?

Hat eine Person einmal Macht im Sinne der "power over"-Bedeutung, ist es geradezu natürlich, dass sie versucht, sie zu verteidigen oder sogar zu vergrößern: Macht verleiht uns Kontrolle, Kontrolle bedeutet Sicherheit und auf die fahren wir als Menschen und Lebewesen bekanntermaßen hochgradig ab. Außerdem tendieren wir dazu, etwas, das wir besitzen oder worüber wir verfügen, behalten zu wollen – und da Macht in unserem System in den meisten Fällen mit finanziellem Reichtum einhergeht, ist dies ein doppeltes Motiv, aus dem Individuen nach Machtausbau oder Machterhalt streben. 

In unserem Gehirn bringt die Ausübung von Macht etwa den gleichen Belohnungseffekt mit sich, den wir erfahren, wenn wir Schokolade essen, einen schönen Sonnenuntergang anschauen, Lob bekommen oder bestimmte Drogen nehmen. "Es kommt zu einer Ausschüttung von Endorphinen, die an unsere Opiatrezeptoren andocken, was dazu führt, dass wir uns gut fühlen", sagt Borwin Bandelow. Einige Personen erleben diesen Effekt besonders stark im Zusammenhang mit Macht, andere mit Lob, wieder andere mit Sonnenuntergängen. Manchen macht er Angst – und andere macht er süchtig.

"Bei Menschen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung stellen wir häufiger fest, dass sie Probleme mit ihrem Endorphinsystem haben", sagt der Psychiater. "Sie können es dann als sehr wichtig empfinden, Macht auszuüben, um sich eine Befriedigung zu verschaffen und um ihr unersättliches Endorphinsystem zu bedienen." Borwin Bandelow zufolge sei es nicht ungewöhnlich, dass diese Menschen generell anfälliger für Süchte seien als andere. Insofern bietet Macht nicht nur einen Reiz, da sie mit Kontrolle und häufig Reichtum einhergeht, sondern sogar Suchtpotenzial. Aus diesem Potenzial allein kann zwar bei verschiedensten Menschen aus unterschiedlichen Gründen eine tatsächliche Sucht entstehen – bei Personen mit einem pathologischen Mangel an Empathie und/ oder Selbstdisziplin ist es allerdings besonders wahrscheinlich. 

Das Gegenteil von Machtmissbrauch: Was können wir eigentlich erwarten?

Während eine Ausübung von Macht, im Zuge derer Menschen zu Schaden kommen und unterdrückt werden, das ist, was wir als ungesund und als Machtmissbrauch bezeichnen, ist das Gegenstück dazu – eine gesunde Machtausübung – auf Kooperation, gegenseitige Unterstützung und daraus resultierend gemeinsame Erfolge ausgerichtet. "Ein konstruktiver Umgang mit Macht könnte etwa darin bestehen, einen anderen Menschen zu empowern, ihn also beispielsweise in der Entfaltung seiner Fähigkeiten oder allgemein in seinem 'power to' zu fördern. Das beinhaltet aber auch, strukturelle Machtasymmetrien und Hierarchien abzubauen", sagt Isette Schuhmacher. Dazu in der Lage sind wiederum eher Personen, die sich selbst (in ihrer Position) sicher und geborgen fühlen, die sich in ihre Mitmenschen hineinversetzen können und die ein bewusstes oder unbewusstes Verständnis für die Bedeutung der "power with"-Dimension haben. Menschen hingegen, die sich bedroht und unsicher fühlen, nicht empathisch sind und ihre persönlichen Interessen als unabhängig von ihrem Sozialgefüge betrachten, wird ein solcher Umgang ferner sein. 

Einen wünschenswerten Umgang mit Macht fördern einerseits der natürliche Lauf der Dinge sowie unser ursprüngliches Interesse als Lebewesen, unser eigenes Leben und unsere Art zu erhalten: Würden wir mehrheitlich unsere Macht missbrauchen, den kategorischen Imperativ missachten, uns gegen bestehende soziale Strukturen auflehnen und unkooperativ und rücksichtslos Endorphin-Kicks nachjagen, wäre die Menschheit vermutlich gefährdeter als alle anderen Tierarten.

Andererseits könnten wir sowohl als zivilisierte Gesellschaft als auch als halbwegs vernunftbegabte Individuen Maßnahmen ergreifen, die Machtmissbrauch erschweren und einen konstruktiven Machtgebrauch begünstigen und honorieren: Kritischer und vorsichtiger gegenüber Rollenbildern sein zum Beispiel. Besitz, Reichtum und Macht stärker voneinander trennen oder weniger direkt und selbstverständlich aneinander koppeln. Wir können uns mehr auf die in der Diskussion oft vernachlässigten Dimensionen von Macht, "power to" und "power with" konzentrieren. Wir können Hierarchien abbauen, wo sie nicht unbedingt nötig sind.

Es wird wahrscheinlich niemals geschehen, dass alle, alle, alle, alle Menschen an einem Strang ziehen und keine Person durch eine andere Schaden nimmt oder Leid erfährt. Doch je mehr wir uns über die Schwachstellen und Problemfälle unserer Gesellschaft austauschen und darüber in Erfahrung bringen, umso besser können wir daraus lernen und uns weiterentwickeln. Als Menschen können wir wunderbare Dinge vollbringen, wenn wir miteinander kooperieren. Personen(gruppen) in ihre Schranken weisen, die mehr Macht haben, als ihnen zusteht, und die damit nicht angemessen umgehen. Zum Beispiel. 

Isette Schuhmacher ist als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Social Critique am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Schwerpunkte ihrer Forschung sind unter anderem Sozialphilosophie, Politische Philosophie, Gesellschaftstheorie sowie Geschichtsphilosophie. Zurzeit arbeitet die Wissenschaftlerin an ihrer Dissertation "Krisengesellschaft", einem sozialphilosophischen Konzept multipler Krisen.

Professor Doktor Borwin Bandelow ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Der Mediziner, Wissenschaftler und Autor ist besonders für seine Expertise und Beiträge im Bereich der Angstforschung bekannt. Dass er sich darüber hinaus mit einem breiten Spektrum psychologischer Themenfelder befasst und auskennt, belegen zahlreiche Veröffentlichungen wie "Wer hat Angst vorm bösen Mann? Warum uns Täter faszinieren", "Celebrities. Vom schwierigen Glück, berühmt zu sein" und "Das Buch für Schüchterne. Wege aus der Selbstblockade" (alle im Rowohlt-Verlag erschienen). In seinem neuesten Werk "Das Endorphin-Prinzip. Wie Glück im Gehirn entsteht" stellt der Psychiater eindrucksvoll dar, was hinter dem menschlichen Glücksbestreben steckt, inwieweit es unser Leben beeinflusst – und was das Interesse an Macht damit zu tun hat. 

Brigitte

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