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Lügen: Wie viel Wahrheit braucht der Mensch?

Lügen: Lachende Frau mit Finger am Mund
© File404/Shutterstock
Wir haben uns so sehr ans Flunkern, Schmeicheln, Schönfärben gewöhnt, dass wir unsere eigenen Lügen gar nicht als solche empfinden. Manche Unwahrheiten sind aber auch gefährlich. Ein Essay über die Gratwanderung zwischen falsch und richtig.

"Weißt du denn noch immer nicht, dass er nicht dein richtiger Vater ist?" Dieser Satz könnte ein Drama auslösen. Meine Großmutter hatte ihn fallen lassen, als ich vierzehn war. Doch der Schock blieb aus. Ich habe mich nur gewundert: Woher sollte ich das wissen? War es überhaupt wichtig? Verschwommene Bilder tauchten auf. Da war ein Mann zu Besuch gewesen, als ich gerade Laufen und Mamasagen gelernt hatte. Das Bilderbuch, das er damals mitbrachte, stand immer noch in meinem Regal. Hatten sie gedacht, dem Kleinkind sei klar, wer der nette Onkel ist? Hätte ich fragen müssen? Wozu? Ich hatte einen Papa, der mich Huckepack durch Berlin trug, der mir Steinpilze im Wald zeigte, der wunderbar kochen konnte, den ich alles fragen durfte. Ich dachte trotzig: Wer mein Vater ist, das bestimme immer noch ich!

Wahrheit. Sie hat es nicht leicht mit uns, und wir nicht mit ihr. Wir ehren sie - theoretisch. Doch sie passt oft nicht so recht ins Leben. Der Aufklärer Immanuel Kant verlangte zwar kategorisch von jedermann: niemals lügen! Selbst wenn man mit einer Lüge einen unschuldig Verfolgten retten könnte, meinte er, dürfe man das nicht tun. Aber dieser unbedingte Drang nach Wahrheit ist wenig alltagstauglich - und pure Ehrlichkeit nicht immer hilfreich. Fragt man allerdings Menschen, was sie sich von ihrem Partner wünschen, steht Ehrlichkeit stets ganz oben auf der Liste. Offenbar machen sich die wenigsten klar, dass sie die Wahrheit gar nicht immer aushalten würden. Sie wollen ganz andere Dinge hören. Zum Beispiel: "Für mich bist du noch immer so jung wie am ersten Tag." "Du warst die Schönste heute Abend." "Die neue Frisur steht dir fantastisch." Und nach dem Sex die berühmte Frage "Woran denkst du?", sollte auch nur selten wahrheitsgemäß beantwortet werden. Jedenfalls nicht, wenn die Antwort "Homebanking" ist, wie der Liedermacher Funny van Dannen spottet. Wer niemanden verletzen will, ist vorsichtig mit den Wahrheiten. Manche Lügen sind wie kleine Geschenke - und Ehrlichkeit ist ein unerreichtes Ideal. Vielleicht schätzen wir sie deswegen so hoch wie Frieden, wie ewige Leidenschaft und andere Raritäten.

Lügner müssen klug sein

Statt unerschrockener Ehrlichkeit kommen täglich Lügen über unsere Lippen. Wenn man Forschern glauben darf, bis zu 200-mal am Tag. Da ist aber auch ein "Danke, sehr gut" mitgezählt, wenn die Kollegin fragt: "Wie geht’s?" Und die ehrliche Antwort lauten müsste: "Geht so." Ein bisschen was weglassen, ein bisschen mogeln, weil es besser klingt - das ist völlig normal. Nur knapp die Hälfte unserer Alltagsäußerungen sind wahr, schätzt der Heidelberger Lügenforscher Klaus Fiedler. Wir haben uns so ans Flunkern, Schmeicheln, Schönfärben gewöhnt, dass wir unsere eigenen Lügen gar nicht als solche empfinden. Deswegen glauben viele von sich, sie seien immer ehrlich. Weil sie bei der Steuer nicht betrügen, keinen falschen Doktortitel tragen, nicht stehlen und nicht fremdgehen. 

Professor Robert Feldmann von der University of Massachusetts ist seit Jahrzehnten der Psychologie des Lügens auf der Spur. Er bestätigt den Nutzen der Lügen: "Die Menschen wollen oftmals die Wahrheit nicht hören, sondern etwas, womit sie sich gut fühlen." Lügen seien das Gleitmittel der Kommunikation - deswegen lügen sozial geschickte Menschen häufiger und wirken sympathischer. 

In Versuchen brachten Feldmann und sein Team Menschen zusammen, die sich miteinander bekannt machen sollten. Filmaufnahmen zeigen: In zehn Minuten Gespräch logen sie im Schnitt dreimal. Mit den Aufnahmen konfrontiert, waren die Probanden selbst überrascht, die Unwahrheiten waren ihnen einfach so rausgerutscht.

"Tante Ingrid, hast du aber schönen Kitsch in deiner Wohnung!" Mit dieser Wahrheit bin ich einmal schwer angeeckt. Ich war vier und wusste gar nicht, was Kitsch ist, aber das Wort hatte ich aus dem Mund meiner Mutter in Bezug auf diese Nachbarin aufgeschnappt. Nachdem Tante Ingrid mich wütend bei meiner Mutter abgeliefert und mich "vorlaute Göre" genannt hatte, wurde mir erstmals im Leben klar: Die Wahrheit ist nicht immer richtig.

Etwa ab vier, sagen Experten, lernen Kinder lügen. Lügen ist anstrengend und man braucht dafür einen scharfen Verstand. "Die Lüge war der Wetzstein, an dem sich unsere Intelligenz schärfte", erklärt Volker Sommer, Professor für Evolutionäre Anthropologie. Der Lügner muss die Wahrheit schließlich kennen, um seine Lüge dagegensetzen zu können. Er muss sich seine Lügen merken, sie müssen plausibel klingen, er muss verhindern, dass er auffliegt.

Kinder lernen das erst allmählich. Von Eltern, die verlangen, dass sie nett zum verhassten Onkel sind, dass sie sich für ein doofes Geschenk bedanken und sowieso für sich behalten, was zu Hause geredet wird. Kinder kapieren: Du sollst im Prinzip ehrlich sein, nur eben nicht immer. Mark Twain sagt es ironisch: "Die Wahrheit ist das Kostbarste, was wir haben. Gehen wir sparsam damit um!" Wir lernen den kreativen Umgang mit der Wahrheit.

Manche Wahrheit wird zum Verrat oder zur Mutprobe. Als der Lehrer uns fragte, wer zu Hause Westfernsehen sieht, habe ich mich gemeldet - als Einzige. Ich hatte Lust zu provozieren. Die übliche Katzbuckelei ging mir auf die Nerven. Mein Mut wurde nicht bestraft. Das war ein guter Lehrer. Von ihm konnte ich einiges lernen.

Im Studium log ich aus Prinzip. Dem Drill an der Uni durfte man sich nicht beugen, fand ich. Ich unterschrieb zum Beispiel Anwesenheitslisten und verschwand auf der Toilette, bis die Hörsaaltüren sich schlossen, um mich dann flugs ins Kaffeehaus abzusetzen. Für dieses "Verbrechen" wurde ich allerdings von Mitstudenten verpetzt, was sehr unangenehm war. Jeder hält eben andere Dinge für wahr und ehrlich.

Am häufigsten lügen die 13- bis 17-Jährigen. Teenager haben naturgemäß viele Geheimnisse vor Erwachsenen. Im Alter werden die Menschen wieder ehrlicher. Sie müssen sich nicht mehr so dringend rechtfertigen oder aufwerten. Aber immerhin lügen 44 Prozent der 60- bis 77-Jährigen bis zu fünfmal am Tag.

Es gibt viele Gründe zu lügen. Die meisten davon sind gar nicht so unehrenhaft. Vier große Motive haben Wissenschaftler zusammengefasst: Wir lügen erstens, um uns selbst zu schützen. Zweitens, um andere zu beeindrucken; drittens, um uns einen Vorteil zu verschaffen, und viertens aus unklaren Motiven - solchen, die wir selbst nicht kennen. Nur vier Prozent der Lügen werden der puren Bosheit zugeordnet, dem Wunsch, andere zu verletzen. Immerhin sieben Prozent dienen sozialen und altruistischen Zwecken und fünf Prozent sollen andere zum Lachen bringen. Übrigens lügen Männer eher, um sich selbst im besten Licht darzustellen. Und Frauen lügen öfter, um Nähe und Verbundenheit herzustellen. Nicht verwunderlich. Männer müssen sich immer noch durchboxen, Frauen wollen weithin beliebt sein.

WARUM WIR LÜGEN:

  • 22% wollen einen Fehler oder ein Vergehen vertuschen*
  • 16% versuchen, finanziellen Nutzen daraus zu ziehen
  • 15% möchten einen persönlichen Vorteil daraus ziehen (ohne finanziellen Nutzen)
  • 14% wollen anderen dadurch entkommen oder ausweichen
  • 8% wollen ein positives Image von sich selbst vermitteln
  • 5% lügen aus Bosheit, um andere zu verletzen
  • 4% wollen anderen dadurch helfen

* Quellen für alle Prozentzahlen: Timothy R. Levine, Journal of Intercultural Research, 2016; Evelyne Debey, Acta Psychologica, 2015; Kim Serota, Oakland University

Smalltalk ist nur Geflunker

Lügen helfen in fast jeder Lebenslage. Die Wahrheit steht dagegen oft quer im Weg. "Ist die aber alt geworden", denkt man vielleicht über eine Bekannte, die man nach Jahren wiedersieht. Das laut auszusprechen wäre jedoch gemein oder blöd, man sagt: "Gut sehen Sie aus!" Und bekommt als Antwort: "Sie aber auch!" 

Small Talk - ohnehin ein einziges Geflunker. Da trifft Kunstliebhaber auf Cineast, Marathonläuferin auf glücklichen Single, und alle sind wahnsinnig stolz auf ihre Kinder. Keiner hat genug Zeit, um allen spannenden Hobbys nachzugehen und alle großartigen Freunde zu treffen. Ich habe jedenfalls noch nie eine Frau neu kennengelernt, die einsam ist, Geldsorgen hat, sich nicht fürs Theater interessiert und andauernd Stress mit den Kindern hat. Wie gut, dass solche Menschen sich nicht scharenweise outen. Denn was sollte man dazu auch sagen? "Oh, das tut mir leid, Sie armes Etwas?" So viel Wahrheit braucht keiner.

Für solche Wahrheiten sind Freundschaften da. Da ist es schädlich, wenn man sich als sorgloser Sonnenschein gibt, während die Seele gerade im Keller herumstolpert. Nahe Menschen haben mehr Wahrheit verdient und können sie meist auch vertragen. Lügen im engsten Binnenbereich sind daher brisanter. Aber auch bestimmte Wahrheiten sind für unsere Nächsten gefährlich.

Paartherapeuten raten zum Beispiel dringend davon ab, einen unbedeutenden Seitensprung zu beichten. Nur um der hohen Tugend Ehrlichkeit willen muss man den anderen nicht verletzen. Das schlechte Gewissen ist der Preis fürs kurze Vergnügen. Eine Langzeitaffäre hingegen gehört auf den Tisch. Denn es sind die trickreichen Lügen und Vertuschungsaktionen, die später mehr schmerzen als die Untreue selbst.

Es ist schwer bis unmöglich, Lügen zu erkennen - besonders die extra dreisten. Kein Lügendetektor hilft zuverlässig. Und unsere Intuition ist dem Schwindel gegenüber völlig wehrlos. Es gibt keine verlässlichen Anzeichen für Lügen, meint der Experte Feldmann. Auch in seiner langjährigen Forschungsarbeit hat er kein Mittel gefunden, Lügen aufzudecken. Nur misstrauischer sei er geworden, gesteht er im Interview. Und warum sind wir Lügengeschichten so hilflos ausgeliefert? Weil wir mehr Lust haben zu vertrauen, als Aussagen anderer gründlich zu checken. Obwohl jeder weiß, wie viel gelogen wird, gehen wir meist nicht davon aus, belogen zu werden: liebenswerte menschliche Unlogik. Deswegen konnte der Postbote Gert Postel als Oberarzt in einem sächsischen Fachkrankenhaus für Psychiatrie wirken. Und die SPD Bundestagsabgeordnete Petra Hinz ihren ganzen Lebenslauf erfinden, samt Abitur und Jurastudium, was sie beides nie absolvierte. Daher scheffelte Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi Millionen mit seinen Fake-Gemälden. Alle drei flogen auf - nach Jahren!

Wir profitieren von unserer Gutgläubigkeit. Die Ehefrau, die die Affäre ihres Mannes übersieht, muss nicht handeln. Wer mir sagt, ich sehe zehn Jahre jünger aus, der macht mir einen schönen Tag. Selbsttäuschung ist auch nichts anderes als Lüge - und genauso nützlich. Sie schützt vor Depression, haben Forscher der University of Alabama herausgefunden. Die rosarote Brille mildert die harte Wahrheit. Während ein ausgeprägter Realitätssinn oft mit Depressionen einhergeht.

Dennoch halten ernste und kluge Menschen wie die Dichterin Ingeborg Bachmann die Wahrheit hoch. Sie sagte: "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar." Das steht sogar auf ihrem Grabstein. Sie meinte aber die wesentlichen Dinge zwischen Schriftsteller und Publikum und nicht die sozialverträgliche Notlüge. Diese Sicht stützt auch Robert Feldmann, der sagt: "In wichtigen Dingen sollte man wahrhaftig sein." Denn bestimmte Lügen entwickeln Sprengkraft.

Verstellung, Heuchelei und Lüge als Mittel der Politik hat Niccolò Machiavelli schon vor 500 Jahren salonfähig gemacht. Heute ist Irreführung in der Politik einzukalkulieren. Deswegen glauben wir, was und wem wir wollen. Verschiedene Forscher haben gezeigt, dass wir gern glauben, was in unser Weltbild passt. So gibt es für manche eben keinen Klimawandel, für andere ist die Erde 6000 Jahre alt, ist Barack Obama kein Amerikaner und 9/11 ein Werk der CIA. Wer kennt schon die einzig wahre Wahrheit?

Das Gewissen gebietet beim Lügen Einhalt

Noch immer wissen wir nicht, wer Kennedy ermordete, wer Milliarden in Steueroasen versteckt, wer in Syrien welche Verbrechen begeht. Solche Vertuschungsmanöver sind keine Kavaliersdelikte. Sie werden bewusst und aufwendig in die Welt gesetzt, um Macht und Geschäfte zu sichern. Sie schaden uns allen. Doch wer wie Edward Snowden oder Julian Assange den großen Lügen der Mächtigen zu nahekommt, muss sich verstecken und Gerichte fürchten.

Herrliche Zeiten für die Münchhausens der Welt: Was sich früher Nachbarn und Stammtischbrüder zuraunten, hat heute ein Millionenpublikum. Der Machtmensch im Weißen Haus ist führendes Vorbild. In den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit wurden ihm 133 Unwahrheiten nachgewiesen. Ohne Konsequenzen. Das Internet macht die uralten Mechanismen sichtbar. Schwimmen wir also in einem Meer von Lügen dem Untergang entgegen? Ist Misstrauen das neue Wohlfühlen? Die Philosophin Bettina Stangneth gibt Entwarnung. Sie erklärt in ihrem Buch "Lügen lesen": "Allen Befürchtungen zum Trotz ist die Welt bisher nicht in Lügen versunken, und man braucht auch keine Glaskugel, um vorherzusagen, dass sie das auch in Zukunft nicht tun wird." Lügen, so die Autorin, sei nur als Ausnahme von der Regel erfolgreich. "Auch das Lügen muss sich an der Wahrheit orientieren, wenn es eine Wirkung in der Welt haben will."

Warum sich die Lüge offenbar nicht weiter ausbreitet und die Wahrheit auch nicht komplett ablöst, ist leicht zu verstehen. Die meisten von uns kleinen Lügnern flunkern nur so viel wie unbedingt nötig. Wir haben ein Gewissen, das uns im Wesentlichen Ehrlichkeit verordnet. So haben beispielsweise Experimente gezeigt, dass Probanden, die sich durch Tricks unbemerkt Geld zuschustern konnten, dies zwar taten, aber nur in ziemlich geringen Summen. Mehr schien ihnen einfach zu gefährlich - oder auch zu unanständig. Also lügen die meisten Menschen sozialverträglich und nicht so unverschämt wie möglich. Das Münchhausensyndrom ist eine echte, doch seltene Krankheit. Und irgendwie ahnt jeder von uns, was Leo Tolstoi formulierte: "Mit der Unwahrheit kommt man wohl bis ans Ende der Welt, aber man kommt nicht zurück." Ich habe 22 Jahre gebraucht, nachdem ich die unliebsame Wahrheit über meinen Vater erfahren hatte, dann habe ich meinen Erzeuger persönlich kennengelernt. Er war ein sehr liebenswerter Mann. Ich hatte dann zwei Väter. Fand ich gut.

Hier gehts zum passenden Heft: http://www.brigitte-wir.de

Brigitte WIR 02/2018

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