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Lauter leise Kinder Vom Glück, introvertiert zu sein

Lauter leise Kinder: eine junge Frau sitzt mit geschlossenen Augen auf dem Sofa, einen Becher in den Händen
© Rido / Adobe Stock
"Sollte sich mehr im Unterricht beteiligen", stand früher regelmäßig in den Zeugnissen unserer Autorin Antje Kunstmann. Heute ist sie immer noch ziemlich still – und das hat gute Gründe.

Kurze Frage zum Einstieg: Wen würdest du lieber kennenlernen? Eine Person, die verschlossen, distanziert, kühl und reserviert ist, oder eine, die weltoffen, kontaktfreudig und aufgeschlossen ist. Die Entscheidung ist einfach, auch mir fällt sie nicht schwer. Trotzdem gibt das Ergebnis zu denken: Es bedeutet nämlich, dass wir, wenn du die Wahl hättest, uns nie kennenlernen würden, und vor allem – und das ist verstörend –, dass ich selbst mich nicht kennenlernen wollen würde. Denn diese Eigenschaften gehören zu den ersten, die als Synonyme für die Begriffe intro- bzw. extrovertiert vorgeschlagen werden, und ich bin ziemlich eindeutig Ersteres. 

Aber bin ich damit ein Mensch, den niemand um sich haben möchte? Habe ich eine Persönlichkeitseigenschaft, die man lieber los wäre? Laut einer Umfrage wäre ein Viertel von uns gerne extrovertierter, den gegenteiligen Wunsch, nämlich introvertierter zu werden, äußern dagegen nur 0,2 Prozent, also praktisch keiner. Aber es gibt eben auch noch eine zweite Möglichkeit: Vielleicht ist es gar nicht so garstig, introvertiert zu sein, sondern wir haben nur eine falsche Vorstellung davon, was es bedeutet?

Introversion und ihr Gegenpol, die Extroversion, sind Persönlichkeitseigenschaften, die größtenteils angeboren sind. Introvertierte Menschen wenden Energie und Aufmerksamkeit eher nach innen, extrovertierte nach außen. Das typische Extro-Gehirn braucht Stimulation. Es reagiert auf alles Neue, andere Menschen und deren Aufmerksamkeit mit der Ausschüttung von Dopamin, was Extros ein Wohlgefühl gibt, das sie gern immer wieder hätten. Das Nervensystem der Intros befindet sich dagegen von vornherein auf einem höheren Erregungsniveau, sodass ihm alles, was noch dazukommt – seien es neue Kontakte oder neue Situationen –, schnell zu viel wird. Intros fühlen sich wohler, wenn das parasympathische Nervensystem, oft auch als Ruhenerv bezeichnet, gegenüber dem auf Aktivität gepolten sympathischen die Oberhand hat.

Introvertierte – eine Minderheit?

Wir Introvertierten sind keine Minderheit – auch wenn es sich manchmal so anfühlt: Etwa 20 bis 30 Prozent fallen in diese Kategorie, genauso viele sind extrovertiert, die größte Gruppe befindet sich irgendwo in der Mitte. So weit, so gut: Menschen sind unterschiedlich, das waren sie schon immer, alles andere wäre schlicht langweilig. 

Doch warum schätzen wir diese Vielfalt nicht? Wie ist die Introversion zum Persönlichkeitsmerkmal zweiter Klasse geworden, wie die US-amerikanische Autorin Susan Cain es nennt, und rangiert seitdem irgendwo zwischen enttäuschend und pathologisch? 

Historisch gesehen ist das eine relativ junge Entwicklung. Seit Beginn der Industrialisierung leben Menschen oft nicht mehr in Dörfern und Gemeinschaften, in denen alle sich von klein auf kennen. In der anonymen Masse aber werden die Persönlichkeit wichtiger und das Vermögen, immer wieder auf sich aufmerksam zu machen, sich in Szene zu setzen und zu behaupten. Dazu kommen der Kapitalismus und das Leistungsprinzip unserer Gesellschaft, das Menschen danach bewertet, wie hoch sie auf der Karriereleiter klettern, wie viel Geld sie besitzen oder wie schlank oder muskulös sie ihren Körper durch Sport und Diäten geformt haben. Wenn aber das Außen das ist, was zählt, sind Extros klar im Vorteil. Kein Wunder, dass wir das Gegenteil entsprechend negativ sehen und unsere Psyche sich dem ein Stück weit angepasst hat: Seit ein paar Generationen werden die Menschen zunehmend extrovertiert.

Extros gehen offen auf andere zu, lieben Aufmerksamkeit und suchen sie, brauchen und mögen den Wettbewerb und haben weniger Schwierigkeiten, sich auf Neues einzustellen – damit passen sie viel besser in unsere schnelllebige Zeit permanenter Veränderung als die passiveren und abwartenderen Leisen. Gleichzeitig wird die Welt selbst immer lauter: Alles tönt, flackert, will etwas von uns. Eine permanente Stimulation, die den Leisen schnell zu viel wird, die Lauten dagegen besser verkraften und oft sogar brauchen, um sich wohlzufühlen. Manchmal kommt es mir vor wie bei einer Party, auf der langsam die Musik aufgedreht wird: Je lauter es um uns wird, desto lauter werden auch wir. 

Introvertiert in einer lauten Welt

Gemeint ist dabei natürlich ein allgemeines "Wir", ich selbst bin ja weiterhin still. Allerdings ist es für Intros wie mich in dieser lauten Welt ziemlich ungemütlich geworden. Das fängt in der Schule an. "Antje sollte sich mehr im Unterricht beteiligen" stand früher regelmäßig in jedem meiner Zeugnisse, auch im beruflichen Kontext wurde mir schon gesagt, dass ich mich nicht gut und offensiv genug verkaufe. Es gibt viele Introvertierte, die Karriere machen, Bundeskanzlerin (Angela Merkel), US-Präsident (Barack Obama) oder schwerreiche Unternehmer (Bill Gates oder Jeff Bezos) werden, aber es gibt sicher mehr, die übersehen werden, wenn es um Anerkennung oder gar die nächste Beförderung geht. 

Viel zu oft kommt es darauf an, wer am lautesten schreit. Das frustriert. Auch weil niemand gern unsichtbar ist und andere an sich vorbeiziehen sieht, aber vor allem, weil man mit dem Gefühl aufwächst und lebt, anders sein zu müssen, als man ist. Es gibt Untersuchungen, die dafür sprechen, dass extrovertierte Menschen glücklicher sind als introvertierte, aber auch eine, die zeigt, dass dies nur für diejenigen unter den Stillen gilt, die sich als defizitär sehen. Denn sich als Intro an einem extrovertierten Ideal abzuarbeiten, ist nicht nur vergeblich, es macht auch schlechte Laune. 

Ich habe mich oft geärgert, dass ich mich zu zweit oder im kleinen Kreis zwar gern unterhalte und austausche, aber in Gruppen immer wieder unwohl fühle und nach Rückzug sehne. Ich habe mich geschämt, wenn ich auf die Frage, was ich am Wochenende gemacht habe, keine glamouröse Antwort geben konnte, weil ich zwar auch gern etwas unternehme, aber oft noch lieber Zeit für mich habe. Ein prall gefülltes Freizeitprogramm gilt ja oft als Statussymbol, mich stresst es schon, wenn andere mir davon erzählen, und dass mein Partner und meine Kinder bei all ihrer Unterschiedlich- und Einzigartigkeit ebenfalls stillere Facetten haben, erspart uns eine Menge Konflikte. Und ich habe mich gefragt, warum ich mich zwar durchsetzen kann, wenn es drauf ankommt, aber mir so unglaublich wenig an Auseinandersetzungen und am Wettbewerb – und sei er sportlich – liegt. Braucht man in einer Welt wie dieser nicht Ellenbogen? Inzwischen denke ich: So bin ich eben. Es gibt Dinge, die mir weniger liegen als anderen, aber ich habe eine Menge Stärken. Selbstbewusstsein wird oft mit forschem Auftreten verwechselt, damit, auch mal mit der Faust auf den Tisch zu hauen, dabei ist es eigentlich genau das: sich selbst kennen und wertschätzen. Dafür muss man nicht laut sein.

Mehr Bekenntnis für die leise Seite

Mit dieser Erkenntnis bin ich nicht allein: Immer mehr Menschen bekennen sich zu ihrer leisen Seite. Achtsamkeit ist in, nicht nur im Außen unterwegs zu sein, sondern auch das zu beachten, was in uns geschieht, ebenfalls. Für mich ist es immer wieder erstaunlich, dass man diese Fähigkeiten in Kursen lernen muss.

Auch die Erfahrungen der Pandemie haben dazu beigetragen, dass der Rückzug aus dem sozialen Dauerfeuer kein Tabu mehr ist: 42 Prozent der 18- bis 34-Jährigen wollen auch nach Corona mehr Zeit zu Hause verbringen. Gleichzeitig erleichtert die Digitalisierung das Leben der Stillen. Wie viele Introvertierte hasse ich es zu telefonieren, Mails und Messenger-Dienste sind da ein Segen. 

Und es gibt noch eine andere Ebene, jenseits der individuellen: Extrovertiertes Verhalten hat uns global gesehen nämlich schon ziemlich vor die Wand gefahren. Susan Cain etwa meint, dass unter anderem die Finanzkrise 2008 ausgeblieben wäre, wenn unter den Entscheider:innen mehr stille Menschen gewesen wären. Auch das Bild des oder der charismatischen Extro-Chefs oder -Chefin ist ins Wanken geraten. Vor allem in flachen Hierarchien und bei komplexen Entscheidungen scheint das Führungsverhalten von Intros, das anderen Raum lässt, von Vorteil. Und wo gibt es heute noch Dinge, die sich einfach und von oben herab klären lassen? Natürlich retten Intros allein weder eine Firma noch unseren Planeten, aber Lösungen werden besser, je diverser die Menschen sind, die sie erarbeiten. 

Der Anfang ist gemacht

Sicher ist die stille Revolution, die alle Menschen – die lauten wie die leisen – schätzt, noch lange nicht abgeschlossen. Aber ein Anfang ist gemacht. Das sieht auch Susan Cain so, deren Buch "Still. Die Kraft der Introvertierten" ein Welt-Bestseller und in über 40 Sprachen übersetzt wurde: "Noch vor wenigen Jahren beantworteten Menschen Persönlichkeitstests oft bewusst so, dass es aussah, als wären sie extrovertiert, auch wenn sie es gar nicht waren. Ich glaube, das geschieht heutzutage nicht mehr. Ich erlebe introvertierte Menschen, die stolz auf ihr Wesen sind, es annehmen und eben nicht mehr verstecken."

Ich stelle die Frage vom Anfang also noch einmal: Würdest du eine Person kennenlernen wollen, die gut zuhören kann, die unabhängig ist in ihrem Denken und überlegt in ihrem Handeln, aber gleichzeitig auch empathisch und teamfähig, die nicht nur überaus kreativ ist, sondern auch fokussiert genug, an einer Idee dranzubleiben? Prima! Wenn ich mich kurz vorstellen darf: Ich bin introvertiert – und das ist gut so.

Und wie laut bin ich?

Die Begriffe Intro- und Extroversion sind ungefähr 100 Jahre alt und gehen auf den Psychiater C. G. Jung zurück. Jeder Mensch verhält sich mal extro- und mal introvertierter, aber die meisten tendieren in eine der beiden Richtungen. Introvertierte Menschen sind oft eher ruhig und zurückhaltend, bevorzugen Eins-zu-eins-Situationen und stehen nicht gern im Mittelpunkt, allerdings wird ihre Persönlichkeit auch nicht immer derart auffällig sichtbar. Introversion gibt es in vielen Abstufungen und Facetten. Am deutlichsten ist dieser Unterschied: Extros gewinnen neue Energie im Kontakt mit anderen, Intros, wenn sie für sich sind. Ebenfalls wichtig: Schüchternheit ist etwas anderes als Introversion. Wer schüchtern ist, würde gern mitmischen, ist dafür aber zu unsicher. Wer introvertiert ist, hält sich freiwillig zurück.

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Antje Kunstmann schreibt in BRIGITTE nicht zum ersten Mal über stille Menschen. Weil auch ihre Töchter dazu zählen, ist aus dem Thema nun ein Buch geworden: "Lauter leise Kinder. Vom Glück, ein introvertiertes Kind zu haben" erzählt von den Stärken der Stillen und lässt die, die sonst oft übersehen oder pathologisiert werden, auch selbst zu Wort kommen. (256 S., 17,99 Euro, Ullstein, ab 27.10.)

Brigitte

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