Ob wir uns trauen, uns innerlich für etwas so richtig zu begeistern, hängt oft auch davon ab, mit welcher seelischen Risikostruktur wir durchs Leben gehen. Manche Menschen interessieren sich für alles ein bisschen: Sie machen ein bisschen Fußball, ein bisschen Tanzen, ein bisschen Pilates. Das ist abwechslungsreich und für die Seele eine sichere Bank - fühlt sich aber gelegentlich eben auch lau an. Andere dagegen setzen mit Volldampf alles auf eine Karte und riskieren dafür, zu scheitern, für albern gehalten oder verletzt zu werden. Leidenschaft ist nun mal immer ein gefährliches Gefühl. Aber man braucht sie, wenn man im Leben etwas wirklich Außergewöhnliches erreichen möchte. Und das gilt für Sportler, Handwerker, Polizisten, Manager und Liebende gleichermaßen ...
Der Begriff wird ganz schön inflationär gebraucht . Ab und zu fragt man sich deshalb, warum so viele Menschen behaupten, praktisch sämtliche Angelegenheiten des ganz normalen Lebens mit Leidenschaft zu betreiben. Alle sind angeblich passionierte Leser, Köche, Skifahrer, Mütter, Jogger. Das trifft den Kern der Sache aber ganz und gar nicht. Leidenschaftlich sein heißt, eine Entscheidung zu treffen und sie mit Engagement und sehr intensiv zu leben - und das kann auch mal ganz schön anstrengend sein.
Obsession kann zu Zerstörung führen, zu entsetzlicher Verzweiflung. Leidenschaft ist eher ein erhellendes Gefühl, eine mächtige, großartige Energiequelle. Was das eine vom anderen unterscheidet, ist die innere Wahlmöglichkeit. Eine Leidenschaft kann ich loslassen oder auf Eis legen - auch wenn es wehtut. Eine Obsession verfolgt mich, zwingt mich sogar unter Umständen dazu, mich so zu verhalten, wie ich es nie wollte. Leidenschaftliche Politiker etwa schaffen es immer noch, daneben auch andere Prioritäten zu setzen. Als Franz Münteferings Frau im Sterben lag, konnte er sich von seinem Job verabschieden. Das können Menschen, die besessen sind, nicht: Stalker zum Beispiel oder religiöse Fanatiker.
Klingt zunächst widersprüchlich: Sie haben Demut. Menschen, die für etwas brennen, hängen ihre Energie in ein Projekt, auch wenn sie wissen, dass es lange Zeit dauern kann, bis sie dafür belohnt werden. Sie beißen sich durch, um besser zu werden. Und das alles, obwohl sie wissen, dass sie am Ende vielleicht scheitern könnten: dass ihnen die letzte Briefmarke für das Album fehlt, dass sie kurz vor dem Gipfel eines Achttausenders umdrehen müssen. Wer innerlich lodern will, muss die Fähigkeit haben, den Belohnungsaufschub auszuhalten. Er braucht eine Vision, an die er glaubt.
Das eine hat mit dem anderen so gut wie nichts zu tun. Entwicklungspsychologen halten Talent für eine völlig überschätzte Eigenschaft. Viel mehr kommt es auf Hartnäckigkeit und Durchhaltewillen an, um wirklich gut zu werden. Und wer in einem Gebiet brilliert, verfolgt seine Ziele meist auch mit Leidenschaft. Experten sprechen dabei von der Zehnjahresregel: Es braucht ungefähr eine Dekade harter Arbeit und Übung, um in einem Bereich wirklich erfolgreich zu werden, egal, ob es ums Führen eines Geschäftes geht oder um das Schreiben von TV-Krimis, ums Regattasegeln oder ein Spitzen-Golfhandicap. Aber die meisten von uns glauben lieber an den plötzlichen Geniestreich, den Kuss der Muse, das plötzliche Auflodern extremer Gefühle als an die eher unglamourösen Eigenschaften Zähigkeit und Entschlossenheit.
Ja, genau das zeigen neueste Studien. Denn offenbar scheinen alle Menschen das, was sie ausdauernd tun, allmählich auch zu lieben. Die amerikanische Wissenschaftlerin Ellen Winner befasst sich mit dem Thema Begabung und hat dazu Forschungen betrieben. Sie beobachtete, dass sich Schüler in China im ersten Schuljahr für eine künstlerische Tätigkeit entscheiden mussten, entweder für Kalligrafie oder für Malerei. Anschließend mussten die Kleinen das Fach sechs Jahre lang intensiv betreiben, keine Widerrede, kein Aufgeben. Die Wissenschaftlerin Winner fragte beim Lehrer nach, was passiert, wenn ein Kind die Lust verliert oder lieber etwas anderes machen möchte. Und erhielt die Antwort: »Das passiert niemals.«
Offenbar ist es das nicht. Die Kinder jedenfalls waren durchweg happy. Und zwar deshalb, weil sie allmählich zu Meistern auf ihrem Gebiet wurden. Das ist das wahre Geheimnis der Leidenschaft: Wenn man bemerkt, wie sehr man sich in einer Disziplin durch Üben steigert, wächst die Motivation - und damit das innere Brennen. Beispiel Sport: Am Anfang schlurft man noch im Schneckentempo durch den Stadtpark. Ein halbes Jahr später schafft man, wenn man dranbleibt, den ersten Zehnkilometerlauf, träumt vielleicht vom Marathon. Leidenschaft hat auch damit zu tun, sich wie Bolle über die eigene Leistung zu freuen.
Ganz und gar nicht. Schließlich gibt es Menschen mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten - und den seltsamsten Leidenschaften. Temperamentsbündel, die geduldig Sushi bis zur Perfektion rollen, Mauerblümchen, die sich in Marxismusforschung besser auskennen als jeder Politikwissenschaftler. Ob wir uns zugestehen, innerlich zu brennen, hängt im Wesentlichen von unserer Umwelt ab. Wie bewertet sie Leidenschaft? Gibt es Vorbilder, die sich so richtig in eine Sache verbeißen können? Ein Beispiel: Wenn unsere Eltern begeistert Tennis spielen und bei jedem Match an der Mattscheibe kleben, lernen wir, wie befriedigend es sein kann, sich in einem Thema wirklich gut auszukennen. Und setzen das auch später als Erwachsene leichter um.
In solchen Fällen stellt sich die Frage: Welche Funktion hat die Leidenschaft eigentlich? Geht es darum, dem Leben mehr Sinn zu geben - oder eher darum, der eigenen Existenz davonzulaufen? Sich in den Job zu verrennen oder wie verrückt einem Hobby zu frönen kann auch mit innerer Leere zusammenhängen, kann ganz wunderbar Probleme zudecken und helfen, sich vor wichtigen Entscheidungen zu drücken. Da lässt sich allerdings nicht mehr von Leidenschaft sprechen, es geht dann eher um einen inneren Fluchthelfer. Der mag manchmal praktisch erscheinen - gesund ist so was nicht. Vor allem deshalb nicht, weil in solchen Fällen oft auch die Beziehung zu kurz kommt und leidet. Und weil im Job dann irgendwann der Burnout droht.
Ja. Leidenschaft kann, richtig dosiert, die Seele zum Leuchten bringen, uns zeigen, welche Facetten wir haben. Wer sonst eher brav im Büro Akten stapelt und in der Freizeit Wikingerfeste organisiert, erlebt eine ganz andere Seite an sich. Spannend. Außerdem stärkt es das Ego, wenn man etwas hat, wo man sich hinträumen kann, bei dem man sich messen, immer besser werden kann. Das pusht das Selbstbewusstsein auch in anderen Lebensbereichen.
Nein, die folgt Sonderregeln. Natürlich hat Verliebtheit mit starker Leidenschaft zu tun. Aber genau betrachtet, handelt es sich dabei um einen unglaublichen Glückshormonschub, der uns reagieren lässt, als wären wir wahnsinnig. Das Wesentliche dabei: Dieser Zustand geht binnen weniger Monate vorbei. Leidenschaften in Freizeit, Sport oder Job verstärken sich aber im Laufe der Zeit meist. Und: Im Gegensatz zu anderen Leidenschaften müssen wir zur Verliebtheit nichts aktiv dazutun. Liebestrunkenheit entsteht einfach.
Vermutlich haben sie eher Angst davor, dauerhaft bei der Sache zu bleiben. Sie sind eher unsicher gebunden, haben also in der Kindheit kein oder nur unzureichendes Urvertrauen gelernt, sagt die Psychologie. Solchen Menschen fällt es als Erwachsenen schwer, sich auf andere einzulassen. Ständig in jemand anderen verliebt zu sein verschafft zwar einen inneren Kick. Aber mit dem völligen Sicheinlassen auf einen anderen, mit tiefen Gefühlen, mit echter Leidenschaft hat das eher wenig zu tun.
Das stimmt. Aber da kann man etwas tun. Paare, bei denen die Verliebtheit verflogen ist, können versuchen, sich wieder fremder und damit ein bisschen spannender zu werden. Bei Menschen, die sich immer nur in ihrer Beziehung bewegen, wird die Liebe nämlich irgendwann ein bequemes Kleidungsstück, abgetragen und flauschig. Das mag zwar kuschelig sein, aber leidenschaftlich ist es nicht. Deshalb: Raus, neue Hobbys ausprobieren! Und: möglichst viele andere Beziehungen schaffen. "Leuten, die viele andere Ansprechpartner haben und ihren Partner nicht für alles herhalten lassen, gelingt es viel besser, die Spannung aufrechtzuerhalten ", sagt die New Yorker Paartherapeutin Esther Perel.
Das nicht. Aber wer sich bewusst entfernt, wer wagt, Dinge auch außerhalb der Partnerschaft zu erleben, wer seinem Liebsten Freiraum lässt, sorgt für mehr Begehren in der Partnerschaft. Viele Paare lassen sich den Raum nicht, wollen alles wissen, bis hin zum einschläferndsten Detail ("Was gab's heute Mittag in der Kantine, Liebling?", "Hattest du Stau auf der Heimfahrt?"). Die Nachfragerei geschieht dabei oft nicht aus echtem Interesse, sondern weil wir kontrollieren wollen. Darunter leidet übrigens auch die kleine Schwester der Leidenschaft, die Lust. Und die, sagt Therapeut Michael Mary, basiert auf "Unkontrollierbarkeit, Geheimnis, Unsicherheit". Weil wir den anderen nicht kennen, weil wir ihn erobern wollen, wollen wir Sex mit ihm - immer wieder. Für Mary machen Paare häufig den Fehler, dass sie zu sehr zusammenkleben. Und glauben, genau zu wissen, was der andere will, zum Beispiel im Bett.
Wirklich? Vielleicht handelt es sich aber auch eher um eine Art sexuelle Hausordnung, die ein Paar im Laufe der Zeit stillschweigend vereinbart. Im Laufe einer Partnerschaft zeigt man nämlich seine Sexualität so, dass man eine positive Reaktion des anderen erwarten kann. Und irgendwann entsteht dann eine stumme Übereinkunft darüber, was die Frau (vermutlich) nicht will und was der Mann (vermutlich) nicht will. Das Resultat: lauwarmer Vermeidungssex, in dem eigene Wünsche und Sehnsüchte schon längst keine Rolle mehr spielen.
Ist bei Ihnen garantiert anders? Der Heidelberger Psychologe Ulrich Clement schlägt einen Test vor: Beide schreiben ihre drei größten sexuellen Wünsche auf. Anschließend notieren sie noch, welche größten Wünsche sie bei Ihrem Partner vermuten. Dann vergleichen beide ihre Zettel - und erleben wahrscheinlich ihr blaues Wunder. Wir gehen mit so standardisierten Vorstellungen von Sex und Partnerschaft durchs Leben, dass sich der Blick auf das Besondere des anderen, auf seine Wünsche, verstellt. Und dann schwappt auch die Leidenschaft nur noch müde vor sich hin.
Zum Beispiel mit einem ganz einfachen Trick. Der amerikanische Sexualpsychologe David Schnarch behauptet, das Liebesleben werde weitaus besser, wenn sich die Partner beim Küssen und beim Orgasmus tief in die Augen sehen. Denn dann gewähren sie Zugang zu ihrem Innersten, schaffen totale Intimität und absolute Exklusivität - beides wichtige Bedingungen für Leidenschaft. »Das Abwenden des Blickes begrenzt das Erleben«, sagt Schnarch. Und solche Grenzen machen den Sex dann natürlich auch langweiliger.
Das stimmt. Studien zeigen: Paare, die interessante, spannende, vielleicht sogar ein bisschen leichtsinnige Dinge miteinander unternehmen, empfinden mehr Zufriedenheit mit ihrer Beziehung. Ein gemeinsamer Kletterkurs zum Beispiel. Oder Wildwasserrafting. Der Trick dahinter: Aus Aufregung wird Erregung, die im Gehirn für ein Feuerwerk sorgt und die Bereitschaft steigert, den anderen toll zu finden. Das lässt sich sogar wissenschaftlich nachweisen. In einem sogenannten "Brücken-Experiment" ließen Wissenschaftler eine Frau erst auf einer hohen und schwankenden, schließlich auf einer soliden, niedrigen Brücke Männer ansprechen. Die Männer von der Hängebrücke riefen die Frau anschließend viermal häufiger an und baten um ein Wiedersehen als die Vergleichsgruppe, die über das solide Holzkonstrukt stapfte.
Unbedingt. Es kommt dabei vor allem darauf an, den entsprechenden Schalter im Kopf umzulegen. Die Berliner Trainerin Uta Glaubitz unterstützt zum Beispiel Arbeitnehmer, die von ihrem Job furchtbar angeödet sind. Oft hängt das damit zusammen, dass sie einfach unterfordert sind, kein Bild mehr davon haben, wo sie hinwollen. Das Wichtigste in solchen Situationen: herauszufinden, was einen antreibt, was einen motiviert.
Es schützt vor halbwarmen Zufallsentscheidungen - den größten Feind der Leidenschaft, übrigens auch in der Liebe. Die meisten Menschen rutschen zum Beispiel einfach so in den Job. Und das fängt schon nach der Schule an: Man wählt ein Studium oder eine Ausbildung nicht aus vollem Herzen, sondern weil es gerade praktisch ist oder weil man denkt, dass es den Eltern gefallen wird. Oder: Man nimmt den lieben Jungen von nebenan, der bestimmt einen super Vater abgibt. Der nächste Fehler: Viele Menschen entscheiden sich im K.-o.-Verfahren. Sie lassen sich von schwierigen Auswahlkriterien davon abschrecken, ihr Lieblingsfach zu studieren oder einen Job zu suchen, der wirklich zu ihnen passt. Stattdessen wählen sie das Bequeme, das am leichtesten Verfügbare. Solche Fehlentscheidungen rächen sich später ziemlich sicher mit innerer Ödnis.
Oft hilft ein Blick in die Vergangenheit. Was haben Sie früher als kleines Kind, als Jugendliche, als junge Erwachsene gern gemacht - und was nicht? Wofür würden Sie sich jetzt entscheiden, wenn Sie Ihren Traumjob oder Ihr Lieblingshobby frei wählen dürften? Die Antworten auf solche Fragen geben schon mal erste Hinweise. Die Job-Beraterin Glaubitz rät ihren Kunden auch, eine Leidenschaft auf eine ganz simple Frage abzuklopfen: Wird die Welt ein kleines bisschen besser oder schlechter, wenn ich es mache? Engagement fällt nämlich nur dann leicht, wenn man wirklich hinter dem steht, was man tut.
Mit Herzblut. Und mit Logik. Klingt zunächst widersprüchlich. Aber unser Bauchgefühl weist uns den Weg zu den Dingen, für die wir innerlich brennen könnten. Sich dafür zu entscheiden, eine Vision zu entwickeln, dranzubleiben benötigt Reflexion - und Disziplin. Dafür braucht's den Kopf.