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Introvertiert im Job So kannst du im Beruf auch als Introvertierte punkten

Introvertiert
© sonyachny / Adobe Stock
Introvertierte Menschen haben viele Stärken und laufen trotzdem Gefahr, im Job übersehen zu werden. Antje Kunstmann wollte sich damit nicht länger abfinden und hat sich auf die Suche nach Lösungen gemacht.

Vielleicht ist die Antwort darauf, wie Introvertierte im Beruf am besten klarkommen, so einfach wie radikal: Sie müssen halt den passenden wählen. Buchhaltung, Informatik, Zahntechnik wird mir im Netz als ideal für zurückhaltende Charaktere vorgeschlagen. Was im Umkehrschluss heißt: Als Journalistin wäre ich definitiv im falschen Job gelandet.

Zufriedenstellend ist das natürlich nicht, schließlich mag ich meinen Job sehr. "Wahrscheinlich lässt sich tatsächlich beobachten, dass es mehr introvertierte Menschen in der Buchhaltung gibt als im Verkauf und Vertrieb", sagt Dr. Sylvia Löhken, Sprachwissenschaftlerin und Expertin für introvertierte Kommunikation. "Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit: Sie und ich, wir sind ja klare Gegenbeispiele! Sie sprechen jeden Tag mit fremden Leuten, ich begleite Menschen in Vorträgen und als Coach. Ganz offensichtlich kommt es also auf mehr an." Die beste Kronzeugin dafür sei Angela Merkel. "Sie war als Introvertierte 16 Jahre Bundeskanzlerin. Da kann man nun wirklich nicht sagen: 'Hätte die mal besser Buchhaltung gelernt.'"

Laut Sylvia Löhken gibt es sogar einiges, dass für leise Politiker:innen spricht beziehungsweise dafür, sie zu wählen. "Introvertierte sind sicherheitsorientiert, können aber auch Sicherheit und Vertrauen erzeugen. Sie denken, bevor sie handeln, vermitteln den Eindruck, genau zu wissen, was sie tun, und sind oft sehr verlässlich. Für Führungs- und Fachpersönlichkeiten ist das wunderbar."

Mehr Sichtbarkeit für Introvertierte

Das sehe ich genauso. Leise Menschen haben viele Eigenschaften, von denen nicht nur sie, sondern alle profitieren können: etwa Kreativität, Beharrlichkeit, analytisches Denken oder Unabhängigkeit. Doch was nützen die größten Stärken, wenn niemand sie bemerkt, weil immer alle anderen lauter sind?

Dass die Sorge, übersehen oder übergangen zu werden, berechtigt ist, haben wir oft seit Kindertagen verinnerlicht. Studien zeigen, dass Lehrer:innen sich nach einem Schuljahr meist nur an die in ihrer Klasse erinnern, die sich irgendwie hervorgetan haben – und sei es in negativem Sinne durch lautes oder störendes Verhalten. Das Schicksal der Ruhigeren? Ihre Lehrkräfte hatten sie schlicht vergessen.

"Sichtbarkeit ist letztlich nur eine Frage der Kommunikationsstrategie", sagt Sylvia Löhken und bestätigt, dass viele der Intros, die sie coacht, mit genau diesem Thema zu ihr kommen. Aber was heißt hier eigentlich "nur"? Kommunikation ist doch der Kern des Problems, typischerweise weniger im Gespräch eins zu eins als in größeren Runden. Wie den meisten Introvertierten fällt es auch mir da oft schwer, meine Stimme zu erheben.

Wer bin ich und was möchte ich?

Für Sylvia Löhken ist das allerdings erst der zweite Schritt. Vorher rät sie zu dem, was Intros ohnehin am liebsten tun: nämlich gründlich nachzudenken und nach innen zu schauen. "Artgerecht" nennt sie diese Herangehensweise. "Die Wirkung, die wir auf andere haben, ist etwas, das eher in der Peripherie der Persönlichkeit liegt; bei Intros aber geht immer alles von innen nach außen. Das heißt, erst einmal beschäftige ich mich mit meiner eigenen inneren Geschichte. Was denke ich über dieses Meeting? Was will ich, was ist mir wertvoll? Möchte ich meine Expertise einbringen, etwas für die Gruppe leisten oder etwas beitragen, das die anderen nicht im Blick haben?" Ist dieses Motiv klar, sei es ein Leichtes, die innere Handbremse zu lösen, wie Löhken es nennt, und sich als Intro quasi die Erlaubnis zu geben, etwas zu sagen.

Dass der Wunsch, sichtbar zu werden, nicht verwerflich ist, müssten vor allem introvertierte Frauen manchmal erst lernen. Sich dann klarzumachen, dass es eben nicht darum geht, im Mittelpunkt zu stehen, sondern Themen zu vermitteln, sorge oft für große Erleichterung. "Damit steht man nicht mehr im Scheinwerferlicht. Es geht nicht mehr um einen selbst. Es geht um den Inhalt."

Auch mir fällt es leichter, mich zu äußern, sobald mir etwas wirklich wichtig ist. Was für mich ebenfalls im Job-Kontext gut funktioniert: Mir die Rolle bewusst zu machen, in der ich sichtbar werde. Ich kann mich extrovertierter verhalten, wenn ich ein Interview führe, als ich es außerhalb der Arbeit tun würde. Dafür muss ich mich nicht verstellen, ich bin dann ja nicht Privatperson, sondern Journalistin, und diese Position fülle ich nur aus, wenn ich in der Kommunikation aktiv bin und sie gestalte. Wenn nötig, auch vor Publikum. Auch wenn die Schauspielerei noch einmal eine andere Branche ist, fällt mir dazu ein Zitat von Meryl Streep ein, die wie einige aus der Hollywood-A-Liga ebenfalls introvertiert ist: "Ich stehe nicht gern auf der Bühne, wenn ich Meryl bin, also ich selbst. Aber wenn ich eine Rolle spiele, kriege ich beinahe alles hin."

Intros vs. Extros

Wer als Intro die eigenen Motive und Werte erforscht, kommt meist auch nicht drum herum, sich zu fragen: Was halte ich eigentlich von den Extros? "Es gibt auch die Haltung: 'So wie die blöden Lautsprecher will ich gar nicht sein'", sagt Sylvia Löhken – und ich fühle mich ertappt. Dass ihnen extrovertiertes Verhalten auf die Nerven fällt, berichten viele Intros. Zum einen ist das verständlich, weil Gruppensituationen, in denen die Lauten aufblühen, für die Leisen extrem kraftraubend sind und mit der Energie manchmal auch die Toleranz schwindet. Zum anderen besteht das Risiko, dass daraus etwas wird, das man wohl Arroganz nennen muss, und man sich nur noch weiter zurückzieht.

"Es ist wichtig, sich bewusst zu machen: Wenn ich Karriere machen will, müssen die richtigen Menschen von meiner Leistung wissen – und das gelingt nicht durch Telepathie. Kommunikation ist immer auch eine Bringschuld." Man kommt als Intro nicht umhin, ab und zu seine Ruhezone zu verlassen. Das heißt nicht, dass man sich verbiegen muss. Wir alle haben leisere und lautere Seiten und können letztere fördern, indem wir unsere introtypischen Bedürfnisse berücksichtigen. Den Wunsch nach Sicherheit etwa durch gute Vorbereitung. Deswegen stimmt Sylvia Löhken auch dem oft gehörten Rat nicht zu, Präsentationen im Team den Extros zu überlassen. "Die Person, die etwas vorstellt, wird immer emotional als die wahrgenommen, die es auch gemacht hat. Auf diese Möglichkeit zu verzichten wird damit zu einem dicken Nachteil."

Im Büro: So kann sich die Situation für Introvertierte verbessern

Manchmal frage ich mich jedoch, ob nicht auch die andere Seite mitverantwortlich ist, dass die Stärken der Intros und sie selbst nicht untergehen. Die moderne Arbeitswelt kommt uns in manchem entgegen, etwa durch die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten. Großraumbüros aber sind für Intros ein Graus: Ihr hochaktives Nervensystem ist dort schnell überlastet. Gerade höre ich von vielen Bekannten, dass die Kultur in ihren Unternehmen immer extrovertierter geprägt ist. Agiles Arbeiten erhält Einzug und damit eine noch stärkere Bedeutung direkter Kommunikation, Meetings nehmen zu. Für Intros eine doppelte Herausforderung – zum einen, weil es wieder darum geht, sich Gehör zu verschaffen, zum anderen, weil Gruppentermine für sie anstrengender sind. Der deutlichste Unterschied liegt nämlich darin, was man braucht, um aufzutanken. Extros tun dies in Gemeinschaft, Intros im Alleinsein. Was übrigens nicht heißt, dass wir nicht auch gern mit anderen zusammen sind. Für notorische Einzelgänger hält uns nur das Vorurteil.

Judith Andresen ist Expertin für agile Organisationsentwicklung und bildet auch andere zu agilen Coaches weiter. Sie wehrt sich zwar generell gegen ein Schubladendenken, das Menschen mit Labeln versieht, weil Labels häufig Vorurteile fördern. Aber wie es gelingen kann, dass alle gehört werden, sei auf jeden Fall Teil der Ausbildung. "Gute Coaches haben das Thema auf dem Zettel", sagt sie. Da agiles Arbeiten sich vor allem an den Ressourcen der Mitarbeitenden, nicht an ihren Schwächen orientiere, würden sich sogar neue Chancen ergeben, auch den Leiseren gerecht zu werden. Etwa durch Diskussionsformate, in denen Ideen erst für sich notiert oder mit einem einzelnen Teampartner besprochen werden. Beides kommt Intros entgegen. Trotzdem scheint mir noch deutlich Luft nach oben, wenn es darum geht, unterschiedliche Persönlichkeiten und Bedürfnisse im Job von vornherein mitzudenken.

Dass Sylvia Löhken mittlerweile von großen Firmen angefragt wird für Workshops und Coachings von Führungskräften, finde ich deshalb großartig. Genauso wie Initiativen wie die des Online-Versandhändlers Zalando: Dort gibt es ein Team, das die Anliegen der Intros sichtbar macht und unterstützt. "Wenn man es mit anderen Diversity-Themen vergleicht, also etwa Geschlecht oder Migrationshintergrund, sind Intro- und Extraversion ein relativ wenig vermintes Gelände. Sich darüber auf das Thema Vielfalt einzulassen und darauf, sich selbst und andere besser kennenzulernen, ist Menschen leichter möglich", so die Expertin. Ein weiterer Grund, warum alle etwas davon haben, dass die Leisen in jedem Team und jedem Job zu Hause sind.

Bin ich Intro oder Extro?

Auf der Homepage von Sylvia Löhken gibt es einen kurzen Online-Test und die zugehörige Auswertung: intros-extros.com

Antje Kunstmann
Über die oft übersehenen Stärken der Stillen hat Antje Kunstmann auch ein Buch geschrieben: "Lauter leise Kinder. Vom Glück, ein introvertiertes Kind zu haben" ist bei Ullstein erschienen.
© Andreas Sibler

Kommunikationstraining für Intros:

Sylvia Löhken hat mehrere Ratgeber für introvertierte Menschen verfasst. Der jüngste, "Leise Menschen – starke Worte", erschienen bei Gabal, beschäftigt sich mit dem Thema Kommunikation.

Über die oft übersehenen Stärken der Stillen hat Antje Kunstmann auch ein Buch geschrieben: "Lauter leise Kinder. Vom Glück, ein introvertiertes Kind zu haben" ist bei Ullstein erschienen.

Brigitte

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