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Das schlimmste Gefühl? Keine Zugehörigkeit Ein Erfahrungsbericht über Intergeschlechtlichkeit

Drittes Geschlecht: Hand an Krawatte
© Geartooth Productions / Shutterstock
Anne-Mette wurde sowohl mit männlichen als auch mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren. Sie lebt mittlerweile als Frau. Und wünscht sich, dass jeder Mensch sein kann, was und wie er ist.

Ich wurde in den 1950-ern auf einer Insel in Norddeutschland geboren und bin als Junge aufgewachsen. In meiner Familie, in meinem Dorf hat die Intergeschlechtlichkeit nie eine Rolle gespielt. Das hatte auch damit zu tun, dass die Abweichung bei mir nur meine Hormone betrifft und die sekundären Geschlechtsmerkmale, also etwa die Fettverteilung und die Brust. Damals wurden Babys noch nicht so genau und gründlich untersucht wie heute, da hieß es eher: Hauptsache gesund. Es war also nie ein Thema. Trotzdem habe ich bemerkt, dass ich anders war, später, als Teenager. Da wurde es dann wichtiger, Normen zu entsprechen. Wie ich den Sportunterricht gehasst habe. Das Ausziehen, die Jungsdinge dort. Informationen darüber, was genau los war, waren schwer zu bekommen. In den Biologiebüchern damals gab es fast nichts über Queerness, Transgeschlechtlichkeit oder Intergeschlechtlichkeit. 

Hochzeit und Kinder wie alle anderen – doch irgendwas war anders

Ich habe eine Frau kennengelernt, wir haben geheiratet, ein Kind bekommen. Ich konnte als Mann normal sexuell funktionieren, und auch das hat es mir sicher leichter gemacht, dieses Thema beiseitezuschieben. Man könnte auch sagen: Ich hab das alles sehr gut und fest weggeschlossen, über Jahrzehnte.
Meine erste Ehe wurde geschieden, 1990 habe ich ein zweites Mal geheiratet und wir sind in ein kleines Dorf bei Flensburg gezogen, wo unsere drei Kinder zur Welt kamen. Als die Kinder älter wurden, kam irgendwann, ganz langsam, das Anderssein in mein Bewusstsein. Intergeschlechtlichkeit spielte dabei anfangs gar keine große Rolle, ich habe festgestellt: Du hast auch eine weibliche Seite. Die hat sich anfangs so geäußert, dass ich gern Röcke anziehen wollte. Ein Erschrecken gab es da gar nicht, für mich fühlte sich das gut und richtig an. Meine Frau hat es mittlerweile akzeptiert, aber das hat viele Jahre gedauert. Ich verstehe das, es war bei mir ja nicht anders. Anfangs habe ich mir alle verfügbaren Bücher über Intergeschlechtlichkeit und Transidentität besorgt und bin zu jeder erreichbaren Veranstaltung gefahren.

Das schlimmste Gefühl? Keine Zugehörigkeit zu haben

Wirklich schlimm war es, als ich mit meiner Frau in ein Frauenfitnessstudio gehen wollte. Da wurden wir ins Büro gebeten und ich wurde regelrecht verhört. Ob es denn zwischen meinen Beinen auch so aussähe wie bei meiner Frau? Ich habe das dann der Antidiskriminierungsstelle gemeldet.
Die aggressiven Diskussionen um das dritte Geschlecht kann ich nicht verstehen. Dass sich da viele so angegriffen fühlen. Ich will doch den Leuten nichts wegnehmen. Heute kann ich sagen, dass ich selbstbewusst bin und ganz bei mir. Ich bin ein intergeschlechtlicher Mensch und muss es nicht beweisen. Mir fällt dazu ein Zitat des österreichischen intergeschlechtlichen Künstlers Gorji Marzban ein: "Der Mensch ist in erster Linie Geist und nicht Geschlecht. Diesen Geist kann man individuell in jedes Gefäß geben. Er bleibt sowieso erhalten."

Was genau sind Genderwissenschaften?
Von "unwissenschaftlicher Unsinn" bis "Gender-Wahn": Kein Fach erntet so viel Spott und Kritik wie die Genderwissenschaften. "Eigentlich ein gutes Zeichen, weil es zeigt, wie wichtig das Thema in unserer Gesellschaft ist", findet Dr. Wolfgang Funk, Kultur- und Literaturwissenschaftler an der Universität Mainz. "Allerdings läuft man so auch Gefahr, dass es zu einem rein politischen Thema hochstilisiert wird." In der Öffentlichkeit heiß diskutierte Dinge wie Unisex-Toiletten oder sexuelle Vielfalt als Schulthema haben meist wenig mit der akademischen Wirklichkeit zu tun. Als Forschungsfeld widmen sich die "Gender Studies" der Analyse von Geschlechterrollen und –verhältnissen, historisch und zeitgenössisch. Kulturwissenschaftler wie Funk untersuchen etwa, wie die Lebenswelt von Frauen und Männern in der Literatur repräsentiert wird. In der Soziologie wird oft empirisch gearbeitet, z. B. um Geschlechtsunterschiede bei den Löhnen aufzudecken. Auch in Medizin und Biologie gibt es Gender-Ansätze. Wird die Welt dadurch geschlechtergerechter? "Das ist Aufgabe der Politik", sagt Funk. "Aber um gesellschaftspolitische Veränderungen zu bewerkstelligen, ist eben auch theoretisches Wissen nötig."

Brigitte 11/2018

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