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Psychologie Hirnforscher verrät: Diese Alltagssituation schwächt deine Urteilskraft

Psychologie: Eine nachdenkliche Frau
© contrastwerkstatt / Adobe Stock
Unser Gehirn ist flexibel und kann sich an unterschiedliche Voraussetzungen anpassen. Eine typische Alltagssituation bereitet uns allerdings Schwierigkeiten, wie uns Hirnforscher Martin Korte verraten hat.

Unser Urteilsvermögen hilft uns in vielen Situationen, kluge Entscheidungen zu treffen und uns angemessen zu verhalten. Manchmal scheint es allerdings nicht optimal zu funktionieren. Wenn wir zum Beispiel von einer Serie bis in den viel zu späten Abend eine Folge nach der anderen anschauen, obwohl wir am nächsten Morgen früh raus müssen. Oder wenn wir ein Problem einfach nicht auf sich beruhen lassen, obwohl wir es nicht lösen können und unsere Beschäftigung damit nichts besser macht. Oder wenn wir verbissen an einem Plan festhalten und unsere To Dos abarbeiten, obwohl etwas eigentlich Wichtigeres dazwischenkommt und unser Mangel an Flexibilität großen Stress für uns bedeutet. 

In der Theorie liegt in solchen Situationen auf der Hand, welches Verhalten am sinnvollsten oder intelligentesten wäre, doch in der Praxis kann es uns unglaublich schwerfallen, dementsprechend zu handeln. Der Grund dafür ist etwas, das wir als Cliffhanger-Effekt bezeichnen können: Eine ungeklärte Frage oder ein nicht abgeschlossenes Ereignis bindet unsere Aufmerksamkeit und schränkt uns in unserer Handlungs- und Urteilsfähigkeit ein. 

"Offene Aufträge" binden kognitive Ressourcen

"Für unser Gehirn haben Projekte, die nicht abgeschlossen sind, was den Zugriff angeht, eine ganz hohe Priorität", erklärt Martin Korte. "Egal ob es Gedanken sind, ob es der begonnene Abwasch ist, die unbeantwortete Nachricht oder was auch immer. Das heißt, wenn wir ein anderes Problem lösen wollen, uns mit etwas anderem beschäftigen, müssen wir uns denkerisch durch diesen Raum, der im Gehirn für die nicht fertiggestellte Aufgabe freigehalten wird, durchkämpfen." Das wiederum kostet Energie – und gelingt nicht immer einwandfrei. Ein "offener Auftrag", wie es der Neurobiologe nennt, bindet kognitive Ressourcen, ob wir wollen oder nicht, und schränkt die Kapazität, die wir für Sonstiges zur Verfügung haben, ein. 

Aus evolutionsbiologischer Sicht macht diese Art zu priorisieren durchaus Sinn: In einer Welt, in der es bei den meisten Problemen ums Überleben geht, ist es von großem Vorteil, die Lösung an erste Stelle zu setzen und nicht aufzugeben oder zu ruhen, ehe sie gefunden ist. Wenn du beim Feuermachen mittendrin aufhörst, weil du irgendetwas nicht ganz richtig machst, erfrierst du in einer kalten Oktobernacht. Und wenn du keinen Weg findest, Lebensmittel aufzubewahren, verhungerst du im Winter. Bis zu einem gewissen Grade verdanken wir unserer Unfähigkeit, einen offenen Auftrag ohne Weiteres beiseite zu schieben und uns mit anderen Dingen zu beschäftigen, zudem den wissenschaftlichen und technischen Stand, auf dem wir heute sind. Forschen, Fragen stellen und beantworten, rechnen, tüfteln und experimentieren, bis ein Phänomen geklärt ist oder eine Rechnung aufgeht – all das ist Voraussetzung für den zivilisatorischen Fortschritt, den wir in den vergangenen Jahrhunderten vollzogen haben und mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Zukunft fortführen werden. Und die Gewohnheit des menschlichen Gehirns, ungelöste Probleme zu priorisieren, ist einer der Katalysatoren dieses Fortschritts, einer der Faktoren, die ihn ermöglichen. So ist der Cliffhanger-Effekt keineswegs von Grund auf schlecht – nur kann er uns in unserem modernen Alltag manchmal eben etwas in die Quere kommen.

Warum uns der Cliffhanger-Effekt manchmal im Weg steht

Wir leben derzeit mit dem Luxus, dass wir uns mit jeder Menge Dinge und Fragen beschäftigen können, die alle nicht unbedingt überlebenswichtig sind. Reiseplanung, diverse Arten von Beziehungen, Beruf, Hobbys und Freizeitgestaltung, Nachrichten, soziale Medien, Unterhaltungsformate, Dekoration und Einrichtung, Kleidung und der eigene Stil, kochen mithilfe von Herd, Ofen, fließendem Wasser, Supermärkten voller Lebensmittel. In all diesen Bereichen und noch vielen weiteren können wir uns tagtäglich mit Problemen konfrontiert sehen, von deren Lösung unser Überleben zwar nicht abhängt, oft nicht einmal unsere Lebensqualität, die unser Gehirn aber trotzdem priorisiert, solange sie nicht geklärt und abgehakt sind.

Ist dies der Fall, besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass wir keine optimalen Entscheidungen treffen, da wir die Situation nicht ganz vernünftig beurteilen: Wenn eine Serie Folge für Folge neue Fragen aufwirft, die wir geklärt haben möchten, fällt es uns schwer, an den nächsten Morgen zu denken, an dem wir ausgeschlafen sein müssten. Wenn wir ein Problem sehen, dessen Lösung außerhalb unseres Einflussbereichs liegt, können wir es nicht mit einem einfachen Wimpernschlag ausblenden und uns um andere Angelegenheiten kümmern oder schlafen gehen. Kurzum: Gelegentlich kommen wir in die Lage, dass wir etwas priorisieren, nur weil es nicht geklärt oder abgeschlossen ist, das wir, wären wir Zuschauer:in dieser Situation, womöglich gar nicht als überaus wichtig einordnen würden. Gelegentlich können wir abends im Bett liegen und nicht einschlafen können, weil uns Probleme durch den Kopf gehen, die zum Teil völlig banal sind. In solchen Momenten erleben wir die Schattenseite des Cliffhanger-Effekts. Doch sie zu erleben, ist vermutlich ein geringer Preis im Verhältnis zu den Vorteilen, die der Effekt in der Vergangenheit für uns gebracht hat und weiterhin bringt und bringen wird. 

Buchcover jung im Kopf
© pr

Professor Doktor Martin Korte ist Neurobiologe und Leiter der Abteilung "Zelluläre Neurobiologie" an der Technischen Universität Braunschweig. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem zelluläre Grundlagen von Lernen und Gedächtnis sowie Wechselwirkung zwischen Immunsystem und Gehirn bei der Entstehung der Alzheimer Erkrankung. In seinen Büchern "Hirngeflüster“, "Wir sind Gedächtnis“ und "Jung im Kopf“ bereitet er Erkenntnisse aus der Hirnforschung alltagsrelevant und für ein breites Publikum auf. Fernsehzuschauer:innen kennen Martin Korte vielleicht aus der RTL-Quizshow mit Günther Jauch "Bin ich schlauer als …", für die er die Fragen entwickelte.

Brigitte

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