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Guilty Pleasures Warum Lebenslust nicht immer nur gesund sein kann

Karina Lübke: Eine junge Frau liegt im Bett und isst Pralinen
© Photographee.eu / Adobe Stock
Es wird mehr geraucht, weniger gekocht und Sport gemacht: Unsere Autorin Karina Lübke beobachtet einen Trend zum Laster und verteidigt ihre kleinen "Guilty Pleasures".

Meine letzten drei Jahre waren wenig berauschend – in jeder Hinsicht. Weder habe ich das Rauchen oder gar Kiffen begonnen, noch meinen moderaten Alkoholkonsum drastisch verändert. Aber ich habe mehr geweint, gegrübelt und gegessen, katastrophierte im Internet und konsumierte dabei zur Beruhigung Chips und Süßigkeiten. Gleichzeitig habe ich mich viel weniger bewegt, was mit dem permanenten "Bleibt zu Hause, trefft euch mit niemandem!" allerdings auch das oberste Gebot der Pandemie war. Alleine mit gewaschenen Händen auf dem Sofa vor einem Bildschirm zu sitzen, schien der sicherste Ort – auch gegen innere Unsicherheit in diesen beängstigenden Zeiten, als "draußen" von einem Tag auf den anderen die Regeln bisher normalen Verhaltens nicht mehr galten und man Mitmenschen auf der Straße panisch auswich wie Zombies in einem Computerspiel.

War das gesund? Ja – und nein. Eher die unterste Kategorie von Selfcarearbeit. Und wie bei vielen auch eine Lifestyle-Zeitenwende.

Die Coronazeit hat die moderne Illusion von Autonomie und Selbstwirksamkeit bloßgelegt. Wir waren es so gewohnt, alles selber bestimmen, bewegen und planen zu können, vom Urlaub bis zum nächsten Karriereschritt. Doch plötzlich mussten wir zum ersten Mal in unserem Leben schockartig erkennen, dass auch im modernen Alltag und trotz aller Informationen relativ wenig planbar ist; vor allem in Relation zu der unfassbar großen Anstrengung, alle Gefahren vorauszusehen und in Schach zu halten. Nicht mal mehr eine Fahrt von Hamburg an die Nordsee war mehr machbar!

Wo bleibt das Erfolgserlebnis?

Wir haben uns an alle Regeln gehalten, egal, wie absurd die waren (ich sag nur Joggen im Wald mit FFP2-Maske!), und trotzdem lief und läuft es immer weiter in die falsche Richtung: Auf Corona folgten Krieg, Inflation, Erdbeben – und ein Happy End ist noch nicht in Sicht. "Stapelkrise" nennen Psychologen das. Es mangelt schon zu lange an Erfolgserlebnissen und positiven Zukunftsaussichten. Und irgendwann waren dann wirklich alle seelisch durch: Bringt ja eh nix! Nihilismus statt Optimismus. Die Gesellschaft ist zu dauergestresst, um auf ihre Gesundheit zu achten. Denn da sind zu viele andere Baustellen.

Vor Sorge um die Gegenwart blieb die Vorsorge auf der Strecke. Das untermauern auch viele Studien: Zum ersten Mal seit Jahren rauchen wieder mehr Menschen – gerade junge Frauen, bei denen sich die Quote innerhalb eines Jahres verdoppelt hat. Bei den 18- bis 24-Jährigen sogar 40,8 Prozent. Eine modische (Un-)Art von Todesverachtung? Als Rauchen das letzte Mal schick war, wusste man noch nicht so detailliert um die gesundheitlichen Gefahren.

Ich denke, auch die überraschend aufgetretene Nostalgie könnte den Trend zum Ungesunden befeuern: Laut einer Umfrage sehnen sich 56 Prozent der jungen Menschen zwischen 18 und 34 nach einem Leben in den guten alten 80ern und 90ern, statt sich auf die Zukunft zu freuen. Ach, einmal so schön sorglos sein wie damals Kate Moss, betrunken, auf Koks und mit Zigarette in der Hand! Und die lebt sogar immer noch!

Gleichgültigkeit: Der neuer Trend

Kein Wunder, dass nun auch der schlechte alte "Heroin-Chic"-Look wieder da ist, man sieht ihn gerade oft bei Tiktok. Gleichgültigkeit scheint cooler geworden als Gesundheit. Wenn es keinen klaren Zusammenhang mehr gibt zwischen Disziplin, Wohlverhalten und Gewinnausschüttung, ist ersatzweise alles willkommen, was die Lebenslust am Funzeln hält. Das aus Diäten hinlänglich bekannte Prinzip der aufgeschobenen Belohnung im Gegensatz zur spontanen Bedürfnisbefriedigung funktioniert am besten in friedlichen Zeiten. Wer weiß schon, was morgen is(s)t?! Einfach nur mal wieder einen Moment Spaß haben, alle Sorgen vergessen, genießen, lachen, nicht dauernd an die Folgen denken. Alkohol, Zucker, Zigaretten und fette Pizza vom Lieferdienst sind nicht nachhaltig gut, aber kurzfristig richtig geil. Und auch das optimierteste Leben endet mal, wenn auch als schadstoffärmste Leiche auf dem Friedhof.

Im Zuge der Coronapandemie und ihrer Maßnahmen ist die Lebenserwartung in vielen Ländern laut einer Studie der Universität Oxford so stark gesunken wie seit dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa nicht mehr – bei Männern sogar noch stärker als bei Frauen. Zwei Drittel der Deutschen klagen über eine schlechtere Gesundheit als vor der Pandemie. Geschlossene Fitnessstudios, Einsamkeit, unergonomische Einrichtung im behelfsmäßigen Homeoffice – all das führt eben unter anderem zu Gewichtszunahme, Kurzatmigkeit, Rücken- und Nackenschmerzen. Star-Koch Jamie Oliver beklagt, dass nach den Lockdowns weniger Menschen frisch kochen als zuvor. Und 25 Prozent mehr Fälle von Depressionen und Angststörungen weltweit, das war bereits nach einem Jahr Corona das Fazit der Weltgesundheitsorganisation. Jetzt dürften es noch viel mehr sein. "Es ist ein Brauch von alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör", dichtete schon 1865 Satiriker und Zeichner Wilhelm Busch, der Urvater der Bad Boys Max und Moritz.

Allgemein scheint eine gewisse Disziplinlosigkeit schick geworden: Unter dem hashtag #guiltypleasure beichten auf Instagram überwiegend weibliche Sündenböckchen. Die dort offen gestandenen "Sünden" haben mich allerdings schwer enttäuscht: Während die schrägsten Fetische heutzutage bitte als normal angesehen werden sollen, werden völlig normale und gute Sachen hier in Form von Memes als Sünde gestanden: "Mein 'guilty pleasure' ist es, gemütliche Kleidung zu tragen, eine Duftkerze anzumachen und im Bett ein gutes Buch zu lesen. Also, bitte – Sünden waren auch schon mal sündiger! Ist es DAS, womit man später im Altersheim angeben will?

Es lenkt so schön ab

Na gut, meine lächerlichen Sünden waren auch nicht besser, beziehungsweise cooler. Hiermit gestehe ich, während der letzten drei Jahre viel zu viel Zeit mit Minispielen auf meinem Handy verballert zu haben. Habe monoton gleichfarbige Bläschen oder Juwelen platzen lassen oder "Angry Birds" auf Comicschweine geschleudert.

Klar ist mir das peinlich! Hey, während all dieser verspielten Zeit hätte ich auch Spanisch lernen können oder mir die Grundzüge von Koreanisch draufschaffen! Aber es lenkte mich so schön von dem Dauerfeuer schlechter Nachrichten und Sorgen ab und hatte etwas unfassbar Meditatives, Beruhigendes. Genau wie das Crémant-gestützte Bingewatchen von "Emily in Paris". In Zeiten der überspannten Nerven war das die am schnellsten verfügbare Therapie.

Eine Freundin von mir war dagegen durchweg #ThatGirl – nämlich, die, die ihr Dasein perfekt plant und ausführt, alles unter Kontrolle hat und dabei auch noch toll aussieht. Sie hasst Bitterschokolade, isst aber trotzdem höchstens Hochprozentige, weil die wegen der Polyphenole so gesund sei. Ja, DIESER Typ ist sie.

Selleriesaft ist keine Garantie auf eine glückliche Zukunft

Mittlerweile hat aber selbst sie miterleben müssen, wie die Realität ihren theoretischen Idealen in die Kniekehlen getreten hat: Es gibt trotz Selleriesaft am Morgen leider keine Garantie auf 90 Jahre Glück und Wohlbefinden. Seit einiger Zeit überrascht sie mich nun mit hedonistischen Verhaltensweisen – etwa einer permanenten Vorratshaltung leckerer Pralinen – darunter sogar mit Gin oder Grappa gefüllte, die das Hipster-Äquivalent zu Omas Weinbrandbohnen sind. Als ich sie vorsichtig darauf ansprach, lieferte sie folgende überraschende Erklärung: "Wenn du etwas Ungesundes SEHR genießt, dann schadet das deinem Körper nicht, im Gegenteil!" Das scheint mir mehr Wunschdenken als Wissenschaft, aber wer weiß das heute schon noch sicher? Ich glaube, sie ist da was Großem auf der Spur: dem gesunden Mittelweg.

Karina Lübke trennt Müll und Wörter in Hamburg. Ihre liebsten Guilty Pleasures sind ihr Auto und Schlafen erst nach Mitternacht.

Brigitte

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