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Gemütlichkeit Meine Komfortzone und ich – Beziehungsstatus kompliziert

Gemütlichkeit: Frau mit Tee auf dem Sofa
© Westend61 / Getty Images
Wo liest du diesen Text gerade? Gemütlich auf dem Sofa? Dann treffen wir uns also geistig dort, wo es schön und bequem ist: im Auenland. Bitte, bleib sitzen – kein Grund, schuldbewusst hochzuschrecken. Wer sagt, dass ein Leben voller Challenges besser ist?

Ja, ich weiß, Komfortzone klingt heutzutage so sexy wie Komfortsessel, Komfortschuhe und Komfortbündchen an der Stretchhose: verboten alt, ängstlich, faul, langweilig, schwach und unkreativ. Erst gestern hörte ich im Küchenradio wieder einen Beitrag, in dem irgendein Persönlichkeitsentwickler dazu aufforderte, dieses Jahr aber wirklich "seine Komfortzone zu verlassen", um über sich hinauszuwachsen. Ich dachte nur: Und dann? Wachsen wohin? Und wozu eigentlich?

Eine Herausforderung nach der nächsten

Permanentes Wachstum allein ist noch kein Ziel, das tun Krebszellen schließlich auch. Doch das wird in Zeiten des globalen Turbokapitalismus kaum hinterfragt. Ob auf Instagram oder als Podcast, überall lauern "Challenges": Herausforderungen zum Abnehmen, Marathonlaufen, zum Dem-Alkohol-Abschwören, zum Selbstoptimieren oder für den nächsten Karrieresprung. Pausen fürs Ich sind da nicht drin. Wie rege ich mich über diese Bindenwerbung auf, in der eine Eiskunstläuferin behauptet, sie wolle always gepampert auch an ihren Tagen hundert Prozent geben. Nein, Mädchen, das willst du sicher nicht: Wie jede andere willst du mit einer Wärmflasche auf dem Sofa abhängen und Eis essen. Außerdem: Wenn man immer hundert Prozent gibt, was bleibt einem dann? Nichts.

Seit wann und warum ist es eigentlich peinlich, es schmerzfrei schön haben zu wollen? Die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte hätten unsere Vorfahrinnen und Vorfahren vermutlich geweint vor Glück, in einer verlässlichen Komfortzone leben zu dürfen. Waren Sicherheit und Geborgenheit statt täglicher Überlebens-Challenge nicht immer die große Motivation zur Weiterentwicklung der Menschheit? Der Traum vom Eden auf Erden – deswegen wurden doch Waschmaschine und Geschirrspüler erfunden, Elektrizität und Autos. Heizbare Wohnungen statt zugiger Höhlen, Vorratslager und Kühlschränke statt permanenter Angst vor Hunger, Entspannung statt permanenter Sorge und Anspannung.

Nein, die Komfortzone sollte nicht als Ort gelten, den moderne Menschen kaum erwarten können zu verlassen – quasi die Eselsecke der Persönlichkeitsoptimierung. Unser Reptiliengehirn braucht gefühlte Sicherheit. Wer permanent im Kampf- oder Fluchtmodus ist, bleibt im Tunnelblick stecken und macht sich deswegen auch noch Vorwürfe. "Spreng deine Grenzen!"-Coachingmethoden klingen für den Verstand zwar verführerisch, wirken aber auf Körpersysteme mit unerfüllten Sicherheitsbedürfnissen retraumatisierend. Innerer Widerstand ist stets eine mehr oder weniger bewusste Eigenschutzmaßnahme; da sollten Leute vorsichtig sein mit Ratschlägen zur forcierten Persönlichkeitsentwicklung (Bungeespringen! Feuerlaufen! Heiraten!).

Jede:r zieht die Grenzen unterschiedlich

Übrigens ist die Komfortzone nicht statisch, sondern von Mensch zu Mensch verschieden. "Was wir Komfortzone nennen, ist in Wahrheit ein Persönlichkeitsanteil, der sich aufgrund unserer Erfahrungen und Begegnungen im Laufe unseres Lebens ausgebildet hat", sagt die Hamburger Psychotherapeutin Katja Gley. "Deswegen ist sie so individuell wie der Fingerabdruck: Manche haben in Sachen Komfortzone einen weiten Radius und mehr Risikobereitschaft, bei anderen sind die Grenzen eng gesteckt, schon ein minimales Abweichen von den alltäglichen Abläufen bringt sie außer Balance und an den Rand der Verzweiflung." Das kann man bei etlichen Trash-TV-Shows sehen, deren Konzept es ist, "Prominente" genau dabei vorzuführen, während sich die Zuschauer in ihrem Sofa-Sicherheitsbereich gleich doppelt wohlig fühlen.

So ist die persönliche Komfortzone etwas sehr Intimes und Abbild dessen, wie man in seinem Leben mit Erfahrungen, Herausforderungen – und letztlich sich selbst umgegangen ist. Angst als Begleiter ist übrigens kein feiges Trottelgefühl, sondern unser überambitionierter Bodyguard. Auch weil Misserfolge hierzulande schlecht aufgenommen werden: Bewundert werden nur Heldengeschichten und Siege. Bei jedem Risiko muss man Fehlschläge einkalkulieren und notfalls verkraften können.

Diese Resilienz ist nicht jedem gegeben – und vor allem nicht in jeder Lebensphase. Sind wir nach gut zwei Jahren Corona, dem Krieg vor unserer offenen Haustür, 24/7-Anwesenheit im Internet, Flüchtlingsströmen und Mega-Inflation nicht eh alle gerade bis an den Rand des Erträglichen "gechallengt"? So viele Sicherheiten und Gewohnheiten sind weggefallen. Immer schneller werden wir aus nahezu all unseren gewohnten Komfortbereichen geschleudert: beim Blick aufs Konto, beim Tanken, beim Heizen, beim Helfen. Nie war ein geschützter Ort innen wie außen so wertvoll. I’ve been looking for Frieden!

Ohne Sicherheit keine Gemütlichkeit

Sicherheit ist ein grundlegendes Bedürfnis von uns Menschen, man muss es sich erst mal leisten können, das spießig zu finden. Erst danach kommen auf der berühmten "Maslowschen Bedürfnispyramide" weitere Motivationsstufen wie Sozialbedürfnis, Anerkennung, Wertschätzung hinzu – und zuletzt, als Sahnehäubchen menschlicher Entwicklung, die Selbstverwirklichung. Aktuell scheint die Pyramide auf der Spitze zu stehen: Selbstverwirklichung soll alle anderen Bedürfnisse bevormunden. Nach dem Motto: Du fühlst dich total unwohl bei etwas? Super, dann bist du auf dem richtigen Weg! Echt jetzt?

Die meisten Frauen wären schon froh, überhaupt eine Komfortzone zu haben. Psychisch wie körperlich. Sie sind sozialisiert, permanent über ihre Grenzen zu gehen beziehungsweise diese gar nicht wahrzunehmen, um andere zufriedenzustellen. Ob sich die vergrippte Mutter in der Werbung mit Tabletten dopt, weil das Kind mit ihr im Schnee spielen will ("Mütter nehmen sich nicht frei!"), oder die Ehefrau sich unwohl fühlt, weil ihr Partner drängt, sie möge ihre "spießige" Komfortzone endlich mal verlassen, um ihn in den Swingerclub zu begleiten oder Praktiken zu erdulden, die sie abolut ablehnt.

Dagegen ist "eine Komfortzone im Sinne von: Ich weiß, was mir guttut, ich bin sicher und kann mich fallen lassen, im Sinne eines Safe Place, ein guter Ausgangspunkt, um sich neu zu entdecken und auszuprobieren – wenn man Lust drauf hat", ergänzt Therapeutin Katja Gley. Sich in Sicherheit zu fühlen ist also keine psychische Hängematte, sondern ein Sprungtuch in neue Abenteuer. Denn erst, wenn man sich entspannt und vertraut, hat man den Kopf frei, um neue Wege zu sehen und zu gehen.

In der Lage sein, sich abgrenzen zu können

Für sinnlose Mutproben bin ich zu alt. Aber wie erkenne ich, aus welchen Motiven es sich wirklich lohnt, meine gemütliche Sicherheitszone zu verlassen? Von fremden Ansprüchen gesteuert, vom Optimierungswahn getrieben – oder weil ich den inneren Wunsch habe, mal was Neues zu erleben? Die Zeichen stehen auf Los, wenn man mehr Aufregung als Angst verspürt, Dinge und die eigenen Fähigkeiten und Kräfte auszuprobieren. Das fühlt man, wenn man in Resonanz mit den eigenen Bedürfnissen geht, den Körper als Kompass nutzt. Und sich abgrenzen kann.

Mein Vater sagte einmal, als ich sehr jung und er so alt war wie ich jetzt, bei einer unserer hitzigen Diskussionen statt der üblichen Gegenrede ganz ruhig zu mir: "Ist ja möglich, dass du recht hast. Aber das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass fast alles, was ich in meinem Leben bisher für richtig gehalten habe, falsch war. Dafür bin ich zu alt. Das ist mir zu anstrengend." Er hatte damit seine Komfortzone klar umrissen, und ich habe das respektiert.

Heute verstehe ich ihn sogar ein bisschen: Auch mein Spirit Animal scheint mittlerweile das Gewohnheitstier zu sein. Wenn das Leben plötzlich an meiner Haustür Sturm klingelt und fragt, ob ich zum Spielen rauskommen will, gehe ich in mich; fühle ehrlich in meine austrainierten Abwehrmechanismen hinein: Ist da ein Zündfunke Aufregung? Neben der Nervosität auch Vorfreude und Neugier auf die Geheimnisse und Wunder der Wildnis da draußen, jenseits des warmen Lichtkegels meiner seelischen und geistigen Nachttischlampe? Dann bin ich innerlich schon auf dem Weg. Oder will ich einfach nur, dass das Klingeln aufhört? Dann ignoriere ich es.

Auf das "Warum" kommt es an

"Für echte Weiterentwicklung muss immer eine intrinsische Motivation vorhanden sein, ein Feuer, das innerlich brennt und Antrieb gibt, Komfortzonengrenzen zu überschreiten. Ohne ein starkes Warum wird das nicht gelingen", bestätigt Katja Gley. Das ist das Gegenteil von dem, was der globale "Just do it"-Turbokapitalismus seit Jahrzehnten erzählt: um jeden Preis in Bewegung bleiben, immer neue Herausforderungen bewältigen, ständig noch mehr wollen. Wer rastet, der rostet. No pain, no gain. Aber wie groß kann der Lohn für andauernde Wachstumsschmerzen sein? Und wieso ist es spießig, einfach zu bleiben, wer und wo man ist?

Mindestens drei Monate außerhalb der gewohnten Schaltkreise braucht es, bis ein neuronaler Gewohnheitsmodus einsetzt, der alltägliche Entscheidungen wieder stress- und energiesparend automatisch abarbeitet. Neues will erst normalisiert werden. Das ist aufregend, anregend und aufreibend. Ehe man sich verändert, egal ob innerlich oder räumlich, sollte man ein starkes Leitmotiv haben.

"Wir werden Elben sehen!" ist die Motivation, die den sein Heim und seine Ruhe liebenden Hobbit im "Herrn der Ringe" schließlich aus dem Auenland ins Abenteuer aufbrechen lässt. Was also könnten meine persönlichen Elben sein? Oder spricht alles in mir dagegen? Dann bleibe ich mir treu und zu Hause, egal wie irrelevant meine Gründe auf andere wirken mögen. Zufrieden und dankbar, ein Komfortzonenkind sein zu können.

Dieser Text stammt aus der BRIGITTE WOMAN.

Brigitte

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