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Familienaufstellung: Was bringt das wirklich?

Familienaufstellung: Was bringt das wirklich?: Familie
© Monkey Business Images / Shutterstock
Es gibt viele Wege, um sich selbst besser kennenzulernen – und dabei einige, die erst mal seltsam wirken. Zum Beispiel: Familienaufstellungen. Sie boomen, sind aber auch umstritten. Die Münchnerin Jenny Ritter wollte es trotzdem ausprobieren – wegen einer drängenden Frage ans Leben.

Mein Problem? Der (fehlende) Kinderwunsch in meiner Beziehung

Ich bin Mutter.Jedenfalls für die nächsten 60 Minuten. Birgit* hat mich gefragt, ob ich die Rolle ihrer Mutter übernehmen möchte, und das ging mir durch und durch. Denn genau deshalb bin ich hier, in diesem hellen, schlicht möblierten Seminarraum in München: Weil ich Mutter werden möchte. Und mir mein Freund Jan, der mir sonst alles gibt, was ich brauche, diesen Wunsch verweigert. Ich werde bald 34. Und nun? Ihn verlassen? Ihn austricksen?

Eine Kollegin hatte mir geraten, den Blick mal weg von Jan und in meine eigene Vergangenheit zu richten. Leichen im Keller besichtigen, familiäre Verstrickungen, verdrängte Gefühle: Das alles könne eine Familienaufstellung wie ein Blitzlicht erhellen.

Sie nannte mir einen Coach, seine Website sah Vertrauen erweckend aus: ein freundlicher, ergrauter Naturbursche, der wirkte, als könne er gut zuhören und genau hinschauen. Seine Vita war lang – Heilpraktiker für Psychotherapie, ausgebildeter Coach –, und dass viele seiner Wochenend-Seminare ausgebucht waren, sprach auch für ihn. Ich sollte, so stand es in der Anmeldung, bis zum Workshop meine innere Frage formuliert haben. Ich musste nicht lang überlegen: Ist es nur Jan – oder steht auch von meiner Seite etwas dagegen, dass wir Eltern werden?

Regisseur*in des eigenen Lebens sein

Je näher der Termin rückte, desto mehr wuchsen Neugier und Skepsis: Ob es etwas bringt, wenn ich Gruppenmitglieder als Stellvertreter*innen für Partner, Eltern, Geschwister, Großeltern in den Raum stelle? Ohne dass die Bescheid wissen über das Schicksal der anderen?

Denn genau darum geht es: "Vater, Mutter, Kind" für Erwachsene. Jeder darf in der Familienaufstellung Regisseurin oder Regisseur seines eigenen Lebens sein, mal Mitspielerin oder Mitspieler, und seine Angehörigen so aufbauen, wie er oder sie sie gefühlsmäßig erlebt: die fordernde Mutter im Nacken, den liebevollen Freund als Mensch, der stützt. Was die Teilnehmenden in diesem Moment empfinden und äußern, soll Hinweise auf Verdrängtes, Unausgesprochenes geben. Aber kann das wirklich mehr sein als Küchenpsychologie: Ah, oh, meine Eltern haben mich nie richtig wahrgenommen, die stelle ich mit dem Rücken zu mir auf, wie symbolisch?

Elf Teilnehmer*innen sind wir, darunter drei Männer. Am ersten Abend – Yogakurs-Atmosphäre mit Meditationsmusik und Kräutertee – stellen wir uns und unsere Anliegen vor. Unser Coach wird ein wenig salbungsvoll, lässt uns darüber sinnieren, wie viel Liebe wir in unserem Leben bisher erfahren haben, und ich fühle mich wie auf dem Kirchentag.

Es wird magisch, faszinierend, verstörend

Doch am nächsten Morgen geht es zur Sache: Gleich in der ersten Aufstellung bittet mich Birgit, ihre Mutter zu repräsentieren. Die Stühle stehen im Kreis, ich folge ihr ins Zentrum und bekomme akutes Lampenfieber. Wie soll ich verstehen, woher die Unwucht zwischen den beiden kommt, ich kenne sie doch gar nicht! Was, wenn ich Birgit enttäusche und nichts fühle? Sie postiert mich in der Mitte, zwei Meter weiter Tanja* als Stellvertreterin für sich selbst, die mir – trotzig? ängstlich? – den Rücken zuwendet. "Stimmt das so für dich?", fragt der Coach Birgit. Sie nickt beklommen. Im gleichen Moment passiert etwas, das sich schwer beschreiben lässt. Außer mit wolkigen Vokabeln: magisch, faszinierend, verstörend. Etwas kommt in mir in Bewegung. Traurigkeit, Anlehnungsbedürfnis. 

Warum möchte ich am liebsten auf Tanja zuwanken und mich auf sie stützen? "Wie geht es dir gerade, Tanja?", fragt der Coach. Tanja zuckt die Schultern und wirkt wie eine Schnecke, die sich zusammenrollen möchte. "Mein Nacken tut auf einmal weh", sagt sie.

Wir surfen auf einem Strom von Gefühlen

Im nächsten Schritt geht es um die Frage, was den Druck lindern könnte. Unser Coach fordert Tanja und mich auf, auszuprobieren, wie wir uns wohler fühlen: Position wechseln, Blickrichtung, Körperhaltung? Vielleicht näher nebeneinander? Viel besser. Am Ende soll Birgit ihrer Stellvertreterin danken und sich dann an ihre Stelle stellen. Birgit sagt, es fühlt sich richtig an. Das neue sichere Gefühl wird sie mitnehmen in das nächste schwierige Mutter-Tochter-Gespräch.

Bei vielen der Teilnehmer*innen geht es um Konflikte, wie sie viele Menschen kennen. Bei anderen ist der Leidensdruck konkret. Eine Frau trauert um ihre zu früh gestorbenen Eltern, eine um einen verstoßenen Bruder. Immer wieder fange ich an zu weinen, auch wenn die Fragestellung ganz fern von mir ist. Manchmal, wenn andere mich als Stellvertreterin bestimmen, manchmal auch nur beim Zuschauen.

Schon bald fühle ich mich wie leckgeschlagen. Außerhalb dieses Raumes, im Alltagsleben, bin ich eher beherrscht, nun surfe ich auf einem Strom von Gefühlen: Liebe, Wut, Trauer, Sehnsucht. Es fühlt sich rauschhaft an, sich so treiben zu lassen, rauschhaft und heilsam. Auch das ist magisch. So scheint es auch den anderen zu gehen, in den Pausen wird nach den ersten Aufstellungen wieder gelacht. Der Strom trägt uns alle, keiner geht unter.

Wirklich keiner? Levke*, die am nächsten Morgen den Anfang macht, wirkt wie eine der stabilsten unter uns, sie ist der Typ, der morgens vor der Arbeit schnell eine Runde Blechkuchen für den Fußballverein backt.

Aber was für ein Schicksal. Per Zufall hat sie erfahren, dass ihre vermeintliche Schwester ihre Mutter ist. Vor 40 Jahren auf dem Dorf haben sie die Teenager-Schwangerschaft nach Kräften vertuscht, nun zerreißt es Levke förmlich beim Versuch, aus den Trümmern der Lügengeschichte ihre Identität auszubuddeln. "Ich wähle dich als meine ältere Schwester", spricht sie eine Teilnehmerin an, und der Coach korrigiert sanft: "Sag: als meine Mutter." Sie wird immer unsicherer, windet sich unter seinen freundlichen Worten. Später nimmt er sie beiseite und bietet ihr Hilfe an bei der Suche nach einem dauerhaften Therapieplatz. Zu viel Abgrund für ein einziges Wochenende.

Bei meiner Familienaufstellung fallen mir vergessene Geschichten ein

Schließlich bin ich dran mit meinem Anliegen. Ich hole zu meiner Familiengeschichte aus, weil die doch angeblich Teil des Problems ist. Aber der Coach stoppt meinen Redeschwall. "Such dir Stellvertreter für deinen Partner und dich." Huch: so ein Mini-Cast? Ich dachte, es geht um das Gesamtsystem! Den Mann wähle ich, weil er einer der attraktiveren ist, die Frau, weil mir ihr Shirt gefällt, und fühle mich dabei sehr oberflächlich. Dann drehe und wende ich die beiden so lange, bis sie in seine Richtung schaut und er an ihr vorbei. Stimmt so. War’s das schon? Nein: "Jetzt bestimmst du einen Stellvertreter für deinen Vater."

Das erwischt mich kalt. Kann unser Coach nicht wissen, aber: Meine Eltern haben sich früh getrennt, mein Vater hat mich oft enttäuscht, unser Kontakt beschränkt sich auf Weihnachtskarten. Bitte: Warum gerade er, und noch dazu als Erster? Trotzig wähle ich einen Teilnehmer, der in fast allem das Gegenteil meines Vaters ist: klein, lichte Haare, gemütliche Ausstrahlung. Nur das Alter stimmt. Doch als ich ihn ein Stück von meiner Stellvertreterin entfernt stelle, sacken ihm plötzlich die Beine weg, scheinbar grundlos. "Ich fühle mich ganz schwach", sagt er verblüfft. Und kniet sich auf den Boden. Was passiert da?

Nun soll ich wiederum seinen Vater hinter ihn stellen. Es bleibt nur der Mann in der Runde. Was macht der? Er sackt ebenfalls zusammen. Wie ein Soldat, der fällt. Mir wird übel. Weil mir plötzlich ein Teil meiner Familiengeschichte wieder einfällt. Mein Vater hat als kleiner Junge nach Kriegsende mit angesehen, wie seine Mutter vergewaltigt wurde. Der Ehemann war vermisst und verschollen.

In diesem Raum, ein Dreivierteljahrhundert später, empfinde ich zum ersten Mal echtes Mitleid mit dem hilflosen Kind, das er war. Muss ich mich am Ende mit meinem Vater aussöhnen, um Mutter werden zu dürfen? Verstehen, warum er mir nie Rückendeckung geben konnte – weil er selbst keine bekommen hat? Alten Groll loslassen, um die Hände frei zu haben für Neues?

Die Familienaufstellung bringt uns weiter

Am Ende ist meine Familienskulptur auf fünf Personen angewachsen. Ich stehe schluchzend zwischen den Platzhalter*innen meiner Eltern und spreche dem Coach Sätze nach, die wie Beschwörungsformeln klingen. "Ich danke euch dafür, dass ihr mir das Leben geschenkt habt. Eines Tages, wenn ich darf, schenke ich es weiter." – "So", sagt er zufrieden. "Jetzt dreh dich mal um. Da steht noch jemand." Mein Ersatz-Jan! Den hatte ich völlig vergessen. Ich falle dem Fremden um den Hals und denke: Vielleicht schaut nicht er an mir vorbei. Sondern ich an ihm, in Richtung ungelöster Vergangenheit. Wie kann ein Coach so etwas ahnen? Er zuckt die Schultern: "Intuition? Erfahrung?"

Ein Jahr ist es her, dass ich durch das Tal der Tränen gegangen bin. Instant-Erleuchtung? Allerdings. Instant-Problemlösung? Weniger. Aber ich merke, dass Jan und ich uns mehr öffnen, andere Fragen stellen, uns anders im Blick haben. Ja: Ein Kind mit ihm wäre für mich der Hauptgewinn. Das kann eine Familienaufstellung auch nicht herzaubern. Aber dass ich mein eigenes Los anders zu schätzen weiß, meine Vergangenheit, unser gemeinsames Leben: Das ist viel wert.

*Unsere Autorin heißt in Wahrheit anders, die anderen Teilnehmer auch. Sie haben sich versprochen: Was in dieser Gruppe passiert, bleibt privat. 

Was man über Familienaufstellungen wissen muss

Wer hat die Methode entwickelt?

Sie geht zurück auf Bernd Hellinger, Jahrgang 1925, ehemals katholischer Priester. Seine Annahme: Die Mitglieder einer Familie – auch bereits Verstorbene, Ausgestoßene oder ungeborene Kinder – sind emotional miteinander verknüpft. Psychische wie körperliche Krankheiten Einzelner sind ein Symptom dafür, dass diese Verbindungen gestört sind. Ähnliche Ansätze verfolgen auch ältere Selbsterfahrungsmethoden, wie etwa das Psychodrama.

Kritik zog Hellinger nicht nur wegen seines sehr konservativen Familienbildes auf sich, sondern auch, weil der heute 93-Jährige bei Aufstellungen vor Publikum zu harschen Schnelldiagnosen und Schuldzuweisungen neigte und wenig Raum für Widerspruch und eigene Deutungen ließ. Heute distanzieren sich viele Anbieter*innen (rund 2000 in Deutschland) von der Person Hellingers, die Grundzüge der Methode sind jedoch gleich geblieben. 2008 wurde sie vom Psychotherapie-Beirat der Bundesärztekammer anerkannt, ihre Wirkung ist ansatzweise empirisch belegt. Mittlerweile werden Aufstellungen auch im Bereich Business-Coaching genutzt, weshalb eher die Rede von "Systemaufstellungen" ist – ein Begriff, der auf Arbeitsteams genauso passt wie auf Familien. Verschiedene Varianten sind möglich, auch im Rahmen von Einzeltherapien oder mithilfe von Spielfiguren.

Was spricht dafür?

  • Die gestellten Szenarien sind oft sehr eindrücklich und machen ein Problem schneller sichtbar als lange Gespräche.
  • Durch die eigene, aktive Beteiligung wird eine mögliche Lösung greifbar.
  • Es ist eine intensive Erfahrung, die innere Blockaden lösen kann, Emotionen freisetzt und eine befreiende Wirkung haben kann.

Was spricht dagegen?

  • Der Begriff ist nicht gesetzlich geschützt, nicht jede*r Trainer*in hat eine fundierte Ausbildung. Vorsicht vor schwarzen Schafen, vor allem aus der Eso-Szene.
  • Unzureichende Nachbereitung, keine Einbindung in einen therapeutischen Prozess.
  • Tagesseminare (um 150 €) und Wochenendseminare (um 250 €) sind keine Kassenleistung.
  • Hände weg bei schweren Lebenskrisen, Suizidgedanken und Psychosen.

BRIGITTE LEBEN!-Fazit:

Systemaufstellungen sind eine Abenteuerreise für psychisch weitgehend gesunde, stabile Menschen und können als Wegweiser in privaten oder beruflichen Konfliktsituationen dienen. Die Erfahrung steht und fällt mit der Person des Trainers oder der Trainerin: Als Qualifikation sollte er oder sie mindestens den Titel "Heilpraktiker*in für Psychotherapie" tragen, besser "Psychologische*r Psychotherapeut*in" oder "Arzt/Ärztin für Psychiatrie und Psychosomatik". Persönliche Empfehlungen helfen zusätzlich, den oder die richtige zu finden. Die Gruppe sollte nicht größer sein als zehn bis zwölf Teilnehmer*innen.

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BRIGITTE Leben! 01/2019

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