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"Ich bin neidisch" – früher verpönt, heute ein Kompliment

Ist Neid ein Kompliment? Eine junge Frau guckt neidisch auf ihr Handy
© fizkes / Shutterstock
Früher war es ein verpöntes Gefühl, für das man sich geschämt hat. Heute ist es eine Art Kompliment, sobald irgendjemand etwas vermeintlich Tolles macht. BRIGITTE-Autorin Ines Schipperges ist schwer genervt vom Phänomen "Fake-Neid".

Meine Freundin M. ist eine von den Leuten, die diesen Satz ständig sagt. Wenn ihre Kollegin ihren gut bezahlten Posten hinschmeißt, um in Australien Äpfel zu pflücken: "Ich bin ja so neidisch!" Wenn ihre Schwester Zwillinge erwartet, ach, wie süß: "Ich bin ja so neidisch!" Wenn ihre Freundin aus Schulzeiten, zwei Mal sitzen geblieben, sich erfolgreich selbstständig macht: "Ich bin ja so neidisch!" Und manchmal jammert M. auch: "Was mach ich denn nur falsch?"

"Ich bin ja so neidisch!" – manchmal übertreiben wir es damit

Falsch? Gar nichts. M. liebt ihren sicheren Job, ihre Wohnung mit den schicken Vintage-Möbeln, sie liebt die Tatsache, dass sie und ihr Freund in angesagten Bars abhängen, die Kombination aus Freiheit und Sicherheit, die ein Leben als Doppelverdienerpaar ohne familiäre Verpflichtungen verspricht. Was sie dagegen nicht liebt, sind Abenteuer, Risiko, Schulden, Langstreckenflüge und Kinderhände, die schicke Vintage-Möbel antatschen. Das vergisst sie allerdings gern mal, sobald irgendjemand irgendetwas tut, hat oder bekommt, was sich irgendwie auch ganz gut anhört. Zumindest auf dem Papier.

Trennung, Liebeskummer

"Mitleid bekommt man geschenkt, Neid muss man sich verdienen", lautet ein Zitat des Journalisten Robert Lembke. Heute bekommt man auch Neid geschenkt. Früher galt Neid als Tabu, als Todsünde gar. Heute ist Neideine gesellschaftlich vollkommen anerkannte Emotion. Und manchmal übertreiben wir es damit. Den Satz "Ich bin ja so neidisch" haben wir alle schon mal gesagt. Ich selbst zum Beispiel, als meine beste Freundin ihren ersten Ironman (3,86 km Schwimmen, 180 km Radfahren, 42 km Laufen) absolviert hat, sich danach zwei Wochen lang kaum bewegen konnte und dennoch vor Glück wie auf Wolken schwebte. Ich habe den Satz gesagt, als ich bei meiner Schwägerin zu Besuch war, die von Berlin aufs Land gezogen ist, um dort Hühner zu züchten. Und ich sagte ihn, als mir ein Freund, der im Stadtamt arbeitet, erzählte, dass er jeden Freitag um zwölf Feierabend mache, um Überstunden abzubauen, "mein Chef zwingt mich sogar dazu!"

Neid von den Sozialen Medien befeuert

Den Satz "Ich bin ja so neidisch" haben wir auch alle schon mal gehört. Ich selbst zum Beispiel, als ich meinen Job kündigte, um in Florenz an meiner Dissertation zu arbeiten. Als ich in Florenz, statt an meiner Dissertation zu arbeiten, doch lieber Pizza, Sole, Dolce Vita genossen habe. Als mein Freund und ich nach der Geburt unseres Sohnes mit ihm um die Welt gereist sind. Als wir beschlossen haben, beide die Arbeit zu reduzieren, um Job und Kind zu teilen. Natürlich: All das sind Dinge, die man sich erst einmal leisten können muss.

Umso abstruser, dass der Satz "Ich bin ja so neidisch" fast immer aus dem Mund derer kommt, die all das tun und haben könnten – aber niemals würden. Weil sie viel zu sehr an ihrem Heimatort hängen. Weil sie viel zu sehr an ihrer Karriere hängen. Weil sie (also ich) viel zu sehr an ihren Auf-der-Couch-ein-Buch-lesen-Abenden hängen, um die für ein knallhartes Training sausen zu lassen. Und weil sie (also ich) kurz außer Acht lassen, dass sie eigentlich panische Angst vor Hühnern, Stempelkissen, Papierstapeln und dem dumpfen Geruch von Misthaufen bzw. Ämtern haben – auch wenn sie (also wir) all das nie zugeben würden.

Diese Form von Neid wird – natürlich – in den sozialen Medien befeuert, die ja eine Fundgrube für alles sind, auf das man neidisch sein kann: schöne Menschen, schicke Menschen, sportliche Menschen. Fernreisen, Alkohol, leckeres Essen oder gesundes Essen, das immerhin lecker aussieht. Gerne findet man "Ich bin ja so neidisch" unter Bildern von Cocktailgläsern, unter Bildern von Sonnenuntergängen oder unter Bildern von Cocktailgläsern vor Sonnenuntergängen, besonders gerne unter denen mit dem (ohnehin gelogenen) Hashtag #nofilter. Ob die Sonne im Indischen Ozean oder hinter der Skyline von Wanne-Eickel verschwindet, spielt dabei kaum eine Rolle. Und dass die Sonne auch dort, wo wir uns gerade befinden, täglich unterzugehen pflegt (einfach mal abends aus dem Fenster schauen), scheinen wir in unserer Welle aus Neid zu vergessen.

Dinge, auf die wir alle so neidisch zu sein SCHEINEN

Menschen müssen entspannt, nüchtern, konzentriert und motiviert sein, um Neid entgegenzuwirken, stellten die Sozialpsychologen Jan Crusius und Thomas Mussweiler von der Universität Köln in einer Studie fest. Heißt: Sobald zu komplexe Gedanken oder zu viel Wein uns zermürben und ablenken, hebt der Neid umso rascher sein hässliches Haupt. Man kann es sich sehr gut vorstellen: Mit einer Hand umklammern wir ein Glas Rotwein, mit der anderen scrollen wir auf dem Smartphone herum, verfolgen mit einem Auge noch die neue Netflix-Serie, während wir versuchen, via WhatsApp die Beziehungsdramen unserer Freunde zu lösen. Kein Wunder, dass Neid als erster Impuls da leichtes Spiel hat.

Ich habe mal eine Liste zusammengestellt von Dingen, die in den weiten Welten des Netzes mit Neid überschüttet werden: der Besuch eines Techno-Open-Air-Konzerts; der Besuch der Berliner Fashion Week; der Besuch der Schwiegermutter (offenbar eine nette); die Fähigkeit, mit viel Lebensmittelfarbe dekorierte Halloween-Plätzchen in Form von Grabsteinen, Totenköpfen oder Zombies herzustellen; Küsschen-Küsschen-Fotos vor dem Strand von Koh Samui mit der besten Freundin; easy peasy DIY-Konfetti für die Kinderzimmerwand; champagnerfarbener Skin Perfector (um 20 Prozent reduziert erworben); die gut sitzende Föhnfrisur von Kristen Stewart; der perfekt auf den Punkt gebratene Kaninchenrücken; ein mit Sprühsahne gemaltes Herzchen auf dem noch kaum vorhandenen Schwangerschaftsbauch.

Müssen wir unser Leben ändern?

Ernsthaft, Leute? Wahrer Neid, so Psychologen, kann schädigen und lähmen, aber auch empören oder anspornen. Unser Lieblingssatz "Ich bin ja so neidisch" hingegen kann und tut nichts davon. Wir wollen dem anderen nichts Böses, fühlen uns selbst aber auch nicht getriggert, haben gar kein Interesse an dem von ihm Erreichten. Er ist eine bloße Reaktion, ein Impuls, ein Automatismus. Ohne Bedeutung und ohne Konsequenz. Statt also lauthals "Ich bin ja so neidisch" zu krähen, sobald irgendjemand irgendetwas macht, was toll klingt, man selbst aber in Wahrheit nicht mit rosa Schleife umwickelt geschenkt haben wollte, sollten wir uns lieber überlegen, woher dieser Fake-Neid gerade kommt.

Vielleicht fehlt in unserem gemütlich eingerichteten Leben gerade tatsächlich etwas. Vielleicht haben sich unsere Prioritäten still und leise verschoben, vielleicht pflegen wir geheime Sehnsüchte. Vielleicht sind wir einfach nur neidisch darauf, dass sich bei den anderen etwas ändert, und vielleicht ist es ein Hinweis, dass wir auch in unserem Leben etwas ändern könnten oder sollten. Aber dann so, dass es zu uns selbst passt – nicht zu den anderen. Meine Freundin M. hat vor Kurzem eine neue Stelle angenommen. Sie ist begeistert: "Wahnsinnig spannende Kunden, Diensthandy, Dienstwagen mit eigenem Tiefgaragenparkplatz", zählt sie auf.

Gerade will ich "Ich bin ja so neidisch" sagen, da zuckt in meinem Kopf ein Bild auf, wie ich am Steuer des Dienstwagens sitze, verzweifelt versuche, aus dem Tiefgaragenparkplatz auszuparken und gleichzeitig auf dem Handy einen wahnsinnig spannenden Kunden zu erreichen. Wie ich das Lenkrad herumreiße, das Handy fallen lasse, den Kunden schimpfen höre und mit Karacho das Auto gegen die Wand setze. Ich lächle und sage: "Wie schön – für dich!"

BRIGITTE 12/2019

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