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Eltern-Kind-Beziehung Melde dich!

Eltern-Kind-Beziehung: eine Mutter und ihre erwachsene Tochter sitzen Arm in Arm auf einem Sofa
© fizkes / Adobe Stock
... sagt die Mutter am Telefon – und wir sind genervt. Gerade weil wir alle immer länger leben, ist es wichtiger denn je, am Verhältnis zwischen den Generationen zu arbeiten.

Neulich stand ich auf einem Gartenfest in einer Runde von Frauen sehr unterschiedlichen Alters. Schon beim ersten Glas Weißwein redeten alle über ihre Eltern: Die etwa 30-Jährige fährt demnächst mit Freund und Eltern in den Sommerurlaub nach Dänemark. Sie freut sich zwar, weiß aber auch, dass es spätestens wenn es darum geht, wer im Ferienhaus den Abwasch erledigt, das übliche Gerangel geben wird. Die 40-Jährige findet ihre Eltern übergriffig, sie wüssten alles besser und hätten kaum Zeit, auch mal auf ihre Enkel im Kleinkindalter aufzupassen. Die 50-Jährige streitet mit ihrer alten Mutter, die schlecht sieht, aber gern schnell Auto fährt. Und die 60-Jährige sorgt sich um ihren dementen Vater, der schon lange krank ist.

Trotz der unterschiedlichen Geschichten sind wir uns unter bunten Lichterketten rasch einig: Eltern sind nett, aber immer wieder auch ganz schön nervig. Viel zu häufig fällt man in ihrer Gegenwart durch einen Zeittunnel, fühlt sich klein und angreifbar wie ein Kind und ringt darum, auf Augenhöhe zu bleiben.

Das Hadern mit den Eltern ist natürlich erst einmal ein psychologisches Problem. In vielen Psychotherapien geht es unter anderem darum, Wut auf die Eltern auszusprechen, Vater und Mutter auch mal zu enttäuschen und Verhaltensmuster aus Kindertagen zu hinterfragen. Oft lernt man außerdem, auf scheinbar harmlose Eltern-Sätze, die einen immer wieder aus der Kurve tragen, erwachsener zu reagieren als bisher – sei es nun "Bist du sicher, dass du das kannst?" oder "Meldest du dich auch mal wieder ..." Der Psychoanalytiker Howard Marvin Halpern hat es mal so formuliert: "Von einem Erwachsenen erwartet man, dass er sich selbst besitzt." Ein schöner Satz. Und ein hoher Anspruch.

Dass wir ihn heute gefühlt lebenslang immer wieder neu erobern müssen, bedeutet aber nicht, dass wir infantiler geworden wären. Es hat mit der Langlebigkeit unserer Gesellschaft zu tun. Die Beziehung zu den Eltern besteht schlicht länger. Laut Studien liegt die fernere Lebenserwartung, also die Zeit, die Menschen voraussichtlich ab 60 Jahren noch leben werden, für Frauen heute bei 25,9 Jahren, für Männer bei 21,8 Jahren. Das sind über zehn Jahre mehr als noch vor einem Jahrhundert. Eltern und ihre erwachsenen Kinder gehen heute also einen weiten Weg zusammen und justieren in verschiedenen Phasen Nähe und Distanz immer wieder neu. So weit, so gut.

Der demografische Wandel

Klar ist aber auch: Der demografische Wandel bildet sich nicht nur in Statistiken ab, sondern hat auch Auswirkungen auf die sozialen und seelischen Dynamiken in Familien. Alte Eltern bleiben meist lange fit. Erwachsene Kinder haben es angesichts dieser aktiven und oft selbstbewussten Senioren häufig schwerer, einen eigenständigen Platz im Leben zu finden. Gleichzeitig verschieben sich die Pflegezeiten in ein sehr hohes Alter. Erwachsene Töchter oder Söhne betreuen die alten Eltern in einer Phase ihres Lebens, in der sie oft selbst schon langsam in Richtung Alter unterwegs sind.

Die zunehmende Langlebigkeit konserviert außerdem Familientraditionen und -wahrheiten. Das mag für Menschen eine Bereicherung sein, die mit ihren Eltern bestens klarkommen. Söhne und Töchter, die aus guten Gründen nur selten bei ihren Eltern vorbeischauen, stellen dagegen irgendwann fest, dass sie Familienthemen trotzdem permanent wie schweres Gepäck mitschleppen. Auch das trägt nicht unbedingt zu einem souveränen Lebensgefühl bei.

Die Verschränkung von Demografie und Familienpsychologie zu kennen, kann aber bereits etwas Erleichterung bringen: So zeigt sich, dass viele Verstrickungen mit den Eltern nur wenig mit individueller Schwäche zu tun haben. Und dass wir mit unseren Fragen in guter Gesellschaft sind.

Wo sind die Vorbilder?

Leider wursteln die erwachsenen Kinder bisher meistens allein vor sich hin, entdecken Irritationen und Abhängigkeiten, fahren mit gemischten Gefühlen mit den Eltern in die Ferien oder planen mit Bauchschmerzen mögliche Betreuungsarrangements für alte Väter oder Mütter. Einen gesellschaftlichen Umgang mit der Langlebigkeit von Familien oder gute Vorbilder gibt es bisher kaum.

Besonders beim oft schmerzhaften Thema Pflege würde sich das lohnen. Denn deren Planung dem Zufall oder Notfall zu überlassen, ist gerade für Frauen riskant: Das Los, sich zu kümmern, fällt oft nach wie vor automatisch auf Töchter und Schwiegertöchter. Deshalb ist es wichtig, dieses Tabu-Thema erwachsen anzugehen, zeitig und deutlich mit allen Beteiligten abzusprechen, was man sich für die Begleitung alter Eltern vorstellen kann – und welche Zugeständnisse man nicht machen will. Nur so kann es gelingen, Verantwortung gerechter zu verteilen und Zeiten statt im Für-immer-Kind-Modus im Jetzt-bin-ich-dran-Modus zu gestalten.

Doch die Pflegephase ist nur ein Bruchteil der lebenslangen Eltern-Kind-Beziehung. Zentraler ist die grundsätzliche Frage, wie wir es schaffen können, den Kontakt mit den Eltern auf Augenhöhe zu gestalten, statt uns immer mal wieder in kindliche Positionen zu manövrieren. Eine radikale Lösung schlug neulich die Bestsellerautorin Charlotte Roche vor. In einer Kolumne schrieb sie, dass es durchaus legitim sei, sich "bereits zu Lebzeiten von seinen Erzeugern zu trennen", das spare Zeit und Nerven und ermögliche mehr Freiheit. "Man ist nämlich erst richtig erwachsen, wenn man keine Eltern mehr hat", schreibt Roche.

Der Erwachsenen-Muskel

Es geht aber auch eine Nummer sanfter: Wir können uns schlicht bewusster bemühen, selbstverantwortlich zu agieren. Denn das Erwachsensein kann man trainieren wie einen Muskel. Praktische Tipps dazu gibt es auf der rechten Seite. Und noch ein Hinweis für alle, die sich gerade erst ins Erwachsenenleben hineintasten – und das geschieht heute oft später als noch vor zwanzig Jahren: Im Alltag reifer zu agieren wird erwiesenermaßen leichter, wenn die Beziehung zu den Eltern zwischendurch auch mal distanziert ist oder im Winterschlaf liegt. Wer eine Weile im Ausland oder weit entfernt von den Eltern lebt, tut viel fürs eigene Standing.

Die vier Frauen auf dem Gartenfest, die ganz unterschiedliche Phasen mit ihren Eltern durchleben, sind sich jedenfalls einig, dass es sich lohnt, den Erwachsenen-Muskel immer wieder zu trainieren. Erste Übung: Wir wechseln jetzt mal das Thema, holen uns noch ein Glas Wein und bewegen uns in Richtung Tanzfläche. 

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Unsere Autorin Anne Otto ist Psychologin, Coachin und Journalistin. Gerade ist ihr neues Buch "Für immer Kind? Wie unsere Beziehung zu den Eltern erwachsen wird" erschienen (208 S.,22 Euro, Edition Körber). Darin berichten erwachsene Kinder über ihre persönlichen Erfahrungen und es gibt Analysen und Anregungen, wie sich das Verhältnis der Generationen stimmig gestalten lässt. Für dieses Brigitte-Dossier hat Anne Otto ihre Recherchen sowie die besten Tipps zusammengefasst.

Brigitte

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