Anzeige

Achtsamkeit im Alltag: Mythen, Chancen und Risiken

Wie bringe ich Achtsamkeit in meinen Alltag, und wie sehr verändert sie mich? Die MBSR-Trainerin, Neurowissenschaftlerin und Psychologin Dr. Britta Hölzel über Mythen, Chancen und Risiken.

BRIGITTE.de: Eine Rosine mit allen Sinnen wahrnehmen, in den Bauch atmen, den Kopf zur Ruhe bringen - was bedeutet Achtsamkeit für Sie persönlich?
Dr. Britta Hölzel: Bewusst werden. Präsent sein. Wirklich erleben: Ich bin hier in diesem Moment, ich bin lebendig. Wenn man das erfährt, ist es, als würde sich eine neue Dimension eröffnen. Ich habe manchmal das Gefühl, ich wechsele von zweidimensional auf dreidimensional, wenn ich mir erlaube, achtsam zu sein. Auf einmal ist Leben drin im Leben! Achtsamkeit ist außerdem ein Werkzeug, in dem ich mich selber erkennen kann. Ich schaue in mich hinein und sehe: Wie funktioniert mein Geist? Wie hängen meine Gedanken und Gefühle zusammen? So kann man erkennen, welche Denkmuster und Gewohnheiten einem das Leben schwer machen. Die zentrale Botschaft des Buddhas, von dem ja die Achtsamkeitspraxis stammt, lautet: Wir erzeugen unser Leid zum großen Teil selber, indem wir in Widerstand gehen mit Dingen, die unveränderbar sind, oder indem wir immer mehr vom scheinbar Guten haben wollen.

Und diese Muster machen uns unglücklich?

Ganz genau. Die Mechanismen in uns zu erkennen, mit denen wir Leid und Stress erzeugen, und sie loslassen zu können, ist ein absoluter Befreiungsschlag. Was dahintersteckt, ist erleichternd: Wir haben es selber in der Hand, glücklich zu werden. Wir müssen diesen Mechanismen ja nicht folgen.


Das geht nicht von heute auf morgen ...
Nein, Achtsamkeit ist ein Lebensweg. Es ist ein Prozess des Erkennens, auf den man sich einlässt, und eine Haltung, die man sich immer wieder bewusst machen und in den Alltag integrieren kann.

Viele laufen lieber weg, statt sich auszuhalten mit allen Höhen und Tiefen.
Manchmal geht es den Menschen am Anfang eines Achtsamkeitstrainings erst einmal schlechter. Sie merken, wie angespannt ihr Körper ist durch den Stress oder wie traurig sie sind. In sich hinein zu fühlen, ist aber ein wichtiger Schritt, um seine Grenzen wahrnehmen und merken zu können, wann es reicht und wann man eine Pause braucht - oder vielleicht sogar eine Therapie. Der erste Schritt ist immer das Erkennen des Ist-Zustands, nur dann ist Veränderung möglich.

Gibt es auch Menschen, die abbrechen, weil es ihnen zu viel ist?

Ja, und in manchen Fällen ist das auch sinnvoll. Man sollte sich nicht in Veränderungsprozesse hineinzwängen. Wir haben natürliche Schutzmechanismen, die uns zum Beispiel vor Traumata aus der Kindheit
schützen. Deswegen ist
eine therapeutische Begleitung in diesen Fällen sinnvoll. Auch bei Depres
sionen, Neigung zu Psychosen und Schizophrenie
sollte man eine Achtsamkeitspraxis nur gemeinsam
mit einem Psychologen
oder Psychotherapeuten
beginnen. Hier sind Gruppenprogramme wie Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT), die Elemente der Stressreduktion durch Achtsamkeit mit Komponenten der kognitiven Verhaltenstherapie kombiniert, empfehlenswert, vor allem, um einer neuen Episode vorzubeugen. Bei wiederkehrenden Depressionen wirkt Achtsamkeit sehr gut, wie eine Reihe von Studien zeigen - von der Effektivität ist sie häufig sogar vergleichbar mit einer medikamentösen Behandlung.

Muss ich eigentlich zwingend meditieren, oder reicht es auch, "nur" zum Yoga zu gehen?

Es gibt keine Vergleichsstudien, die das klar zeigen. Die Frage ist, worum geht es mir? Um Entspannung? Eine bessere Konzentration? Um Gefühlsregulation? Wichtig ist auch, was einem persönlich liegt, denn es sollte Freude machen. Yoga kann Achtsamkeit in Bewegung sein - und einen dabei unterstützen, die Achtsamkeit ins Leben zu bringen. Das ist wunderbar. Ich persönlich finde es aber auch schön, zwischendurch ganz in Stille zu sitzen, weil man klarer hinschauen kann, was gerade im eigenen Geist abläuft. Meditation ist ein ideales Werkzeug, um mit sich selbst in Kontakt zu treten.

Wie lang und oft muss ich denn meditieren, damit es wirklich was bringt?
Die Erfahrung zeigt, dass es hilfreich ist, wenn man Meditation zur Routine macht und sich feste Zeiten einplant. Studien zufolge meditieren Teilnehmer von MBSR-Kursen etwa alle zwei Tage, und das zeigt gute Effekte. Zur Länge gibt es keine klaren Studien. Man sollte schauen, was realistisch umsetzbar ist im Alltag. Einige, die mit Apps zehn bis 15 Minuten meditieren, berichten, dass ihnen das bereits sehr hilft und sie entstresst.

Ganz in Stille kann man klarer hinschauen

Braucht man denn unbedingt einen Kurs oder reicht auch eine App oder ein YouTube-Tutorial?

Am Anfang ist ein Lehrer hilfreich, um Missverständnisse und Probleme klären zu können. Ein achtwöchiger MBSR-Kurs ist ein guter Einstieg in die Übungspraxis.

Was sind das für Probleme, die da auftauchen können?

Vor allem die Zeit zu finden, sich hinzusetzen zum Meditieren. Es dauert, bis es zur Routine wird und man merkt, das tut so gut, dass man nicht mehr darauf verzichten möchte. Manchmal wird auch die Anweisung, nicht zu werten und zu beurteilen, zunächst als ein passives Hinnehmen und Untätigkeit verstanden. Das ist es natürlich nicht, sondern vielmehr der Versuch, mit breiterer Perspektive weiser sehen zu können und von den eigenen Schwierigkeiten zu lernen. Es sollte auch keine Flucht sein, kein Wegträumen und nicht mehr fühlen, dass es einem eigentlich schlecht geht. Es geht um ein Sein mit allen Empfindungen, auch den schwierigen.


Ist das Ziel Entspannung denn auch okay? Oder muss ich gleich mein Leben ändern wollen?

Entspannung ist ein schöner Nebeneffekt der Achtsamkeitspraxis. Sie kommt, weil ich akzeptiere, wie es gerade ist. Achtsamkeit wirkt aber vielseitiger und auch noch auf der psychologischen Ebene. Das hat mehr Transfermöglichkeiten in den Alltag.


Daran scheitern viele: Die Achtsamkeit in den Alltag zu integrieren.

Im MBSR-Kurs üben wir das, indem wir Routinetätigkeiten wie Zähneputzen, Bügeln, Duschen oder Schminken achtsam und bewusst erledigen, die wir sonst nebenbei tun. Bewusstheit in Alltagsgewohnheiten zu bringen, ist eine super Möglichkeit, aus den Grübelschleifen auszusteigen. Im zweiten Schritt versuchen wir dann, auch in schwierige, stressige Situationen Achtsamkeit zu bringen. Bewusst in Konflikten zu kommunizieren. Sich im Stau nicht zu ärgern.


Wie mache ich das?

Wenn Gedanken kommen wie: "Dieser Idiot, kann der nicht schneller fahren", kann ich erkennen, wie diese Interpretation dazu beiträgt, dass ich mich schlechter fühle. Und wenn mir das bewusst wird, dann habe ich eine Wahl und Handlungsalternativen. Ich kann entscheiden, die Zeit für mich zu nutzen, meinen Atem zu vertiefen und zu spüren, wie ich hier sitze. Und dann komme ich in einen anderen Raum, dann kann ich meinen Körper wahrnehmen und den Moment wieder genießen und trotzdem zufrieden sein. Ich muss nicht alle Energien darauf verschwenden, schneller aus einer Situation herauszukommen, die ich eh nicht beeinflussen kann.

Wie sieht Ihr achtsamer Alltag aus?
Wenn ich meinen Tag mit einer Sitzmeditation beginne, findet mich die Achtsamkeit einfacher. Ich versuche mich außerdem im Laufe des Tages immer wieder zu erinnern, bewusst zu werden, zu atmen, den Körper zu spüren. Trotzdem passiert es mir immer noch, dass der Autopilot übernimmt, ich automatisch funktioniere durch den Tag und irgendwann denke: Wo war ich denn nun wieder? Das hört nie auf.

Kritiker sagen, dass dieses In-sich-hinein-Gespüre ganz schön selbstbezogen ist ...
Nein, denn es bewirkt ein Fundament der Ruhe und des Friedens in uns, das wir brauchen, um sinnvoll in der Welt agieren und anderen gegenüber mitfühlend sein zu können. Wenn ich im Stress bin, handele ich aus Angstmechanismen heraus, und die sind egoistisch. Mein System ist dann so eingestellt, dass ich mein Überleben sichere, der Kampf-Flucht-Modus ist aktiviert. Um weitere Perspektiven sehen und moralische Urteile treffen zu können, brauchen wir höhere Regionen des Gehirns, die heruntergedimmt werden im akuten Stress. Wir haben also andere Handlungsalternativen, wenn wir aus dem Stress herauskommen.

Immer mehr Firmen nutzen Achtsamkeitstrainings, um ihre Mitarbeiter gesund und leistungsfähig zu halten - damit sie noch besser funktionieren. Ist das nicht ziemlich paradox?
Meine Erfahrung ist nicht, dass die Mitarbeiter über Achtsamkeitskurse zu funktionierenden Wesen gemacht werden, sondern dass sie ihnen aufzeigen, wo sie stehen und was sie ändern sollten. Das ist sehr selbstfürsorglich.

Muss ich eigentlich spirituell sein, um achtsam leben zu können?

Das Schöne an Achtsamkeit ist, dass sie jedem den Freiraum gibt, das Richtige für sich zu entdecken. Es muss kein esoterisches oder religiöses Glaubenssystem übernommen werden. Für mich persönlich ist aber beides miteinander verknüpft. Achtsamkeit bietet auch die Möglichkeit, einen Zugang zu Sinnfragen und Verbundenheit zu finden, sich als Teil eines größeren Ganzen und gehalten zu fühlen. Das kann in schwierigen Lebensphasen Halt bieten.

Lernen Sie trotz Ihrer Erfahrung eigentlich noch Neues dazu?

Andauernd! Der Kern der Übungspraxis ist ja, immer neu hinzuschauen. Meine Tochter ist für mich der beste Achtsamkeitstrainer. Sie zeigt mir ständig meine Themen auf. Ich merke aber, dass ich durch meine Achtsamkeitspraxis nicht so tief in die Stressmechanismen rutsche, wie ich es sonst vermutlich täte.

Brigitte 15/18

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel