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Abschied für immer "Ich muss mich nicht schämen, dass ich weine, weil Mama fort ist"

Abschied für immer: "Ich muss mich nicht schämen, dass ich weine, weil Mama fort ist"
© NATNN / Shutterstock
Man bleibt immer das Kind seiner Mutter. Auch, wenn man erwachsen ist. Unser Autor über einen langen Abschied.

Meine Mutter. Meine Mama. Sie liegt im Bett und ist meine Mama. Und ist es auch nicht. Denn ihr Gesicht sieht so seltsam wächsern aus, so fremd. Jemand hat ihr ein zusammengerolltes Handtuch unter das Kinn gelegt, damit ihr Mund geschlossen bleibt. "Können Sie allein sein?", fragt mich der Pfleger. Ich kann. Auch wenn ich Angst habe. Ich war noch nie mit einer Toten allein in einem Raum.

Aller Abschied ist schwer

Meine Großeltern sind gestorben. Mein Bruder ist gestorben. Mein Vater ist gestorben. Aber ich habe es nie geschafft, sie mir danach noch einmal anzusehen. Ich konnte, wollte es nicht. Dieses Mal habe ich das Gefühl, dass ich das meiner Mama schulde. Seltsam. Mein Verstand meldet sich auch jetzt noch und sagt mir, dass meine Mutter doch tot ist und es ihr egal sein kann. Okay, dann schulde ich es eben mir. So, wie ich auch nicht wusste, ob mich Mama überhaupt noch wahrgenommen hat, als ich sie beim Sterben begleitet habe. Zwei Tage lang. Ich habe an ihrem Bett gesessen. Ich habe mit ihr geredet. Hat sie mich gehört? Keine Ahnung, sie war schon so weit weg. Im Koma, nachdem sie im Heim aus dem Bett gestürzt ist. 

Wenn die eigene Mutter wieder Kind wird

Schon vorher hatte sich Mama von mir verabschiedet, die Demenz hat ihren Geist Stück für Stück mit sich genommen. Aber sie hat mich immer noch angelächelt. Sich gefreut, wenn ich ihr ein Stück Schokolade in den Mund gelegt habe. Mama war wie ein Kind. Mein Kind. Ich wollte auf sie aufpassen. Aber vor der Krankheit konnte ich sie nicht beschützen. Das war vielleicht das Schlimmste: diese verdammte Hilflosigkeit. In der Schule, in der Uni - ich hatte gelernt, dass ich mich auf meinen Verstand verlassen kann. Dass ich mit ihm Lösungen finde. Aber für das langsame Verschwinden der Frau, die meine Mama war, gab es keine Lösung. Ich konnte es nur aushalten und trauern.

Habe ich mich in diesen fast fünf Jahren verabschiedet? Ja, schon. Es mag kalt klingen, aber das geschah ganz automatisch. Ich konnte Mama nicht mehr über meinen Alltag erzählen, was mich im Job geärgert hat, ob ich Liebeskummer hatte, wie mein Urlaub war. Dadurch rückte sie immer weiter aus meinem Lebenszentrum an den Rand. Um dann mit unbarmherziger Wucht zurückzukommen, wenn ich sie im Heim besuchte, sie und ihre verdammte Demenz. Ich habe mich während dieser Besuche hinten angestellt, meine Gefühle, meine Ohnmacht. Weil ich ein guter Sohn sein wollte. Weil es da um Mama gehen sollte. Sie war krank. Sie musste gefüttert und umsorgt werden. Hat mich das überfordert? Oh ja. Es heißt, dass man immer das Kind seiner Mutter bleibt. Und dieses Kind wollte eine, seine Mama zurück. Der Erwachsene ist dann zum Heulen vor die Tür gegangen, um die Kranke nicht zu verstören.

Angst vor dem Abschied nehmen

Aber nichts hat mich auf diesen Moment vorbereitet. Jetzt, wo ich auf dem Nachbarbett in einem Krankenhaus sitze, in dem ich meine Mutter habe sterben sehen. Ich bin etwa einen Meter von ihr entfernt und ich traue mich nicht, näher an sie heranzugehen. Und trotzdem weiß ich, dass ich dieses Zimmer nicht verlassen kann, ohne mich von ihr zu verabschieden. Wieder meldet sich mein Verstand. Warum mit einer Toten reden? Sie hört dich nicht mehr. Du glaubst ja nicht mal an ein Leben nach dem Tod. In dem buddhistischen Kloster, in dem ich war, als meine Seele all die Tode und die Trauer und den Schmerz nicht mehr wegschieben mochte, haben sie uns erklärt, dass unsere Toten gar nicht weg sind. Weil sie in uns weiterleben. Genau deshalb gibt es da jemanden, von dem ich mich verabschieden muss. Auch wenn ich wahnsinnige Angst davor habe. Und so lasse ich meinen Verstand klugschwätzen, schaue meiner Angst in die Augen und setze mich an ihre Bettkante. So wie sie sich früher an meine Bettkante gesetzt hat, um mir Gute Nacht zu sagen. Ich lege meine Hand auf ihren Arm und sage ihr, dass sie eine gute Reise haben soll. Dass ich sehr sehr traurig bin, aber dass es okay ist, dass sie gegangen ist.

Nach dem Abschied von Mama - Das Leben muss weitergehen

Manchmal tut es gut, mit jemandem darüber zu reden. Manchmal möchte ich damit allein sein. Ich habe mit einem Psychologen gesprochen und mit einem Achtsamkeitslehrer, mit Freunden und mit meinem Freund. Das ist oft ein kleiner Halt, ein kleiner Trost. Aber ich spüre auch, dass ich erst am Anfang eines Weges stehe.

Jetzt, da ich diesen Text schreibe, merke ich, wie viele Tränen ich noch weinen werde. Dass es ein Kind gibt, um das ich mich jetzt kümmern muss, weil es keine Mama mehr hat. Dass es auch mit Anfang 40 wichtig ist, dieses Kind zu sehen und es in den Arm zu nehmen. Dass ich mich nicht schämen muss, wenn ich weine, weil Mama fort ist. Und dass auch traurig sein etwas Gutes ist, weil es zeigt, wie sehr ich sie geliebt habe ... liebe. Meine Mutter. Meine Mama.

Unser Autor ist Journalist. Er hat lange gezögert, ob er wirklich über etwas so Persönliches schreiben soll, und sich schließlich entschieden, es anonym zu tun. Unter seinem Namen hätte er nicht so offen sein können.

Brigitte 06/2018

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