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Liebe mit Autismus Wie es funktionieren kann

Liebe mit Autismus: Mann und Frau liegen sich in dem Armen
© Roman Pawlowski
Gestik und Mimik versteht er nicht. Flirten kann er nicht. Aber verlieben will er sich. Unser Autor ist Autist und beschreibt, wie er mit klarem Verstand die große Liebe fand.

Seine Sicht der Dinge.

Dass er Situationen gefühlsmäßig anders bewertet als die meisten Menschen, weiß Peter Schmidt, 54, schon lange. Die Diagnose dazu bekam er aber erst vor 13 Jahren: Autismus mit Asperger-Syndrom.

Das ist eigentlich Liebe für dich, Peter?", fragte mich Martina bei einem Spaziergang am Eckernförder Strand. Was für eine Frage, dachte ich. Einfach, aber schwierig zu beantworten. Und sie kam so plötzlich. Ohne Vorwarnung. Spontan tiefsinnig zu antworten, das ist für mich unmöglich! Und Banales wie "Liebe ist gemeinsam Fahrrad fahren. Liebe ist gemeinsam lachen", das erwartete meine Freundin da wohl nicht wirklich.

Kopf gegen Herz

Eiligst berief mein Hirn eine interne parlamentarische Sitzung ein. Die Fraktion der Rationalen debattierte mit der Intuition, dem Bauchgefühl. Leider ohne Beschluss. Ich fror innerlich ein und schwieg Martina laut an. Liebe muss reifen, hat was mit dem Grad der Vertraulichkeit einer Freundschaft zu tun, dachte ich so. Aber wie sollte ich ihr das erklären?

Schließlich nahm ich einen Stock und zeichnete ein Koordinatensystem in den Sand. Mit drei Funktionen, die den Prozess vom ersten Kennenlernen bis hin zur Liebe beschrieben. Als Entwicklung der Intensität einer Beziehung in Abhängigkeit von der Zeit. Ich do- zierte: "Am Anfang ist das Feuer, das intensive Beschnuppern. Dann kommt das gegenseitige Testen und schließlich das Wachsen der Vertraulichkeit. Dargestellt durch eine stetig steigende Funktion, die sich ausgehend vom Ursprung mit der Zeit einer Sättigungslinie, der Lie­besasymptote, nähert!" Ich schlussfolgerte: "Liebe ist genau dann gegeben, wenn diese Kurve sich der Asymptote hinreichend angeschmiegt hat!"

Gemeinsame Erlebnisse

Ich hatte keine Ahnung, ob sie das verstand, gut oder schlecht fand, denn Mimik ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Also spazierten wir weiter, unterhielten uns über dies und das. Überhaupt verbrachten wir viel Zeit miteinander. Ich studierte Liebesfilme wie "Dort oben, wo die Alpen glühen", "Dornen­vögel", "Vom Winde verweht" und inszenierte die Romantik dann genau nach meinem Drehbuch. Zahlreiche Ausflüge in die freie Natur, meist mit dem Fahrrad, bereicherten so unser gemeinsames Erleben und schenkten uns viele Erinnerungen.

Es folgte mein erstes Weihnachten mit Freundin. Als Geschenk erhielt ich von ihr einen Kalender, für jeden Monat ein selbst gemaltes Bildchen, angelehnt an die Erleb­nisse der vergangenen Monate. Besondere Liebe strahlte für mich ein Fahrrad fahrendes Herz aus. Da wusste ich: Meine Strategie ging auf!

An der Uni hatte ich für mich das Tanzen entdeckt. Irgendwann brachte ich Martina mit, und fortan tanzten wir gemeinsam, ließen keine Gelegenheit aus. Wir tanzten sogar auf dem Vulkan. Im wahrsten Sinne des Wortes: Cha-Cha-Cha. Das war am Ätna. Ostern 1992. Eine Vulkantour, um zu testen, ob wir zusammen beim Reisen klarkommen. Kamen wir, und so tanzten wir weiter durch das Leben. Manchmal aber trübte sich der Liebeshimmel, wenn mal wieder kommunikative Missverständnisse oder Konflikte im Bewerten von Situationen im Raum standen. "Du tanzt heute schwer", stellte ich dann sachlich fest.

Bestandteile der Liebe

Eines Tages drückte Martina mir ein hübsches buntes Büchlein in die Hand: "Normalerweise geht das hier niemanden was an, aber ich rede viel mit meinem Tagebuch. Du darfst es lesen, damit du verstehst, was in mir vorgeht. Vielleicht hilft es, wenn du weißt, wie ich denke, wie ich fühle."

Wesentliche Bestandteile der Liebe sind für mich Vertrauen, Offenheit und Ehrlichkeit. Dass es keine Tabuthemen gibt. Dass man über alles reden kann. Ich sah Martinas Angebot als Gelegenheit, las ihre Gefühle und Gedanken, die ganz nebenbei auch eine bis dahin nie dagewesene Außensicht auf mein Verhalten offenbarten: "Der merkt gar nicht, wenn ich sauer bin!" oder "Was man dem durch die Blume sagt, checkt er nicht! Der braucht immer Klartext!", las ich über mich. Und es stimmte: Nonverbale Kommunikation ist für mich nur schwer lesbar. Daran geknüpfte Erwartungshaltungen anderer an mein Sozialverhalten können unerfüllt bleiben. Nur wahre Worte voller Fakten helfen, auch wenn sie schmerzen. Aber kein sinnfreier Small Talk. Klassisches Flirten ist für mich damit nahezu unmöglich. Das zeigte auch unser Kennenlernen. Auf der Suche nach einer Frau kam ich von Anfang an zur Sache. Martina schrieb dazu in ihr Büchlein: "Da war neulich so ein Typ beim Zahnarzt, noch nie hat mich jemand so dämlich angegrinst. Ob der wohl Hauptschulabschluss hat?" Das war im Sommer 1991, während meiner Doktorandenzeit. Meine damalige Vermieterin nahm sichtlich Anteil an meinen Versuchen, die Frau fürs Leben zu finden. Sie erteilte mir Flirtkunde: Ich müsse die Kirche im Dorf lassen, obwohl ich niemals eine Kirche umbetten wollte. Stattdessen sollte ich einfach nur lächeln.

Und ich lächelte. Ausgerechnet beim Zahnarzt. Immer, wenn ich Martina sah. Doch es passierte nichts. Ich freute mich, bald wieder zum Zahnarzt zu müssen. Und wieder passierte nichts.

"Sie müssen doch gemerkt haben, ob sie zurückgeflirtet hat!", stellte meine Vermieterin beratend fest. "Hat sie mit Ihnen gespielt?" – "Nein!", antwortete ich, "was soll sie denn mit mir gespielt haben? Rommé? Mau-Mau?"

Tage später sagte meine Vermieterin: "Ich habe für Sie beim Zahnarzt angerufen und ihm Ihr Problem geschildert. Hier haben Sie die Nummer der jungen Frau, Sie dürfen gerne anrufen!" Wenn es eine Brücke über den reißenden Fluss gibt, über den du rübermöchtest, dann nimm sie, wer weiß, ob und wann die nächste kommt! So brückte ich mich also zum ersten Date.

"Mein Verstand als Störsender"

In ihrem Tagebuch fand ich auch das Liebesdiagramm, das ich in den Strandsand zeichnete. Sie fand es faszinierend und befremdlich zugleich, dass man so was Emotionales wie Liebe mathematisch erklären könne. Und ich las über meinen ersten Kuss: "Anfängerhaft" sei er gewesen. Da saßen wir auf einer Parkbank. Wildromantische Kulisse wie in einem der kitschigen Heimatfilme. Der abschließende Sonnen­untergang fehlte nicht – das Zeichen für den allerersten Kuss! Oder? Vergeblich versuchte ich herauszufinden, ob sie bereit war. Ihre Körpersprache konnte ich nicht deuten. Und es fiel mir schwer, frei aus mir herauszukommen. Keine Hingabe per Autopilot. Stattdessen mein Verrstand als Störsender. Erst als ich mir klarmachte, dass meine zukünftige Frau mich so lieben soll, wie ich bin, stoppte ich das hemmende Zerdenken und handelte.

Bis heute ist und bleibt es für mich anstrengend, Gefühle zu geben. Als Zeichen meiner Liebe schenkte ich Martina einst einen Kaktus zum Valentinstag. Zum einen mag ich keine Schnittblumen, denn denen sieht man genaugenommen ja nur beim Sterben in der Vase zu. Zum anderen sollte das Geschenk auch eine Aussage über mich sein. Bereits als Kind verglich ich mich mit einem Kaktus, wenn es darum ging, eigene Bedürfnisse als Ausnahme beste­hender Regeln durchzusetzen. Der Kaktus steht für meine Andersar­tigkeit. Er braucht mehr Sonne und viel weniger Wasser als andere Pflanzen, was ich mit viel Rückzugsmöglichkeiten und wenig Gesellschaft gleichsetzte. In Bezug auf die Liebe bestimmen konkurrierende Sehnsüchte meine Gefühle. Ich wollte allein, aber nicht einsam sein. So wie ein Kandelaberkaktus in Arizona. Der steht solitär und doch unter seinesgleichen.

Tropentauglichkeit

Um nicht sinnlose Zeit in die Entwicklung einer Beziehung zu stecken, deren Scheitern rational absehbar ist, erstellte ich vor Jahren eine Checkliste "Ehefrau". Denn eigene Bedürfnisse, die mit denen der Frau in Konflikt stehen, würden wohl mit der Zeit die Liebe erodieren. In diese Liste gehörten Dinge wie Musikgeschmack, Nichtraucher, aber auch die Flug- und Tropen­tauglichkeit. Denn es ging und geht für mich darum, möglichst viel Zeit gemeinsam verbringen zu können, das Glück gemeinsam zu finden und doppelt zu erleben. Das Herausfinden der Tropentauglichkeit war das Aufwendigste. Aber als in Südostasien die Sonne genau nach Plan über dem Meer versank, sagte ich ihr, dass sie soeben den letzten wichtigen Test bestanden hatte.

Wir heirateten schließlich an einem Tag, der alle farbwichtigen Ziffern, die für mich die 1, 3, 4, 7 und die 9 sind, enthält. Und an dem statistisch meist gutes Garten- und Grillwetter zu erwarten ist.

Heute, nach mehr als 28 Jahren Beziehung, weiß ich, dass wahre Liebe nicht in den Flammen zu finden ist, sie ist vielmehr wie die Glut des Kaminfeuers: Wenn man kein Holz nachlegt, erlischt sie. "Manchmal kippst du aber auch einen Eimer Wasser drüber!", meinte Martina letztens. Ja, aber Glut übersteht das!

Dr. Peter Schmidt ist Autor und Referent zum Thema Autismus. Ach, und hauptberuflich IT-Experte.

Barbara

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