Relikte zerbrochener Beziehungen: "Die Leiden des jungen Werthers"
Meine erste wahre Liebe galt dem beliebtesten Jungen in der Klasse. Ich wagte kaum, ihn anzusprechen, geschweige denn, ihm in die Augen zu schauen. Im Gymnasium saßen wir dann in Deutsch nebeneinander. Er hatte schon eine Freundin: das Mädchen mit den größten Brüsten der Schule. Als Wahllektüre hatten wir uns beide "Die Leiden des jungen Werthers" ausgesucht. Die Schulbücherei hatte nicht genügend Exemplare vorrätig, also beschlossen wir, zusammen eins zu benutzen. Ich las das Buch, und Goethe überzeugte mich davon, R. meine Liebe zu gestehen. Ich hinterließ eine geheime Botschaft im ersten Kapitel, indem ich einzelne Buchstaben rot unterstrich. Würde er die Buchstaben miteinander verbinden? Die Botschaft lautete so in etwa: "Ich liebe dich, R. Wenn du ähnlich empfindest, triff mich am 13. Januar am kleinen See im Wald. Ich werde dort sein." Ich stand dann also an dem See und wartete, bis ich irgendwann ein Moped heranknattern hörte. Er empfand tatsächlich ähnlich. Ein paar Monate später wurde R. bei einer Prügelei in einer Bar zusammengeschlagen. Ich warf mich ins Getümmel und prügelte mit. Danach lag ich zwei Monate lang im Bett und erholte mich von meinen Verletzungen. Währenddessen fing er was mit meiner besten Freundin an. Ich las "Die Leiden des jungen Werthers" noch einmal, tränenblind. Am Ende hatte ich das Konzept der "romantischen Liebe" ausreichend verstanden, um mich für immer davon zu verabschieden. Aus Olinka Vistica und Drazen Grubisic: "Das Museum der zerbrochenen Beziehungen"