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Wenn ein Kind stirbt: Was hilft Eltern und Geschwistern?

Der Albtraum aller Eltern: ein Kind stirbt. Und mit seinem Tod bricht alles zusammen. Eine extreme Belastung für Familien, vor allem aber für die, die glauben, jetzt besonders stark sein zu müssen: die verwaisten Geschwister.

Mehr als 25.000 Kinder und Jugendliche sterben jedes Jahr in Deutschland - durch Unfall, Krankheit, Mord oder Suizid. Das Leben der Familien ändert sich radikal. Das Gefüge von Rollen, Funktionen und Beziehungsstrukturen zerbricht, das seelische Gleichgewicht des Ganzen, aber auch jedes Einzelnen geht verloren. Für sehr lange Zeit, manchmal für immer. Die Eltern sind überwältigt von Schmerz, ihr Entsetzen macht sie unzugänglich, auch für die nächsten Angehörigen. Die Geschwister haben einen Menschen verloren, mit dem sie Mutter und Vater, die Spielsachen, die Geheimnisse teilten. Sie haben ihre verstorbenen Geschwister geliebt und gehasst, mit ihnen geschmust und gestritten. Die Endgültigkeit ihres Todes zu begreifen ist für sie extrem schwierig. Meist sind sie allein mit ihren Gefühlen, mit ihrem Bedürfnis nach Trost. Sie beobachten ohnmächtig, wie die Eltern leiden, und wollen sie nicht auch noch mit ihrem eigenen Schmerz belasten. Im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft stoßen sie häufig auf Hilflosigkeit, auf verlegenes Schweigen.

Christine Fleck-Bohaumilitzky aus München, zweite Vorsitzende des Bundesvereins "Verwaiste Eltern" in Deutschland, steht immer wieder vor der Frage: "Wohin wenden sich die Geschwister - wo bleiben sie bloß mit ihrem Schmerz?" Vor kurzem nahmen zwei Schwestern, elf und 13 Jahre alt, an einem Seminar für trauernde Geschwister teil. Ihr Bruder war mit drei Jahren an einem Herzfehler gestorben. "Die Mädchen waren völlig verstummt. Sie haben nicht mal miteinander über ihre Trauer gesprochen", sagt Christine Fleck-Bohaumilitzky. Erst in der Gruppe fanden sie Zugang zu ihren Gefühlen. Sie weinten und weinten. Und sie sprachen auch das aus, was sie vorher für viel zu verwerflich hielten: ihre Wut und Enttäuschung, weil die Eltern mit allen ihren Gefühlen immer nur auf den Bruder fixiert waren - seit seiner Geburt und über seinen Tod hinaus.

Immer wieder werden Kinder und Jugendliche missverstanden, hat Johann-Christoph Student beobachtet, da sie anders trauern als Erwachsene. Gerade Kinder können todtraurig sein und einen Moment später wieder kichern und herumalbern. Jugendliche tun sich schwer, ihre Gefühle auszusprechen, und wenn, dann meist in Andeutungen, oder sie vertrauen sich ihrem Tagebuch an. Oft distanzieren sie sich von der kollektiven Trauer in der Familie - was die Eltern verletzt. Sie entwickeln ihre eigenen Rituale. Hören Musik, die sie mit den Verstorbenen verbindet, tragen ihre Kleider, lesen ihre Bücher oder richten eine eigene Gedenkstätte ein, in ihrem Zimmer oder irgendwo im Wald.

Oft lasten irrationale Schuldgefühle auf den Schultern trauernder Geschwister - meist mit der bösen Kraft des Unbewussten. Der Ravensburger Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Dr. Markus Löble, schreibt: "Manche Kinder sind still für sich überzeugt: Der Falsche hat überlebt, und das bin ich." Je stärker der tote Bruder, die tote Schwester in der Familie glorifiziert werden, desto größer ist die Gefahr, dass die Zurückgebliebenen ihre eigene Daseinsberechtigung anzweifeln, sich als schlechte Alternative empfinden. Manche manövrieren sich in eine unlösbare Situation: "Sie leben zwei Leben - ihr eigenes und das des toten Geschwisters", schreibt Löble, "sie wollen die Eltern für den Tod des Kindes entschädigen - und müssen daran scheitern." Ein Problem, das ganz besonders für Kinder gilt, die nach dem Tod eines Bruders oder einer Schwester geboren werden. Wenn die Eltern auch unfähig sind, sich in die Extremsituation ihrer Kinder einzufühlen, einige Grundbotschaften sollten sie immer wieder aussprechen, rät Professor Student, der Leiter des Stuttgarter Hospizes: "Du kannst nichts dafür" etwa oder "Wir sind froh, dass wir dich haben - genau so, wie du bist".

Interview: "Mit den Eltern sprechen die Geschwister oft nicht gern"

BRIGITTE: Wie können Verwandte und Bekannte helfen?

Gabriele Knöll, Vorsitzende des Vereins Verwaiste Eltern e.V.: Nach dem Tod eines Kindes bleiben Vater, Mutter und Geschwister zurück, jeder für sich zutiefst erschüttert. Darum ist es ganz wichtig, dass Verwandte und Bekannte sich den Kindern und Jugendlichen zur Verfügung stellen, als Gesprächspartner und Vertrauenspersonen. Es wird die ganze Familie entlasten, wenn diese Menschen die Bedürfnisse der Geschwister mit im Auge behalten und sie zum Beispiel zum Kindergarten- oder Schulfest begleiten, solange die Eltern das nicht können.

BRIGITTE: Müssen trauernde Kinder und Jugendliche unbedingt über ihre Gefühle sprechen?

Gabriele Knöll: Sie sollten zumindest die Chance dazu haben. Mit den Eltern sprechen die Kinder oft nicht gern, da sie sie nicht noch mit der eigenen Trauer belasten wollen. Auch andere sollten reagieren: Ein Lehrer zum Beispiel, der die Trauer seines Schülers erkennt und ihm das auch zeigt, kann sehr viel Einsamkeit lindern.

BRIGITTE: Ist es hilfreich, mit anderen, die trauern, Kontakt zu haben?

Gabriele Knöll: Ja, denn so erfährt man oft, dass man nicht allein ist mit seinem Schicksal. Man erkennt, dass man offensichtlich weiterleben kann und dass das eigene Erleben "normal" ist.

BRIGITTE: Wo trifft man andere Betroffene?

Gabriele Knöll: Auf Trauerseminaren, die in fast allen größeren Städten inzwischen auch für Geschwister angeboten werden. Unsere Website (www.verwaiste-eltern.de) bietet eine spezielle Themenseite für trauernde Geschwister, beispielsweise mit Berichten von Betroffenen und Gesprächsmöglichkeiten. Auch diejenigen finden Rat, die mit trauernden Geschwistern Kontakt haben und wissen möchten, was sie tun können.

Buchtipps & Kontaktadressen

  • Hrsg. Verwaiste Eltern München, Christine Fleck-Bohaumilitzky,
  • "Überall Deine Spuren", Eltern und Geschwister erzählen vom Tod eines Kindes (12,68 Euro, Don Bosco).
  • Gordon Livingstone, "Nur der Frühling: Eine Familie bewältigt den Tod ihres Kindes" (7,62 Euro, Lübbe).
  • Mechthild Voss-Eiser, "Noch einmal sprechen von der Wärme des Lebens" (10,17 Euro, Herder).
  • Verwaiste Eltern in Deutschland, Fuhrenweg 3, 21391 Reppenstedt, Tel. 04131/6803232 (dort gibt es die Adressen sämtlicher Regionalgruppen).
  • TABEA Berlin, Breitscheidplatz, 10789 Berlin, Tel. 030/4955747.
  • Förderverein für krebskranke Kinder, Justinus-Kerner-Straße 5, 72070 Tübingen, Tel. 07071/440463.
Nina Poelchau

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