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Treue: Ein wunderbares oder ein wahnsinniges Vorhaben?

Treue - warum fällt sie so schwer?
© Pushish Images / Shutterstock
Treue gibt uns Halt und Sicherheit. Warum fällt es uns dann nur so schwer, treu zu sein?

Wie hatten sie es nur geschafft, sich 50 Jahre treu zu sein?

In diesem Jahr habe ich auf drei Hochzeiten getanzt. Zwei Feste waren an Pomp kaum zu überbieten. Ein Brautpaar mietete ein ganzes Hotel. Allein die Stühle mit cremefarbenen Hussen zu verkleiden, kostete 750 Euro. Meine Schwester lud Gäste aus vier Ländern ein, die zu einem dreitägigen Fest anreisten.

Doch trotz all des Prunks einnere ich mich am allerliebsten an die goldene Hochzeit meiner Tante und meines On­kels. Die beiden feierten, sehr beschei­den, in einem Steakhaus. Die beiden nen­nen sich gegenseitig "Pussy". Kätzchen. Das tun sie schon immer, und es ist ihnen völlig egal, ob Kellner sich verwundert umdrehen, wenn sie ihre Kosenamen durch ein Restaurant rufen.

Nach 50 Jahren Ehe gibt es keine Peinlichkeiten mehr - es gibt nur noch Gewissheit.

Fast 100 Gäste waren gekommen, um auf ihre Liebe anzustoßen. Geschwister, Kinder und En­kel, alte und neue Freunde - die ganze mensch­ gewordene Geschichte ihrer Partnerschaft. Meine Cousine hatte für ihre Eltern goldene Krönchen gebastelt, und als die beiden mit ihrem Kopf­schmuck aus der Kirche traten, schritten sie ne­beneinander her wie König und Königin. Elder Statesmen, so nennt man ausgeschiedene Politi­ker, die - erfahrungssatt und zurückgelehnt - den Nachwuchs beraten. Mein Onkel und meine Tan­te könnten eine Agentur für "Elder Lovemen" gründen, dachte ich. Zwei alte, liebesweise Men­schen. Wie hatten sie es nur geschafft, sich 50 Jahre treu zu sein?

Auf einem der vergilbten Hochzeitsfotos, die den Saal schmückten, balanciert meine Tante in bo­denlangem Hochzeitskleid auf einem Baum­stamm, mein Onkel hält ihre Hand, und beide lachen in die Kamera.

Als ich mir das Foto genau­er ansah, erschrak ich. Meine Tante und ich sehen uns darauf zum Verwechseln ähnlich. Runde Au­gen, kurze Locken und die Schneidezähne ge­trennt durch eine breite Zahnlücke. Meine Tante ist auf diesem Foto 18 Jahre alt. Ich bin 27.

Als meine Tante so alt war wie ich, war sie schon fast zehn Jahre verheiratet und hatte zwei Kinder. Ich hingegen bin noch nicht einmal verlobt. Von Kin­dern ganz zu schweigen. Für mich ist das in Ordnung. Es gab andere Dinge, die mir in den letzten Jahren wichtiger waren als die Famili­enplanung. Mein Studium zum Bei­spiel und meine Unabhängigkeit.

Aber plötzlich fragte ich mich trotz­dem:

Warum fällt es mir so schwer, mich an eine Person zu binden? Was braucht es eigentlich, um treu zu sein?

Treue in einer Partnerschaft steht in erster Linie für Monogamie. Wer heiratet, verspricht sich sei­nem Partner. Die Anzahl der Eheschließungen erreichte mit rund 400.000 im Jahr 2015 einen vorläufigen Höhepunkt. Die Scheidungsrate ist hingegen so niedrig wie zuletzt Mitte der Neunzi­ger. Heiraten ist wieder im Trend. Dafür sprechen auch die prunkvollen Hochzeiten meiner Freunde.

Treue ist ein romantisches Ideal

Dabei ist Monogamie eine der kon­servativsten Lebensformen unser Zeit. Das katholische Eherecht stammt aus dem 12. Jahrhundert. Seitdem hat es sich nicht grundlegend verändert.

Der Ursprung der Ehe liegt darin begründet, dass Väter sicher­ gehen wollten, dass die Kinder, die sie ernähren, auch wirklich von ihnen stammen.

Das sollte mich als Frau, der nichts wichtiger ist als ihre Selbstbe­stimmtheit - im Job wie in der Liebe -, doch eigent­lich abschrecken.

Bisher kam ich in jeder Beziehung irgendwann an den Punkt, an dem ich mich fragte: Soll’s das jetzt gewesen sein? Für immer?

Ich gehöre zu einer Generation, der Treue statis­tisch gesehen besonders wichtig ist. Laut der Pairfam-­Studie, für die regelmäßig rund 12.000 Deut­sche zu Partnerschaft und Familie befragt werden, stimmen 77 Prozent der Mitte 20­-Jährigen der Aussage "Fremdgehen wäre für mich ein ernst­haftes Beziehungsproblem" voll zu. Treue ist für uns ein romantisches Ideal.

Auch bei Mitte 40-Jährigen spielt sexuelle Exklusivität noch eine bedeutende Rolle. Immerhin 62 Prozent wünschen sich einen treuen Partner. Bei dem ein oder anderen wurde die Vorstellung der Ewigkeit in der Zwischenzeit entzaubert. Sie wurden betrogen, haben betrogen, wurden enttäuscht oder haben sich scheiden lassen.

Psychologen aus Braunschweig haben kürzlich eine Studie zum Sexualverhalten der Deutschen veröffentlicht. Rund ein Fünftel von uns ist demnach schon einmal fremdgegangen - 21 Prozent der Männer und 15 Prozent der Frauen. Der Wunsch nach Treue und die Wirklichkeit klaffen auseinander. Treue bleibt oft nur ein Mythos.

Je selbstständiger Frauen sind, desto wahrscheinlicher, dass sie fremdgehen

Der Psychologische Psychotherapeut Christoph Kröger, der an der Studie beteiligt war, arbeitet als Paartherapeut und erforscht Beziehungen seit vielen Jahren. Er hat eine spannende Beobachtung gemacht: Je selbstständiger Frauen sind, desto wahrscheinlicher wird auch, dass sie fremdgehen. Denn je mehr wir unterwegs sind und Zeit in getrennten sozialen Räumen verbringen, zum Beispiel auf Dienstreisen, umso mehr Gelegenheiten zum Seitensprung haben wir. Und nutzen sie auch.

Andererseits wächst mit der größeren Mobilität auch die Sehnsucht nach einem Partner, zu dem wir zurückkehren können - die Sehnsucht nach Halt. "Ein fester Partner gibt einem Menschen Sicherheit", erklärt Kröger. Wir stecken also in einem Dilemma: Wir wollen Sicherheit, aber erhöhen unser Risiko.

Warum sehnen wir uns nach Treue, wenn es uns so schwer fällt, treu zu sein?

"Wir wollen uns zurückziehen", sagt Kröger, "wir wohnen in einer feindlichen Welt und hoffen das, was uns in anderen Beziehungen fehlt, im Privaten zu finden. Am liebsten bei einer Person." Aber so leicht ist es nicht. Verlieben kann man sich schnell, und sich für eine Weile die Treue halten, das geht auch.

Aber Treue bedeutet ja nicht nur, auf andere Partner zu verzichten. Es geht vor allem darum, sich aufeinander verlassen zu können. Treue ist eine Abmachung, der Entschluss, Verantwortung füreinander zu übernehmen, das Gemeinsame immer ganz genauso wichtig zu nehmen wie sich selbst.

Neulich habe ich zufällig gelesen, was Joseph Campbell zum Thema Treue gesagt hat - ein längst verstorbener amerikanischer Professor für Mythologie, der glaubte, der beste Weg zu verstehen, was die Ehe bedeutet, sei das Lesen jener uralten Erzählungen vom Ursprung der Welt und der Menschen. "Ursprünglich waren wir eins. Jetzt sind wir zu zweit auf der Welt, aber die Ehe ist das Erkennen der geistigen Identität", so Campbell. "Die Ehe ist keine simple Liebschaft, sie ist eine Bewährungsprobe, und die Bewährungsprobe besteht im Opfer des Ich für eine Beziehung, in der zwei eins geworden sind."

Was Campbell sagt, gruselt und fasziniert mich gleichzeitig. Die Vorstellung, mein Ich einer Beziehung zu opfern, finde ich furchtbar. Gleichzeitig spüre ich in mir einen Hauch Sehnsucht nach dieser Art von Treue, von Zweisamkeit und Zueinanderhalten, die wohl nur da entstehen kann, wo zwei nicht immer zuerst und nur an ihren eigenen Vorteil, die eigenen Ziele und Wünsche denken.

Treue kommt von "Trüwen"

Nachdem ich auf der goldenen Hochzeit weitere Fotos meiner Tante und meines Onkels angesehen hatte, entschied ich mich dazu, auf sie anzustoßen. Ich griff nach meinem Smartphone, googelte das Wort Treue und fand einen Eintrag in einem Onlinelexikon.

Das Wort entstammt dem mittelhochdeutschen Verb "trüwen" und steht nicht nur für Vertrauen, sondern auch für das Wagnis. Ich klopfte mit meinem Fischmesser an mein Weinglas, hob es hoch, drehte mich meinem Onkel und meiner Tante zu und sagte: "Auf euren Mut!"

BRIGITTE Woman 12/17

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