Anzeige

Er hat seine Familie verlassen - für einen Mann

Kann ein Mann zwölf Jahre lang eine Frau lieben - und dann seine Familie verlassen, weil er sich in einen Mann verliebt hat? Das Herz ist ein elastischer Muskel, schrieb Woody Allen. Eine Geschichte über einen radikalen Schwenk im Leben.

Sie gefiel mir auf Anhieb. Schlank, sportliche Figur, fröhlich. Janet saß auf der Bank und guckte sich unser Volleyball-Spiel an. Beim zweiten Mal sprach ich sie an. Zwei Wochen später waren wir ein Paar. Das war vor 25 Jahren, wir waren beide zwanzig. Damals studierte ich Architektur in Stuttgart. Hin und wieder schlief ich mit einem Mann. Ich habe diese Begegnungen nicht aktiv gesucht, sie ergaben sich. Für schwul hielt ich mich nicht, ich hatte ja immer Freundinnen - und es war eine Zeit, in der viele sexuell experimentierten.

Gleich am Anfang unserer Beziehung gestand ich Janet meine sexuellen Erlebnisse mit Männern, ich wollte keine Heimlichkeiten vor ihr haben. Sie fand das interessant. Sagte, sie sei nicht eifersüchtig, es seien ja Männer. Und solange meine Eskapaden nicht überhandnähmen...

Ihre offene Reaktion nahm mich noch mehr für sie ein, ich fühlte mich ihr ganz nah. Wenn ich mal wieder einen Mann kennen lernte, erzählte ich ihr davon. Das blieb auch so, als Janet bei mir einzog. Wir verstanden uns total gut, hatten regen Sex miteinander. Ich liebte meine Frau, war erfolgreich als Architekt. Es war eine gute Zeit.

Auf einem Straßenfest sah ich ihn zum ersten Mal. Ich konnte nicht mehr weggucken.

Anfang der 90er Jahre zogen wir nach Berlin. Ein Jahr später kam Jette auf die Welt, ein Wunschkind. Ich war ganz versessen auf meine Tochter. Zugleich nervte es mich, nur noch über Kita, Kinderkrankheiten und Lätzchenfarben zu sprechen. Als Janet sich ein zweites Kind wünschte, zögerte ich und sagte Nein.

Kurz danach hatte ich eine Begegnung, die mein Leben komplett auf den Kopf stellte. Ich stromerte über ein Straßenfest. Es regnete. Da sah ich ihn. Er lief mit einer Frau im Arm unter einem rosa Schirm durch das Gedränge. Sie plauderten und lachten, wirkten vertraut. Ich konnte nicht mehr weggucken von diesem Mann. Er erwiderte meinen Blick, über das Menschengewirr hinweg.

Plötzlich stand er neben mir. Wir redeten sofort miteinander. Die Frau an seiner Seite war hetero, er kannte sie aus dem Chor. Mir erzählte er, er habe am nächsten Tag einen Auftritt als Background- Sänger bei Celine Dion. Ob ich mitwolle. Und wie ich wollte. Ich folgte ihm zu seinem Auto, um die Freikarte zu holen. Zum Abschied küsste Daniel mich auf den Mund. Ich war völlig weg.

Abends erzählte ich Janet beiläufig, ich hätte einen Mann kennen gelernt. Für sie war das nichts Besonderes. Für mich schon. Dieses Mal war alles anders. Alles an Daniel zog mich an. Seine Lebendigkeit, seine Bewegungen, die Leichtigkeit, mit der er das Leben anpackte, mich zu sich zog. Wir sind nicht gleich ins Bett gehüpft, erst nach dem fünften oder sechsten Treffen. Es ging um viel mehr als Sex. Es war richtiger als alles, was ich je erlebt hatte. Bisher hatte ich mir nie vorstellen können, ein schwules Leben zu führen. Jetzt wollte ich es, mit allen Konsequenzen.

Und damit gingen die Probleme los. Janet begriff schnell, dass die Geschichte mit Daniel keine Affäre war. Sie wurde zum ersten Mal eifersüchtig. Ich verbrachte viel Zeit mit Daniel, aber ich liebte auch Janet. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass man zwei Menschen gleichzeitig lieben kann.

Es zerriss mich fast. Wir diskutierten, stritten, weinten miteinander. Janet versuchte alles, um mich zu halten. Sie hatte Angst, mich zu verlieren, war zutiefst verunsichert. Und sie fürchtete die Reaktionen ihrer Familie, ihrer Freunde. Ich konnte nicht bei ihr bleiben, sie wollte mich behalten. Und den Schwebezustand wollten wir beide nicht. Das lief ein paar Monate so.

Ich wollte meine Tochter nicht verlieren - und das ist mir gelungen.

Daniel sah, wie sehr ich litt. Aber er drängte mich nicht. Janet wollte endlich eine Entscheidung von mir. Ich zog bei Daniel ein. Obwohl ich den Verlust als Katastrophe empfand, war die Klarheit gut. Seitdem führe ich ein schwules Leben. Daniel und mich verbindet so viel. Beide haben wir ein ausgeprägtes Körpergefühl, er ist Sänger, ich spiele Geige und Bratsche . . . Als es mir schlechtging, war er für mich da. Nie hat er gesagt, lass mich in Ruhe mit deinen Problemen.

Daniel ist 39, sechs Jahre jünger als ich. Ich bewundere ihn für sein Selbstbewusstsein und seinen Stolz. Ich liebe ihn für seine großen Auftritte und für seine Melancholie, wenn er keine Bühne hat ... Natürlich gab und gibt es auch Krisen, aber ich glaube nicht, dass einer von uns den anderen jemals verlässt.

Als Janet bald nach der Trennung mit Jette zurück nach Stuttgart zog, habe ich nächtelang geheult. Aber ich habe immer den Kontakt zu meinem Kind gehalten. Wo ich auch war, zwischen sieben und acht Uhr bin ich ans Telefon und habe meiner Tochter eine Gutenachtgeschichte erzählt. Ich wollte Jette nicht verlieren - und das ist mir gelungen. Janet hat mich immer dabei unterstützt, dafür bin ich ihr sehr dankbar.

Protokoll: Claudia Kirsch Ein Artikel aus BRIGITTE 16/11

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel