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Sexsucht bei Männern: Schon 18-Jährige leiden darunter

Sexsucht bei Männern: Mann sitzt verzweifelt auf Bett
© Estrada Anton / Shutterstock
Internetpornos, Dating-Apps auf Smartphones - wir erleben gerade eine größere sexuelle Revolution als 1968, sagt die Therapeutin Dr. Heike Melzer. Die Folge: immer mehr Männer, die gar nicht können. Und andere, die nicht genug kriegen können

Als Interviewerin sitzt man in der sexualtherapeutischen Praxis dort, wo sonst Dr. Melzers Klienten Platz nehmen: auf einem Zweisitzer ihr frontal gegenüber.

BRIGITTE: Wer sitzt denn sonst so auf dieser Bank?

HEIKE MELZER: Frauen, Männer und Paare, die meine Hilfe suchen. Oft geht es um das Thema Sex­ und Pornosucht und deren fatale Folgen.

Wo fängt denn Sexsucht an?

Bei genau den gleichen Kriterien wie bei anderen Süchten auch: Die Gedanken drehen sich ständig um das Suchtmittel, in diesem Fall also sexuelle Fantasien. Die Dosis muss immer weiter gesteigert werden - das, was am Anfang noch toll war, reicht mit der Zeit nicht mehr aus. Man arbeitet sich also von Genre zu Genre der Pornografie mit immer stärkeren Reizen. Irgendwann möchte man davon auch mal was erleben, man geht zu Dominas oder ins Bordell oder checkt auf dem Großmarkt der Casual­Dating­Szene ein. Am Ende steht der Kontrollverlust: Ungeachtet von beruflichen, privaten, gesundheitlichen Nachteilen macht man immer weiter, denn es geht nicht mehr ohne. Masturbiert mehrmals täglich, hat zahlreiche Affärenpartner gleichzeitig, geht oft ins Bordell - ich habe hier Leute sitzen, die fünfstellige Summen dafür ausgeben. Oder verheiratete, heterosexuelle Männer, die anonymen, ungeschützten Sex mit Männern haben. Das ist wie russisches Roulette. Diese Männer sagen: Es gehört gar nicht zu mir, es passt auch gar nicht zu mir, ich riskiere mein Leben und das meiner Frau, und trotzdem muss ich es immer wieder machen. Es ist wie ein Zwang.

Gibt es auch sexsüchtige Frauen?

Deutlich weniger. Auf zehn Männer kommt maximal eine Frau, und dann kommt es oft in einem ganz anderen Gewand als bei Männern daher. Die meisten sind amourös verstrickt. Sie wollen den Männern gefallen und fangen ständig neue Liebschaften parallel an oder stellen zwanghaft Fotos und Videos von sich auf Sexportalen ein, um Komplimente zu erhaschen.

Früher waren Männer mit Potenzstörungen 50 oder älter. Heute haben schon 18-jährige dieses Problem

Sie haben Ihre Praxis seit 15 Jahren und haben gemerkt, dass sich in dieser Zeit die Themen und Probleme Ihrer Patienten sehr verändert haben. Was ist am auffälligsten?

Der typische Mann mit erektiler Dysfunktion war früher im Alter ab 50 aufwärts. Jetzt haben immer mehr junge Männer dieses Problem - schon 18­jährige, 20­jährige. Sie kommen ratlos vom Urologen, mit Viagra in der Hand, und sagen: Ich habe doch gerade erst angefangen, das kann es ja wohl nicht sein. Diese Männer haben oftmals jahrelang zu Pornos masturbiert, und nun machen sie das erste Mal Erfahrungen mit echten Mädels. Allein die Vorstellung, was sie jetzt alles performen müssen, setzt sie unter Druck. Und dann haben sie über die Jahre so ausgeklügelte Masturbationstechniken entwickelt, das sie beim partnerschaftlichen Sex überfordert sind. Das hat besonders bei jungen Männern sehr zugenommen. Studien sprechen von bis zu 30 Prozent Betroffenen. Das ist eine weltweite Pandemie. 

Etwas ältere Männer, die nicht mit dem Internet aufgewachsen sind, betrifft es nicht?

Doch. Früher galt es ja als schlimm, wenn man als Mann zu schnell gekommen ist. Jetzt sagen mir immer mehr Frauen: Er wird nicht mehr fertig, ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Oder die Männer haben gar keine Lust mehr auf Sex mit der Langzeitpartnerin und verstecken sich hinter Arbeitsbelastung. Über die tatsächlichen Ursachen wird nicht gesprochen.

Weil auch sie zu viele Pornos schauen und es sich lieber allein machen?


Ja. Wann hat man denn früher mal andere Leute beim Geschlechtsakt gesehen? Da gab es die "Praline" oder Pornokinos im Rotlichtviertel. Und selbst vor 15 Jahren noch haben Sie ewig warten müssen, um eine kurze Videosequenz im Internet zu sehen. Heutzutage können Sie sich auf dem Smartphone jederzeit Pornos anschauen. Das schnelle Internet und neue Technologien haben unsere Sexualität mehr verändert, als wir bis jetzt wirklich begriffen haben. Ich sehe auch verstärkt Männer mit Fetischen.


Gab es die nicht schon immer?


Ja, die gab es schon immer. Aber heute gibt es pornoinduzierte Fetische, und das hat wirklich rasant zugenommen. Männer sind eher optisch orientiert, sie schauen sich - Stichwort Dosissteigerung - immer absurdere Praktiken an, weil alles andere nicht mehr kickt, und auf einmal haben sie diese Verknüpfung hergestellt. Wenn sie in einer laufenden Beziehung einen Fetisch über Pornografie entwickeln - blöd, wenn der Partner den Fetisch dann nicht teilt. Oder sich fragt: Vögelst du eigentlich noch mich oder nur meinen Latexanzug/meine Nylonstrumpfhose/meine Brille mit extradicken Gläsern? Einen Fetisch zu haben ist ja heutzutage auch fast ein bisschen schick. Andererseits ist es eine zwanghafte Fixierung auf einen Trigger und wird dann zum Problem, wenn es ohne gar nicht mehr geht. In der Regel haben Männer den Fetisch, Frauen bedienen ihn.


Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es eine immer größere Schere zwischen Menschen gibt, die immer Sex haben, und anderen, die nie Sex haben. Und beide leiden.

Ja. Es gibt immer mehr Sexsüchtige, aber im anderen Extrem auch immer mehr Unberührte, also Leute, die noch nie Sex hatten. Und irgendwann kommen sie dann hierher und sagen: Ich bin jetzt 49 und fliehe immer von der Bettkante. Oder: Es hat mich eigentlich nie so gestört, aber ich will ja auch mal Kinder haben. Auf der anderen Seite gibt es dann diejenigen, die sich durch die Betten tindern und schon mit Mitte 20 eine dreistellige Anzahl an Partnern vorweisen können. Und irgendwann kommt dann der Wunsch nach Bindung - und die Erkenntnis, dass man gar nicht weiß, wie das überhaupt geht.

Ist das ein neues Phänomen? Es gab doch schon immer promiske Leute. Und auch Unberührte.


Ja. Aber bei den Unberührten war früher der Leidensdruck höher, sofern sie prinzipiell Lust auf Sex hatten. Natürlich konnte man sich immer selbst befriedigen - aber heute können sie das mit den Superreizen des Internets und Hightech-Sex-Toys um ein Vielfaches einfacher. Wenn es nur um die Triebbefriedigung geht, kann man sich heute prima ganz autark versorgen, dazu bedarf es keines Partners mehr...

... aber das ist doch nicht das Gleiche.

Sicher, aber dazu müssen sie ja erst mal den Vergleich haben, wie es sich in einer verbindlichen Beziehung anfühlt. Und wenn sie nur einen Orgasmus haben wollen, ist der Vibrator deutlich effizienter als ein Partner mit vielleicht nicht ganz kompatiblen Vorlieben zu den eigenen Wünschen. Auf der anderen Seite des Extrems haben die Promisken heute viel mehr Möglichkeiten, ihre wechselnden Partner auf zahlreichen Casual-Dating-Portalen zu finden. Auch das gesellschaftliche Klima hat sich verändert. So etwas wie "Freundschaft plus" oder Polyamorie hat stark zugenommen. Heute ist alles erlaubt und Verhandlungssache.

Was ja nicht unbedingt schlecht ist.

Ich möchte es auch nicht werten. Ob Monogamie und das romantische Liebesideal die einzig wahre Form der Partnerschaft sind, ist mehr als fraglich. Casual Dating, käuflicher Sex und One-Night-Stands sind per se weder gut noch böse, auch Pornos sind es nicht. Viele verrennen sich jedoch bei den vielen Möglichkeiten, heute Sexualität zu leben. Sexualität ist ein Genussmittel mit einem hohen Suchtpotenzial, und es steht jetzt im Übermaß zur Verfügung. Es gibt viele Parallelen zur Ernährung. Einige Leute können zum voll gedeckten Tisch gehen und sagen: Ich nehme den Apfel und die Banane, aber das Tiramisu will ich gerade nicht, das esse ich nur manchmal. Andere können das nicht. Die schlingen die ganzen industriellen Sachen mit viel Glutamat in sich rein, und es schmeckt auch erst mal toll, aber es verklebt die Geschmacksknospen, macht bald keine Freude mehr und man fühlt sich fett und schlecht. Wenn wir Superstimuli aus der Konserve konsumieren und von einem sexuellen Abenteuer zum anderen hetzen, werden wir unsensibel für natürliche Reize.

Sie verordnen dann Ihren Klienten eine Fastenzeit?

Ja, ein Reboot, wo man auf Pornos, Masturbation, Sex Toys, eine Zeit lang auf jede Form von Sex verzichtet. Als Therapeut muss man auch das Unterbewusstsein ansprechen, deswegen arbeite ich mit einer strukturierten Hypnosetherapie. Dennoch: Ein Alkoholiker, der 20 Jahre trinkt und es dann weglässt, ist immer noch Alkoholiker, wenn auch trocken. Und so ist es bei den Sex- und Pornosüchtigen auch. Das Gehirn hat sich neuroplastisch verändert und eine Suchtstraße ausgebildet. Das heißt, sie müssen immer aufpassen, nicht wieder in alte Muster zu verfallen.

Fast jeder Mann, den Frauen heute treffen, ist von Pornografie geprägt

Unsere Gesellschaft ist sexualisiert, aber laut Umfragen ist heutzutage gerade für junge Leute sexuelle Treue ein enorm wichtiger Wert.

Natürlich. Viele wollen das. Und einigen gelingt das auch prima, denn es gibt Leute, die Nein sagen können. Aber es können nicht alle, und die Alternativangebote sind sehr nah. Sie können aus dem Bett heraus per Smartphone die nächste Affäre kennenlernen.

Wie sollen wir damit umgehen als Gesellschaft? Und wie soll man Jugendliche darauf vorbereiten, dass Pornos nicht das wahre Leben sind?

Bevor Kindern ein Smartphone in die Hand gedrückt wird, muss man über die Chancen und Risiken der digitalen Welt reden, und dazu gehört auch, dass man das Suchtpotenzial von Pornografie nicht unter den Tisch fallen lässt. Aber die meisten reden ja noch nicht mal mit ihrem Partner offen drüber: Sag mal, schaust du Pornos? - Nein, nein, nein! Wir müssen begreifen, dass das Internet dabei ist, unser Sexleben radikal zu verändern, direkt oder indirekt. Das ist ein Phänomen, das tiefer geht als die alte sexuelle Revolution: dass sich die Sexualität so losgelöst hat von Beziehungen. Und einige Menschen können die Verbindung gar nicht mehr herstellen.

Es ging jetzt vor allem um die Männer. Inwiefern sind die Frauen betroffen?


Auch Frauen können heute ihre Lust völlig autonom ausleben und unverbindlichen Sex haben. Aber sie sind auch - vielleicht noch stärker - passiv involviert, weil fast jeder Mann, den sie heute treffen, sexuell von Pornografie geprägt ist. Es passiert jungen Frauen, dass sie von ihrem Date gleich beim ersten Mal beispielsweise nach Analsex gefragt werden. Es ist daher für Frauen wichtig, ihr ganz eigenes sexuelles Profil kennenzulernen und nicht alles nur mitzumachen, weil sie denken, es gehört dazu und wird verlangt. Das können übrigens etwas ältere Frauen oft besser als junge, und diese Klarheit hat auch etwas sehr Spannendes. Es ist schon recht auffällig, dass sich viele jüngere Männer gerade für Frauen interessieren, die älter sind als sie selbst.

Brigitte 19/2018

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