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Seitensprung: Sündenfall oder Selbstverwirklichung?

Wo es Paare gibt, gibt es Affären. Neu ist: Was früher als Sündenfall galt, wird jetzt unter Paartherapeuten immer offener als ein - riskanter - Weg zur Selbstverwirklichung diskutiert. Darf man Treue tatsächlich zur Verhandlungsmasse einer Beziehung erklären? Ein Lagebericht.

Jeder kennt jemanden, dem es passiert ist. Es ist der Nachbarin passiert, die so dünn geworden ist in letzter Zeit. Es ist dem Kollegen passiert, der sich seit Wochen hinter der Bürotür verschanzt. Es ist der Mutter passiert, die vor zwei Monaten das zweite Kind bekommen hat und bei der Frage nach ihrem Mann in Tränen ausbricht. Und es ist der Freundin passiert, die anruft: "Ich muss dir was erzählen, aber bitte versprich mir, dass es ein Geheimnis bleibt."

Fremdgehen ist ein heikles Thema, scham- und schuldbesetzt. Und darum der Stoff, aus dem Bestseller gemacht sind, denn mit diesem Thema beschäftigt man sich lieber allein auf dem Sofa als mittags am Kantinentisch. Die Journalistin und Autorin Martina Rellin erzielte mit mehreren Titeln zum Thema "Liebhaber" Rekordauflagen, auch ihr neuestes Buch "Die Wahrheit über meine Ehe" (16,95 Euro, BRIGITTE-Buch im Diana-Verlag) über den ganz normalen Paar-Alltag ist ein Riesenerfolg und gibt einen weiteren Einblick in eine Wirklichkeit, die die Vorstellung von der braven Ehefrau und dem gewissenlosen Ehemann als Klischee enttarnt.

Gelogen und betrogen wird offenbar jederzeit und überall, in Reihenhäusern und Villen, in Familien und kinderlosen Beziehungen, von Jungen und Älteren - und von beiden Geschlechtern. Rellin, die mit unzähligen Untreuen gesprochen hat: "Im Normalfall hat der verheiratete Mann ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau."

Wie viele Menschen genau fremdgehen, ob die Anzahl der Fremdgeher, wie in den Medien oft behauptet, im Zeitalter der Online- Kontaktbörsen gestiegen ist, dazu kann man nach Einschätzung seriöser Wissenschaftler keine haltbaren Aussagen machen: Kaum ein Fremdgeher gibt verlässlich Auskunft über seine Exkursionen in fremde Betten. Genaueres lässt sich sagen über Ursachen und Folgen der Untreue. Der Göttinger Sexualforscher und Paartherapeut Ragnar Beer befragte für eine kürzlich veröffentlichte Studie 6000 untreue Frauen und Männer: Der häufigste genannte Grund für aushäusige Abenteuer ist sexuelle Unzufriedenheit. Unter untreuen Männern finden sich mehr Wiederholungstäter, also solche, die ihre Partnerin öfter als drei Mal betrogen haben. Im Schnitt fliegen 60 Prozent der Seitensprünge auf, wobei untreue Frauen ihre Liebschaften erfolgreicher verheimlichen - und zwar unabhängig von ihrer Dauer.

Bei Männern dagegen steigt das Risiko, erwischt zu werden, umso mehr, je länger die Affäre anhält. Und fliegt er dann auf, ist auf das weibliche Einfühlungsvermögen kein Verlass - im Gegenteil: Etwa doppelt so viele Frauen wie Männer empfinden Hass gegenüber ihrem Partner, so das Ergebnis von Beers Sudie, fast doppelt so viele Frauen (40 Prozent) wie Männer (22 Prozent) wollen den anderen strafen.

Eigentlich aber braucht man keine Statistiken, um ins Grübeln zu geraten. Ein Blick in den Bekanntenkreis reicht für die beunruhigende Ahnung: Es scheint weniger eine Frage des Willens als der Zeit und Gelegenheit zu sein, ob und wann es einen selbst erwischt. Falls nicht auch das längst passiert ist. Wie aber soll man als Paar umgehen mit dem "Schatten des Dritten", wie die New Yorker Psychotherapeutin Esther Perel die Tatsache umschreibt, dass jede noch so sicher geglaubte Zweisamkeit die Vorstufe zum Dreiecksverhältnis ist? Und was, wenn der Schatten kein Schatten mehr ist, sondern ein Name, der Absender einer SMS - eine andere Frau, ein anderer Mann?

Wir mögen unserem Partner gegenüber noch so tolerant sein - beim Thema sexuelle Treue reagiert die Mehrheit nach dem Motto "Entweder-Oder": entweder sie oder ich. Entweder du sagst die Wahrheit, oder unsere Liebe ist eine einzige große Lüge. Entweder du schwörst, so etwas nie wieder zu tun, oder ich trenne mich. Entweder ich bin dir alles oder nichts. Für die meisten ist es erträglicher, keinen Partner mehr zu haben als einen, von dem man nicht sicher sein kann, dass sein Begehren einem allein gehört. Paare, die nach einem aufgeflogenen Seitensprung beim Therapeuten landen, werden in dieser Haltung oft bestätigt. Paartherapeuten vermeiden es zwar, ihre Klienten nach moralischen Kriterien in Täter und Opfer zu unterteilen, indem sie bei der Suche nach Gründen für eine Außenbeziehung immer beide zur Verantwortung ziehen.

Doch aus klassischer therapeutischer Sicht, wie sie z. B. der renommierte Paartherapeut Hans Jellouschek vertritt, ist klar: Eine Affäre ist immer Ausdruck tiefer liegender Störungen zwischen den Partnern. Wer seine Beziehung retten will, muss versuchen, diese Probleme zu lösen, damit sich das Verbotene, Zerstörerische nicht wiederholt. Insofern kann eine Affäre als Chance zum Neubeginn begriffen werden, jedoch niemals als Ausweg.

Genau diese Annahme stellen immer mehr Therapeuten in Frage, darunter namhafte Paarexperten wie Michael Mary, Julia Onken - und der Heidelberger Sexualwissenschaftler Ulrich Clement. Der Mangel, der Gebundene in die Arme Dritter treibe, sei nicht immer, aber oft "nur der ganz normale Mangel an Leidenschaft", wie er in fast jeder langen Beziehung vorkomme: "Man kann als Therapeut Untreue grundsätzlich für ein Problem halten. Man kann sie aber ebenso als Lösung betrachten dafür, verschiedene Sehnsüchte unter einen Hut zu bekommen. Manche Außenbeziehung stellt die Primärbeziehung nicht nur nicht in Frage, sie stabilisiert sie sogar", so Clement.

"Natürlich wird eine Affäre von den meisten Betrogenen zunächst als vernichtend erlebt. Aber man darf nicht vergessen: Auch Treue hat ihren Preis. Viele Partner werfen sich den Verzicht irgendwann vor, offen oder unterschwellig. Treue Paare haben es auf lange Sicht nicht automatisch leichter als untreue. Insofern halte ich es für fraglich, als Therapeut Eindeutigkeit vorauszusetzen, wo Mehrdeutigkeit angemessen ist."

Wie mehrdeutig unsere Sehnsüchte sind, weiß jeder, der schon einmal eine Langzeitbeziehung geführt hat. Doch während in vergangenen Epochen die Ehe primär als familiäre und wirtschaftliche Institution betrachtet wurde, von der man nur bedingt annahm, dass sie ein Hort dauerhafter Leidenschaft sei, erwarten wir heute, dass eine einzige Beziehung all diese Bedürfnisse erfüllt - auch die, die einander eigentlich ausschließen: Weil Vertrauen auf Nähe basiert, Erotik jedoch auf Distanz. Wir wollen einen Partner, der zugleich Freund und Geliebter, verlässlich und verführerisch ist, der unser Innerstes kennt und unser Äußeres begehrt, der sich in der Küche partnerschaftlich verhält und im Bett leidenschaftlich.

"Moderne Ehen versprechen, dass es eine Person gibt, die all das in sich vereinigt; wir müssen sie nur finden. An dieser Vorstellung halten wir so hartnäckig fest, dass, wer enttäuscht ist und sich für eine Scheidung oder einen Seitensprung entscheidet, damit nicht die Institution der Ehe in Frage stellt, sondern lieber an seiner Partnerwahl zweifelt", schreibt Esther Perel in ihrem Buch "Wild Life - Die Rückkehr der Erotik in die Liebe" (19,90 Euro, Pendo). Statt uns Gedanken darüber zu machen, ob absolute Treue nicht vielleicht eine unrealistische Erwartung ist, wechseln wir auf der Suche nach der perfekten Beziehung immer wieder die Partner. Und werden womöglich immer wieder enttäuscht, mit leidvollen Konsequenzen für alle Beteiligten - gerade dann, wenn Familien betroffen sind.

"Sexuelle Treue wird mit den Attributen reif, verantwortlich und realistisch ausgezeichnet. Polygamie hingegen gilt als suspekt", stellt Perel fest. Und verführt damit zu der Frage: Kann es nicht auch ein Zeichen von Reife, Realitätssinn und Verantwortungsbewusstsein sein, für sich selbst und den Partner zu akzeptieren, dass keine Partnerschaft auf Dauer alle Bedürfnisse befriedigen, dass die Sehnsucht nach aufregendem Sex oft nur und gerade im Rahmen geheimer, weil verbotener Begegnungen gestillt werden kann? Dass Treue keine in Stein gemeißelte Definition ist, sondern Verhandlungssache - und Untreue erst dort beginnt, wo Grenzen überschritten werden, auf die man sich geeinigt hat?

Sex: geht, Verlieben: geht nicht. One-Night-Stand: okay, Langzeitaffäre: tabu. Alle zwei Monate: meinetwegen. Einmal pro Woche: kommt nicht in die Tüte. Hotel: ja. Zu Hause: nein. Mit Ansage: halt ich nicht aus. Was ich nicht weiß: macht mich nicht heiß. Perel plädiert dafür, "Monogamie nicht als feste Gegebenheit anzusehen, sondern als Wahlmöglichkeit. Wenn wir fünfzig Jahre mit ein und derselben Person zusammen sein wollen, sind wir gut beraten, unsere Absprachen in Krisenzeiten immer wieder neu zu überprüfen". Clement drückt es so aus: "Die Gesetzgebung muss der Entwicklung der Beziehung angepasst werden."

"War bestimmt nicht immer treu, doch ich hab dich nie betrogen", singt das Pop-Duo Rosenstolz in seinem Hit "Ich bin Ich", und alle singen mit: Man kann auch dann ein loyaler Partner sein, wenn man mit anderen ins Bett geht - zumindest theoretisch ist diese Botschaft bei vielen Paaren an der Basis angekommen. In der Praxis allerdings sieht die Sache oft ganz anders aus.
 

"Eine kurze Affäre verkraften viele Paare. Oft rüttelt der Schock sogar Beziehungen wach, die fast eingeschlafen waren; die plötzlich gefühlte Distanz führt zu einer Wiederbelebung der Sexualität: Wenn ich merke, dass mein Partner für andere attraktiv ist, wird er auch in meinen Augen wieder begehrenswert", sagt Camilla Engelsmann, Beraterin bei pro familia, München: "Aber nur dann, wenn der Betrogene verzeihen kann, auch weil er sich darauf verlassen kann, dass das ein einmaliger Ausrutscher war. Damit zu leben, dass der Partner immer wieder oder dauerhaft fremdgeht, ist für die meisten eine totale Überforderung."

Verständlicherweise, findet Engelsmann, die von Außenbeziehungen als Dauerlösung nichts hält: "Treue besteht aus Nähe, innerlicher wie äußerlicher, aus Intimität, Sich-Anvertrauen. Wenn der eine anfängt, all dies auch noch mit jemand anderem zu teilen, zieht er Energie ab, die in die Hauptbeziehung gehört. Dann stellt sich irgendwann die Frage: Ist das noch Liebe? Falls nicht, sollte man überlegen, ob eine Trennung nicht die ehrlichere Lösung wäre."

Trennen? Bleiben? Dem Partner ganz genau auf den Kragen, das Telefon, in die Augen schauen - oder "wertschätzend wegschauen", wie Ulrich Clement die Strategie jener Paare nennt, die gar nicht so genau wissen wollen, womit und mit wem der andere sich die getrennt verbrachte Zeit vertreibt? Toben, schreien, verfluchen, wenn dann doch herauskommt, was man nie erfahren wollte? Oder Clements Rat "für Fortgeschrittene" beherzigen: "Es nicht persönlich nehmen, dem anderen seine sexuelle Selbstbestimmung lassen, ihn primär als Individuum und sekundär als Partner sehen"?

Ist die Tatsache, dass einer von uns sich in einen anderen verliebt, ihn begehrt, mit ihm Sex gehabt hat, der Anfang vom Ende - oder der Aufbruch in eine neue Beziehungsphase? Naiv wäre es zu glauben, dass einen all diese Fragen niemals betreffen werden. Ebenso naiv ist es zu behaupten, die Antworten im Voraus zu kennen: Was passiert, wenn es einem selbst passiert, weiß man erst, wenn es so weit ist.

BRIGITTE 18/08 Text: Julia Karnick Foto: Getty Images

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