Anzeige

Samenspende: Eine Frau sucht ihren Vater

Rund 100 000 Kinder wurden bis heute in Deutschland mit Spendersamen gezeugt. Die meisten von ihnen wissen es nicht. Und nur wenige kennen ihren Erzeuger. Anna, 26, will wissen, wer ihr biologischer Vater war. Und ist sehr wütend.

Diesen Abend wird Anna niemals mehr vergessen. Ihre Mutter hatte sie zum Essen eingeladen. Und auch ihr Vater, der längst woanders lebte, war gekommen und genehmigte sich als Erstes einen Schnaps. Dann begann die Mutter über Zeugungsprobleme zu reden und wie die Uniklinik Essen dem Paar damals angeboten hatte, es mit einer Insemination zu versuchen. "Ich wusste gar nicht genau, was Insemination bedeutet", sagt Anna. "Nur, dass mein Vater nicht an der Zeugung beteiligt war, ahnte ich."

Es war diese Information, die ihr fast den Boden unter den Füßen wegzog. Wieder zu Hause, setzte sich die Studentin sofort an ihren Computer und gab die Worte "Insemination" und "Samenbank" ein. Sie fand die Homepages von Fortpflanzungskliniken. Und Chat-Foren, in denen sich ungewollt Kinderlose über die kostengünstigsten Behandlungen hierzulande und im Ausland austauschen. Doch sie fand nichts über die Probleme der Kinder, die mit Hilfe dieser Methode zustande kamen. Ein Jahr später sitzen wir zusammen in Annas kleiner Wohnung bei einer Tasse Tee. Die junge Frau mit dem halblangen rötlichen Haar trägt einen blauen Ringelpullover und eine Jeans. Es ist ihr anzumerken, dass sie nicht wieder von widerstreitenden Gefühlen überschwemmt werden will.

Der Verzweiflung folgte Wut

Anfangs war sie verzweifelt, inzwischen spürt sie vor allem Wut. Auf ihre Eltern, die sie so lange betrogen haben: "Das ist ein Vertrauensbruch!" Auf die Uniklinik Essen, die alle Daten über ihren Spender vernichtet und sich dafür nicht einmal entschuldigt hat - jetzt plant Anna, diese Klinik zu verklagen. Sauer ist sie auch auf den Gesetzgeber, der das Recht der Kinder auf Kenntnis ihrer Abstammung nicht unterstützt. "Ich stamme aus einer Samenbank", fasst Anna nüchtern zusammen, "und meinen Samenspender kenne ich nicht."

Seit einem halben Jahrhundert assistieren Ärzte bei Zeugungen mit Spendersamen, seit etwa 30 Jahren ist auch eine Schwangerschaft mit fremden Eizellen möglich, wenn auch nur über den komplizierten Weg einer Reagenzglasbefruchtung. In den vergangenen Jahrzehnten wurde viel wissenschaftlicher Aufwand betrieben, die Zeugung im Labor technisch nachzuahmen. Doch über den Umgang mit den so entstandenen Kindern hat sich lange Zeit kaum jemand Gedanken gemacht.

Viele schlittern in eine Lebenskrise: Wer bin ich? Wo komme ich her?

Ein Tabuthema? Bei uns schon. In England nicht mehr Thomas Katzorke, der Leiter der größten deutschen Samenbank in Essen, schätzt, dass von rund 100 000 Spenderkindern in Deutschland mindestens 90 000 nicht wissen, wie sie gezeugt wurden. Fast alle Kinderwunschpaare sagten ihm klipp und klar, dass sie ihren Kindern auf keinen Fall die Wahrheit sagen wollen: "Manchen ist es einfach peinlich, dass der Mann zeugungsunfähig ist." Andere wollen das Kind nicht "unnötig" belasten und zum Außenseiter machen. Oder fürchten, es könnte den sozialen Vater nicht annehmen.

Die Gesetze in den meisten Ländern unterstützen die Heimlichtuerei, indem sie die anonyme Spende vorschreiben. Zum Schaden der Kinder, meinen Familienforscher weltweit. Und immer häufiger protestieren inzwischen auch die Wunschkinder, für die der ganze Zeugungsaufwand betrieben wurde. Die "Donor Kids", zu Deutsch "Spenderkinder", fordern ihr Recht ein, zu wissen, von wem sie abstammen, und verweisen dabei auf die Kinderrechts-Charta der Vereinten Nationen. Unterstützt werden sie dabei von Psychologen und Elternorganisationen wie dem britischen "Donor Conception Network" mit seinen über 1000 Mitgliedern, meist Eltern von Kindern, die aus einer Keimzellspende stammen. Das Netzwerk hat das Thema in die britische Öffentlichkeit gebracht und damit enttabuisiert. Seit 2005 gibt es nun auf der Insel keine anonyme Keimzellspende mehr. Die persönlichen Daten jedes einzelnen Samenspenders und jeder Eizellspenderin werden in einem nationalen Register dokumentiert, bei dem Kinder ab 18 Jahren dann ihre genetische Abstammung erfragen können. Vorausgesetzt, sie wissen über die Art ihrer Entstehung Bescheid.

Den Kindern kommt ihr Leben wie eine Lüge vor Die britische Psychologin Amanda Turner - die selbst erst mit 19 erfuhr, dass ihr biologischer Vater ein Samenspender war - hat erwachsene "Spenderkinder" im Alter von 25 bis 55 Jahren befragt. Fast alle hatten unter widrigen Umständen die Wahrheit über ihre Entstehung erfahren: bei einem Familienstreit, der Trennung oder dem Tod der Eltern oder einer eigenen Krankheit. "Für viele ein Schock", sagt die Psychotherapeutin. "Ihr bisheriges Leben kam ihnen danach wie eine Lüge vor." Häufig schlitterten sie in eine Lebenskrise, fragten sich: "Wer bin ich, und wo komme ich her?" Viele konnten auf einmal die unbestimmte Ahnung ihrer Kindheit einordnen, dass da irgendetwas in ihrer Familie nicht stimmte. Manche erinnerten sich wieder an die Zweifel beim Blick in den Spiegel: Warum habe ich als Einzige in der Familie so eine Stupsnase oder diese wilden Locken? Andere meinten plötzlich zu verstehen, warum ihr Vater immer so distanziert zu ihnen war.

Auch Anna erinnert sich noch an den Stress, den sie in der Pubertät mit ihrem Vater hatte: "Er war eifersüchtig auf meine Mutter und fühlte sich von mir zurückgesetzt." In den letzten Jahren wurde die Beziehung zu ihrem Vater wieder besser. Deshalb bedauert sie, dass er nicht ihr leiblicher Vater ist. Schließlich tröstet sie sich damit, dass sie auch ihren Freund sehr gern hat, obwohl sie nicht die gleichen Gene haben.

Die Eltern wissen einfach nicht, wie sie die passenden Worte finden sollen Beziehungen kann man nicht auf einer Lüge aufbauen, so mahnen schon seit Jahren Adoptionsforscher. Sie weisen darauf hin, wie schädlich Familiengeheimnisse für die Persönlichkeitsentwicklung sein können: Unterschwellig wirkt in einer Familie eben oft nicht das, was gesagt wird, sondern das, was nicht gesagt wird. Zum Beispiel, wenn Kinder auf ihre existenziellen Fragen ausweichende Antworten und irritierte Blicke der Eltern ernten. "Kinder spüren diese Verunsicherung und geben sich die Schuld dafür", so die Mörfeldener Sozialarbeiterin und Familientherapeutin Petra Thorn, die Paare vor und nach der Samenspende berät und Spenderkinder therapeutisch begleitet. Manchmal, so weiß sie, schweigen Eltern aus Hilflosigkeit: "Sie wissen einfach nicht, wie sie die passenden Worte finden sollen." Deshalb hat sie jetzt ein Bilderbuch verfasst, das Kindern in einfachen Worten und mit ansprechenden Illustrationen ihre Entstehung erklärt (siehe Kasten rechts): Es erzählt von einem glücklichen Paar, das sich sehnlichst ein Kind wünscht und sich deshalb an einen Arzt wendet, der dann noch einen anderen Mann ins Boot holt. "Und dieser nette Mann schenkte dem Arzt Samen für Mama und Papa", heißt es in dem Bilderbuch, in dem auch Platz für eigene Familienfotos ist. "Die Eltern sollten möglichst schon im Kindergarten spielerisch mit der Aufklärung beginnen und diese Aufgabe auch nicht der Tante oder jemand anderem überlassen", rät Petra Thorn, die auch bei der Gründung der ersten Selbsthilfegruppe geholfen hat.

Viele stehen vorm Spiegel und fragen sich: Was hab ich von dem Unbekannten?

Es geht auch anders: Offenheit von Anfang an Inzwischen umfasst dieser Kreis mehr als 20 Familien; die ältesten Kinder kommen bald in die Pubertät. Sie treffen sich übers Wochenende, grillen oder machen gemeinsame Ausflüge in den Tierpark. Und während die Sprösslinge miteinander spielen, reden die Eltern über ihren Alltag.

Marion und Peter haben die Beratung und die Gespräche in der Gruppe darin bestärkt, dem Kind gegenüber von Anfang an offen zu sein. Zwar liegt Markus noch in den Windeln, doch die jungen Eltern erzählen ihm schon manchmal, wie er entstanden ist. Auch wenn es noch einige Jahre dauert, bis er begreift, worum es geht. Das wissen sie von anderen Familien aus der Gruppe. "Ein Junge ist jetzt vier. Den interessiert das noch keine Socke. Aber er hört es immer mal wieder, und damit wird es für ihn selbstverständlicher." Auch Nadja und Andreas, beide Anfang 30, wollen, dass ihr zweijähriger Sohn Jan von Anfang an mit der Wahrheit aufwächst. Doch die ungeklärte rechtliche Lage in Deutschland beunruhigt sie. "Was ist", fragt Nadja "wenn wir unserem Sohn von seiner Entstehung erzählen, und dann sind die Spenderdaten später nicht mehr auffindbar oder werden ihm vorenthalten?" Zwar sprach das Bundesverfassungsgericht schon 1989 Kindern ein Recht auf Information über die eigene Abstammung zu. Doch ein Gesetz fehlt in Deutschland. Nur die "Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion" der Bundesärztekammer regelt seit 2006, dass persönliche Spenderdaten aufgehoben werden müssen. Für mindestens 30 Jahre - so fordert es die Richtlinie des "Arbeitskreis Donogene Insemination e.V.". Doch ob und wann die Kinder Zugang zu dieser Dokumentation haben, ist ungeklärt. Nadja und Andreas war das zu vage. Deshalb haben sie eine Berliner Kinderwunschpraxis ausgewählt, die ihren Wunsch nach Offenheit respektiert. Mit ihr haben sie beim Notar vertraglich festgelegt, dass die persönlichen Daten des Spenders dort lebenslang aufgehoben werden.

Halbgeschwister verzweifelt gesucht - auf der ganzen Welt Unter Reproduktionsmedizinern überwiegt die Skepsis gegenüber solchen Regelungen. Und Samenbankbetreiber fürchten, dass sie nicht mehr genügend Spendenwillige finden könnten. "Deshalb wird schon mal das Problem der Offenheit gegenüber den Spendern heruntergespielt", räumt ein Fortpflanzungsmediziner ein. Mitunter gibt es auch ein stilles Einvernehmen zwischen Ärzten und Kinderwunsch-Paaren. Die einen bangen um ihr Geschäft, die anderen um ihre makellose Familiengeschichte.

Manchmal betrachtet sich Anna vor dem Spiegel und fragt sich, was von ihrer Mutter und was von dem "Unbekannten" stammt. Wie er aussieht, wo er lebt und ob er sich über sie freuen würde. Sie wünscht sich, dass er ehrlich zu seinen Kindern ist und sozial engagiert, so wie sie. "Das sind so Wunsch- bilder", seufzt sie. "Aber ich finde es schon traurig, dass ich kaum eine Möglichkeit habe, meinen genetischen Vater zu finden."

Spenderkinder auf der ganzen Welt nutzen inzwischen das Internet zur Suche nach ihren Verwandten. Sie können sich etwa bei dem britischen "Donor Link" registrieren lassen. Das Pilotprojekt mit den Puzzleteilen im Logo will Spenderkinder untereinander und mit ihren genetischen Eltern zusammenbringen. Voraussetzung dazu ist eine DNA-Probe, damit das Erbgut im Labor verglichen werden kann. Einige Familienzusammenführungen sind schon gelungen. Und im amerikanischen "Donor Sibling Registry" haben sich inzwischen etwa 15 500 Menschen registriert, um mit Hilfe von Spender-Identifikationsnummern, dem Namen der Samenbank oder Eizell-Agentur ihre Verwandten zu suchen. Auch Anna hat jetzt eine Website eingerichtet, um mit anderen betroffenen Kindern in Kontakt zu kommen. "Toll wäre, wenn ich auf diesem Weg vielleicht auch Halbgeschwister fände", sagt sie. So könnte sie die Leerstelle in ihrem Leben etwas auffüllen. "Nicht, dass ich an die Allmacht der Gene glaube", stellt Anna klar, "aber jeder Mensch hat das Bedürfnis zu wissen, woher er kommt, und will dieses Wissen auch seinen eigenen Kindern weitergeben

Welche Rechte brauchen Spenderkinder? Diskutieren Sie mit!

Rund 100 000 Kinder wurden allein in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten mit Hilfe von Spendersamen gezeugt. Viele wurden und werden darüber nicht informiert. Und diejenigen, die versuchen, im Erwachsenenalter etwas über ihren biologischen Vater herauszufinden, haben oft Schwierigkeiten, weil die Spenderdaten nicht dokumentiert sind.

Eine Richtlinie der Bundesärztekammer schreibt zwar seit 2006 vor, dass die Daten von Samenspendern 30 Jahre lang aufbewahrt werden. Aber die Rechte der Kinder sind bisher nicht geregelt.

Was meinen Sie? Sollten Spenderkinder einen Rechtsanspruch auf Auskunft über ihren Erzeuger haben, wenn sie 18 Jahre alt sind? Und sollten ihre Eltern verpflichtet werden, sie spätestens am 18. Geburtstag über die Art ihrer Entstehung aufzuklären? Sagen Sie uns Ihre Meinung - in der Community.

BRIGITTE Heft 01/07 Text: Eva Schindele, Imke Zimmermann Foto: auslöser/zefa/corbis

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel