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Outing in der Ehe Muss ein Outing das Ende der gemeinsamen Familie sein?

Outing in der Ehe: Zwei Männer halten Hände
© worradirek / Adobe Stock
Peer ist mit Theresa verheiratet – und gesteht ihr nach Jahren, dass er mit Männern schläft. Ein Drama? Sicher. Das Ende? Nicht unbedingt, sagt Outing-Experte Kai Franke.

"Wann immer ich von Frauen gehört oder gelesen habe, die von ihrem Mann betrogen wurden, fiel der gleiche Satz. Dass es nicht der Betrug ist, der wirklich wehtut, sondern die Heimlichkeiten, die Lügen, die Unehrlichkeit. Das stimmt aber nicht. Nicht für mich. Mir tut die Untreue weh und das Gefühl, dass er mit jemand anderem intim war. Die Lügen und die Heimlichkeiten hingegen haben mich geschützt. Bis die Wahrheit kam. Die Wahrheit hat alles zerstört." Das war das Erste, was Theresa zu mir sagte, als sie in meiner Praxis saß. Sie war gefasst und weinte nicht. Das hatte sie hinter sich, seit ich ihren Ehemann vor zwei Wochen davon hatte überzeugen können, ihr nach Jahren zu gestehen, dass er mit Männern schläft.

Die Wahrheit tut weh

Theresa und Peer sind Ende fünfzig und seit fast 30 Jahren ein Paar. Ihr Sohn arbeitet als Geschäftsführer in Peers Betrieb, ihre Tochter studiert in der Nachbarstadt. Dass Theresa und Peer den letzten Sex lange vor der Pandemie hatten, war für Theresa nur selten mehr gewesen als der Preis, den man als Paar irgendwann für drei glückliche Jahrzehnte zahlt. Sie liebten sich ja, und es gab keine Nacht, in der sie nicht mit ihrer Hand in seiner einschlief.

Peer hingegen schlief irgendwann kaum noch. Er dachte über das Doppelleben nach, das er führte, seit er vor Jahren auf einem Kongress mit einem fast fremden Seminarteilnehmer aufs Zimmer gegangen war. Er hatte es auf den Alkohol geschoben und sich selbst versichert, dass fast jeder Mann einmal "so etwas" tut. Und die Schwulenpornos, die er sich nun öfter auf dem Handy ansah, während er onanierte, waren doch nur Filme. Als eines Tages das Banner einer Dating-App erschien, meldete er sich an. Sich fremde Profile anzusehen, war schließlich kein Ehebruch. Doch die erste Verabredung mit einem jüngeren Mann in einer Herrensauna war einer. Der erste von vielen.

Wenn Peer nun nachts die Hand seiner schlafenden Frau hielt, fühlte er Liebe, Schuld und Ausweglosigkeit. Und die Einsamkeit eines Mannes, der die Wahrheit weder aussprechen noch länger leugnen konnte.

Kein Gefühl von Vollwertigkeit

Doch Peer ist nicht allein. Laut einer Schätzung des Bundesfamilienministeriums leben aktuell fast 300.000 Männer in Ehen und festen Partnerschaften, die ohne das Wissen ihrer Partnerinnen und Familien regelmäßig Sex mit Männern haben. Natürlich ist das eine Dunkelziffer – und das aus gutem Grund. Denn das Licht der Erkenntnis bedeutet für viele Paare nach dem ersten Schock die komplette Einbuße des bisherigen Lebens. Trennung oder Scheidung, aber vor allem der emotionale und gesellschaftliche Gesichtsverlust vor Kindern, Eltern, Geschwistern, aber auch Kollegen, Mitarbeitern, Geschäftspartnern.

"Das ist doch heute kein Drama mehr", sagte mir neulich eine Kollegin, der ich berichtete, mit welchen Ängsten gerade Männer auf die Konsequenzen eines späten Coming-outs blicken. Doch genau das ist es. Heute wie damals.

Ich selbst lebe seit 20 Jahren mit einem Mann, der schlussendlich meinetwegen Frau, Kinder, Haus und einen Border Collie verließ. Und ich kenne die Nöte auf beiden Seiten eines zum Verkauf stehenden Ehebettes. Die oftmals auch wirtschaftliche Sorge der Männer, neben der geliebten Frau auch noch alles zu verlieren, das man sich gerade erst erschaffen hat. Die Befürchtung, weder als Mann noch als Vater je wieder vollwertig zu sein. Damals wie heute ist ein "ganzer Kerl" in den Augen vieler eben niemand, der nachts auf einer behaarten Brust einschläft.

Ein Outing ist heute genauso schwer wie früher

Und ich kenne die Verzweiflung der Frau, wenn sie, zur Kampflosigkeit verurteilt, zusehen muss, wie ihr der vertraute Partner entgleitet und eine Welt betritt, zu der sie keinen Zugang hat. Damals wie heute müssen sich diese Frauen fragen lassen, wie man denn nicht merken kann, dass der eigene Mann die geschlechtliche Präferenz wechselt. Dabei vergisst man, dass der Großteil der Homosexuellen eben oftmals nicht dem Bild entspricht, das wir aus dem Blockbuster-Kino kennen. Nur weil sich ein Mann zu Männern hingezogen fühlt, verehrt er ja nicht plötzlich Cher und zieht sich einen akkuraten Lidstrich. Er bleibt der Mann, in den man sich verliebt hat. Ihn erregen nur andere Dinge.

Natürlich hat sich viel getan in den letzten zwei Jahrzehnten. Wir haben Gendertoiletten, Spitzensportler outen sich (zumindest direkt nach Beendigung ihrer Profikarriere) und man fliegt auch nicht sofort aus dem Sender, wenn man sich als deutscher Fernsehstar dem gleichen Geschlecht zuwendet. Doch das ist nur das Große, das Laute, das Sichtbare. Was sich nicht geändert hat, sind die verstohlenen Blicke, das Getuschel und die fürsorgliche Toleranz all jener, die sich insgeheim in dem warmen Gefühl baden, dass es nicht ihr eigenes Leben betrifft.

Fraglos wäre es unfair zu behaupten, dass Homosexualität noch überall für Aufsehen sorgt. Aber allein dadurch, dass sie gesellschaftsfähiger ist, wird ein Outing nicht leichter. Die Betroffenen stehen heute wie früher vor dem Ende dessen, was sie bisher kannten, und blicken auf etwas, das unüberschaubar ist. Und dieser Ausblick wird beängstigender, je weiter man auf der Zeitlinie nach vorne rutscht. Je kostbarer und vielfältiger die gemeinsamen Erinnerungen sind und je knapper die Zeit wird, um ein neues und weiteres Mal glücklich zu werden.

Die weibliche Entschlossenheit sich zu trennen

Mein Partner, seine Frau und ich waren in den Dreißigern, als wir aus dem Nichts ein Patchwork-Leben erschaffen haben. Es gab viel Zeit für neue Rituale, Traditionen und Urlaube mit Kindern, die damals noch so klein waren, dass sowohl Mamas neuer Partner als auch ein schwuler Papa heute ihre Normalität sind. Aber wie wäre das 2023? Wie stark wäre die Verbundenheit des Paares nach einem halben Leben, wie schwer wären die Schuldgefühle des schwulen Mannes und wie groß wäre die Erschütterung seiner Partnerin?

Sicher, Frauen, für die jede Art der Untreue das Ende bedeutet, trennen sich sofort. Und das ist absolut richtig. Wer nicht zusehen oder sich auf Alternativen einlassen möchte, der darf und soll den sich outenden Partner verlassen.

Ich rate dazu, wann immer mir diese weibliche Entschlossenheit begegnet. Doch die Realität sieht nicht selten anders aus. Die zwei, die mich in meiner Arbeit als Coach dazu gebracht haben, für eine andere Art von Outing zu kämpfen, waren Theresa und Peer.

Hoffnung, dass die Familie weiterhin besteht

Nachdem ich mit Theresa lange darüber gesprochen hatte, dass die Wahrheit niemals feindselig ist, kam sie zur nächsten Sitzung gemeinsam mit ihrem Ehemann. Die beiden hielten sich fest an der Hand, als Theresa das Wort ergriff: "Wir möchten uns nicht verlieren. Uns ist klar, dass wir vermutlich nie wieder miteinander schlafen werden. Und uns ist ebenfalls klar, dass wir früher oder später auch mit anderen schlafen. Aber sollte eine oder einer dieser anderen für uns wichtig werden, dann möchten wir unsere Familie lieber erweitern, als sie heute aufzulösen. Wir haben uns immer darauf gefreut, das Alter gemeinsam zu erleben und füreinander da zu sein, wenn nicht mehr alles so selbstverständlich ist wie jetzt. Unser Ziel war immer ein offenes Haus für die Kinder und ihre Freunde. Und unsere Enkel. Und … es geht auch um die Firma. Zwar wissen wir, dass die Probleme der Eltern die Probleme der Eltern sind, aber unser Sohn hätte im Betrieb sehr zu kämpfen, wenn herauskäme, warum wir uns trennen. Und das würde es." Und dann sprach Peer und sah zum ersten Mal in all den letzten Wochen hoffnungsvoll aus: "Bekommen wir das hin?"

An diesem Nachmittag wurde das "Selektive Outing" geboren, durch das ich seitdem wieder und wieder coache. Selektiv, weil ab der ersten Minute jede Entscheidung, die innerhalb dieser Konstruktion getroffen wird, haargenau abgewogen wird. Die oberste Regel ist absolute Offenheit im Innenverhältnis. Nur so wird Spekulationen vorgebeugt, die unermessliche Kraft rauben. Die zweite ist äußerliche Diskretion. Nur gemeinsam wird entschieden, wer und in welchem Ausmaß von dieser neuen Konzeption erfährt – und das ohne jede Ausnahme, seien es Eltern, Kinder oder die besten Freunde.

Es ist ein fragiles Geflecht, in dem die gegenseitigen Bedürfnisse permanent abgewogen werden, Grenzen neu gesetzt und verhandelt werden müssen. Und es ist ein Zustand ständiger Vorläufigkeit. Beängstigend, weil unsicher. Aber eben auch unfassbar bereichernd.

Die Wahrheit ist ein guter Ort

Es ist die große Chance für Familien, am Umbruch zu wachsen und zu bewahren, wofür man mitunter Jahrzehnte gelebt und gearbeitet hat – und nicht zuletzt anderen zu zeigen, dass heute wirklich viele und vielseitigere Familienmodelle möglich sind.

Ich traf Theresa und Peer einige Monate nach dem Ende der Paartherapie in der Stadt. Sie kamen mir eingehakt entgegen, beladen mit Tüten. Es war Peer, der mir erzählte, dass Theresa ihn gebeten hatte, dabei zu sein, wenn sie ein Kleid für ihre erste Verabredung mit einem neuen Mann aussucht. Er wirkte etwas unsicher, aber stolz. Auf meine Frage an beide, ob sie zufrieden seien, nickte Theresa und sah mich fest an: "Ja, die Wahrheit ist ein guter Ort."

Kai Franke

...ist Beziehungscoach und Gesprächstherapeut. Der 52-Jährige lebt und arbeitet in Düsseldorf. Neben Soforthilfe bei Trennungen und sozialen Konflikten hat er das "Selektive Coming-out" entwickelt. www.eincoach.com (auch Online-Coachings möglich)

Brigitte

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