Anzeige

Oskar Holzberg Warum gibt es Sex-Ratgeber?

Oskar Holzberg: Füße von einem Mann und einer Frau unter einer Decke
© Friends Stock / Adobe Stock
In der Kolumne unseres Paartherapeuten Oskar Holzberg dreht sich alles um typische Liebesweisheiten und ihren Wahrheitsgehalt, er seziert Sprichwörter, Songtexte und berühmte Zitate. Diesmal: "Wenn Sex die natürlichste Sache der Welt ist, wieso gibt es dann so viele Ratgeber darüber?" (Bette Midler, US-amerikanische Schauspielerin und Autorin)

Kurz gesagt: Weil Sex nicht natürlich ist. Und weil es einfacher ist, über Sex zu lesen, als darüber zu reden.

Jetzt mal ausführlich: Heute ist es so weit. Sex haben die zwei ja schon länger nicht mehr. Aber darüber sprechen können sie erst jetzt. Wie die meisten Paare haben sie den Stau in ihrem sexuellen Verkehr früh in der Therapie erwähnt. Aber dann schienen ihnen erst mal andere Themen wichtiger zu sein. Die Erziehung der Kinder, die ungleiche Belastung. Sex ist ein heißes Thema. Nicht nur in den lustvollen Augenblicken. Was, wenn sich unsere sexuelle Störung nicht beheben lässt? Wenn wir einander nicht genügen? Wir bekommen Angst, einander auf diesem sensiblen Gebiet zu verletzen. Ist das mögliche Ende unserer Sexualität nicht auch das unumgängliche Ende unserer Beziehung?

Doch Angst ist nur ein Grund für die sexuellen Sprachstörungen. Wir haben auch einfach nicht gelernt, über Sex zu sprechen. Die Familie ist kein ideales Lernfeld. Die Kleinen fragen: "Was ist Sex?" Und sobald Papa es holprig erklärt hat, fragen sie: "Warum?" Und darauf haben nicht mal Sexologen eine gute Antwort. Beschließen Eltern endlich, ihre Pubertierenden "aufzuklären", haben die längst alles im Internet bestaunt und finden das Gespräch nur noch "voll peinlich!". Wir müssen Sexualität und das Sprechen darüber erlernen. Aber solange unser Sex genial ist, gibt es keinen Grund dafür. Und sobald sexueller Frust auftritt, leiden wir unter den angstbesetzten Sprachstörungen. Das oben erwähnte Paar hatte das Problem, dass der Mann sehr schnell zum Orgasmus kam. Sie hatten alle Möglichkeiten, vom Urologen bis zur Sexualtherapie, versucht, aber die hohe Erregbarkeit des Mannes war geblieben. Was sie nicht infrage gestellt hatten, war ihre Erwartung an ihre Sexualität. Könnten sie nicht ganz andere Formen der Sexualität finden, bei denen sie beide befriedigt würden? Sie konnten, aber dazu mussten sie, und hier schließt sich der Kreis, miteinander über ihre Sexualität sprechen. Und ihre Vorstellung einer "normalen", "natürlichen" Sexualität aufgeben. Sex ist keineswegs natürlich. Sondern eine Form unseres Erlebens, über die sich die Ansichten durch die Jahrhunderte ständig verändert haben.

Sexualität ist ein Verhaltenssystem

Sexualität ist ein angeborenes Motivations- und Verhaltenssystem. Wir können Sex haben. Und wir wollen ihn haben, weil damit großartige Gefühle einhergehen. Aber wir müssen keinen Sex haben. Wir werden nicht krank, wenn wir darauf verzichten. Wie, mit wem und wie oft wir Sex haben, und wer wir glauben, als sexuelles Wesen sein zu sollen, das ist von den Vorstellungen unserer Kultur bestimmt. In der neurowissenschaftlichen Forschung ist die Trennung zwischen angeboren und erlernt, zwischen Natur und Kultur längst aufgehoben. Glücklicherweise. Doch noch erzeugt die Vorstellung einer natürlichen, in jedem Menschen angelegten Sexualität eine Norm. Sie verhindert, dass wir unsere Sexualität finden.

Es ist ein riesiger Unterschied, ob ich glaube, dass sich meine "natürlichen" Bedürfnisse in unserer Partnerschaft nicht erfüllen. Oder ob ich mich damit auseinandersetze, was gerade zwischen uns geschieht, dass sich unser Sexleben verändert. Wenn unsere Sexualität unbefriedigend ist, dann müssen wir unsere schamvollen sexuellen Sprachstörungen überwinden und dringend über Sex sprechen. Über unseren Sex und über uns.

Oskar Holzberg therapiert seit fast 30 Jahren Paare und schreibt darüber. Er sagt: „Liebe ist keine Illusion, aber wir haben zu viele Illusionenüber die Liebe.“

Neu in den Partner verlieben: Oskar Holzberg
Oskar Holzberg, 67, berät seit über 20 Jahren in seiner Hamburger Praxis Paare und ist seit über 30 Jahren verheiratet. Sein aktuelles Buch heißt "Neue Schlüsselsätze der Liebe" (240 S., 11 Euro, DuMont).
© Ilona Habben
Brigitte

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel