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Nach der Krankheit "Es braucht den Mut, sich selbst neu kennenzulernen"

Nach der Krankheit: "Es braucht den Mut, sich selbst neu kennenzulernen"
© Roman Samborskyi / Shutterstock
Nach einer schweren Krankheit steht oft eine Neuorientierung an. Aber wie findet man heraus, wo die Reise hingehen soll? Fragen an Psychoonkologin Eiken Jöns-Ruge.

BRIGITTE.de: Eine Krise, etwa eine schwere Krankheit, wird heutzutage gern zur Chance stilisiert. Ist sie tatsächlich ein Katalysator für einen Neustart?

Eiken Jöns-Ruge: Ja, das kann sie wirklich sein. Es ist aber häufig so, dass Krebspatient:innen sagen: Ich will wieder die Alte sein und so werden, wie ich mal war. Und wenn die Haare nach der Chemo wieder da sind, und alles wieder gut zu sein scheint, möchten auch die Angehörigen und die Familie, dass alles vorbei ist. Das kann natürlich schwierig sein.

Ist das ein unrealistischer Wunsch?

Nein, natürlich nicht. Manche schaffen das, aber andere eben nicht. Von der Diagnose über den ganzen Zyklus der Behandlung bis hin zur Bestrahlung ist man ja sehr fremdbestimmt: Andere sagen dir, was jetzt mit deinem Leben passiert, wo du zu sein hast und was mit dir gemacht wird. Man gibt sich wirklich ab. Und wenn der Arzt oder die Ärztin einem dann am Schluss die Hand gibt und sagt: 'Alles Gute für Sie, toi, toi, toi!', ist das oft wie ein Erwachen. Ich habe da immer den Hund vor Augen, der aus dem Wasser kommt und sich erstmal schüttelt. Man muss jetzt wieder in eine Art Selbstbestimmung kommen und die Frage beantworten: Was mache ich mit meinem Leben?

Wie findet man Antworten auf diese Frage?

Es braucht den Mut, sich selbst neu kennenzulernen und sich zu fragen: Was ist da eigentlich mit mir passiert? Was machen die körperlichen Verletzungen mit mir, wie lässt mich das zurück, was ist mit meinem Selbstbild passiert, wer bin ich denn jetzt eigentlich? Solche Überlegungen sind hilfreich, um eine neue Heimat in sich zu finden. Dabei kann dieser schöne Satz vielleicht helfen:

Es gibt immer ein Leben vor dem Krebs und ein Leben nach dem Krebs - und das ist auch gut so, damit der Krebs dich nicht erkennt.

Und wenn ich einen Kompass brauche, um meinen Weg in ein neues Leben zu finden?

Ich sage immer, Leid ohne Sinn ergibt keinen Sinn. Deshalb frage ich meine Patient:innen: Was hat Ihnen diese Krebserkrankung gebracht, was bleibt an Positivem übrig? Was ist für Sie gut, wie können Sie besser für sich sorgen, welche Erkenntnisse ziehen Sie aus der Krankheit? Viele sind danach nicht mehr so angespannt und haben nicht mehr den Anspruch, alles schaffen zu müssen. Die Patient:innen sagen dann vielleicht, es reicht mir jetzt, ein oder zwei Dinge am Tag zu machen, mehr geht auch gar nicht. Und ich will jetzt auch mehr Zeit für mich haben und vielleicht gar nicht mehr so funktionieren wie früher. Da ist ja auch sehr viel Sinnkrise. Was vorher wichtig war, muss jetzt nicht mehr wichtig sein.

Das kann schwierig für das Umfeld sein, vermute ich.

Das Umfeld vergisst schnell. Woher sollen andere auch wissen, was diese Zeit der Krankheit mit mir gemacht hat? Partner:innen und Kolleg:innen müssen es jetzt aushalten, dass man möglicherweise nicht mehr so funktioniert wie früher. Deshalb ist es wichtig, dass Betroffene klar formulieren, wie es ihnen geht und was sie jetzt brauchen. Sie müssen sich dem stellen, dass Partner:in, Kinder oder Vorgesetzte sich vielleicht wünschen, dass sie wieder die Alten sind und es nicht immer goutieren, wenn man sagt: Ich bin immer noch kaputt, ich habe immer noch Konzentrationsstörungen, ich muss mich hinlegen, mich schonen.

Was brauchen Frauen Ihrer Erfahrung nach am meisten, die eine schwere Krankheit durchgemacht haben?

Sie brauchen den Mut und den Raum, um sich neu definieren zu können. Sie müssen in Ruhe schauen können, wie ihr Leben nach der Erkrankung weitergehen soll. Eine Krebspatientin sollte nicht so sein müssen, wie die anderen sie haben wollen. Sie muss sagen können: Es gibt jetzt die und die Änderungen in meinem Leben. Idealerweise erfährt sie dabei Akzeptanz von der Außenwelt und wird nicht unter Druck gesetzt.

Eiken Jöns: Neuanfang nach Krankheit
Psychoonkologin, Paar- und Psychotherapeutin Eiken Jöns-Ruge arbeitet in Hamburg
© privat

Haben Sie einen Rat für Patient:innen, die nach der Krankheit sagen: Mein altes Leben passt mir nicht mehr, aber ich weiß noch nicht, wohin die Reise gehen soll?

In dem Büchlein "Die Krebsreise" von Moses G. Steinvorth gibt es eine schöne Antwort auf die Frage: Was ist die Aufgabe eines krebserkrankten Menschen? Sie lautet sinngemäß: 'Sich um Lebenssinn und Lebensfreude zu kümmern.' Ich finde, das ist ein sehr gutes Leitmotiv!

Brigitte

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