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Mutter für einen Tag

Wie es ist, Mutter in der hippen Prenzlauer-Berg-Gemeinschaft zu sein? BRIGITTE.de-Autorin Elena Senft war Mutter für einen Tag.

Klara ist eineinhalb und will keinen Sonnenhut mit Schleife aufsetzen. Ein Kind mit Prinzipien, das sich notfalls auch begleitet von markerschütternden Schreien auf dem Boden wälzt, um diese zu verteidigen. Dies geschieht direkt auf dem Bürgersteig neben einer Caféterrasse. Vor dem Café in der Schwedter Straße ist kein Parkplatz für Kinderwagen mehr frei und auf der Terrasse des Cafés sitzt eine junge Mutter neben der nächsten. Sie trinken frischen Minztee oder stillen. Meine Reaktion auf Klaras Wutanfall ist unbeholfen. Ich ziehe ihr am Ärmel. Sie erhöht die Schreifrequenz.

Eine Mutter mit Ray-Ban-Sonnenbrille schaukelt mit einer Hand den Bugaboo-Kinderwagen Modell Cameleon, rührt mit der anderen Hand eine Süßstoffpastille in ihren Latte Macchiato und guckt. "Da musst du hart sein! Die müssen das ganz früh lernen, dass man bei Sonne ein Mützchen trägt!" Die Mutter hat Recht, denke ich. Und hätte Klaras Mutter ihr das früh genug beigebracht, dann hätte sich dieses peinliche Szenario hier vermeiden lassen. Klaras Mutter ist meine große Schwester. Ich bin Klaras Tante. Und heute ihre Mutter. Ich trage eine Wickeltasche, habe Knäckebrote in Zellophanfolie dabei, einen Teddy und das Sonnenmützchen.

Der Sommer in Prenzlauer Berg riecht nach Keksfingern und Babypuder. In den Hausfluren der Mietshäuser stehen mehr Kinderwagen als Fahrräder und in fast jedem Café gibt es eine Spielzeugecke, frische Waffeln und neonblaues Eis. Auch wenn alle Anzeichen darauf hindeuten: Der berühmte Babyboom in Prenzlauer Berg ist ein Mythos. Hier gibt es nicht deutlich mehr Kinder als in anderen Stadtteilen. In Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg werden prozentual mehr Kinder geboren als in Pankow, wozu auch Prenzlauer Berg zählt. Warum aber fühle ich mich dann als Nichtmutter in Prenzlauer Berg in der Minderheit. Leider gibt es über die Beschaffenheit der Mütter keine statistischen Erhebungen, denn sonst würde herauskommen, dass es an ihnen liegt: Die jungen Mütter aus Prenzlauer Berg strotzen vor allgegenwärtigem Mutterdasein. Weil sie meist nicht unvermögend sind, können sie ihre Tage - für alle Welt sichtbar - latte-machiato-schlürfend in Cafés verbringen. Und wenn das zu langweilig wird, eröffnen sie Second-Hand-Läden für Babybekleidung. In diesem Punkt unterscheiden sich die Latte-Machiato-Mütter aus Prenzlauer Berg von denen aus Friedrichshain und Kreuzberg. Letztere verbringen mehr Zeit im Büro oder am Wickeltisch als im Café.

Um es den hippen Prenzlauer-Berg-Müttern gleichzutun, setze ich mich jetzt auf die Caféterrasse. Es ist das Café, in dem meine Freundinnen und ich oft das knifflige Spiel "Wer zuerst einen attraktiven jungen Mann ohne dazugehörigen Kinderwagen sieht, hat gewonnen!" spielen. Und in dem man schief angeguckt wird, wenn man unter freiem Himmel raucht oder ein zweites Bier bestellt. Nicht vor den Kindern!

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Klara bekommt ein Bio-Mango-Eis mit bunten Streuseln und lässt sich widerstandslos den Sonnenhut aufsetzen. Sie nimmt Kontakt zu einem Jungen auf. Seine Mutter lächelt. "Und, wie alt ist ihrs?" Das Wort "Kind" muss nicht hinzugefügt werden, es ist klar, dass von meinem Kind und nicht etwa von meinem Fahrrad die Rede ist. Wir führen eine kurze Unterhaltung übers Muttersein. Sanni sagt, ich solle mir keine Sorgen machen, weil Klara noch nicht so viele Haare hat, das sei bei "ihrem" auch so gewesen. Und ob bei der Herstellung von Klaras Schuhen auch keine Weichmacher verwendet worden seien. Ich gucke auf Klaras coole Schnürschuhe und Robins fiese Filzlatschen und bin mir sicher, dass Robin lieber Weichmacher in den Schuhen hätte.

Wie eine echte Mama sammle ich Klaras fortgeschleuderte Sonnenmütze auf und esse den Rest ihres brutal zugerichteten Mango-Eisbechers auf. Klara sammelt Zigarettenstummel auf. Ich rufe "Bah!" und schaue mich wütend um, ob ich die ignoranten Raucher irgendwo sehen kann. Dann mache ich das, von dem ich mir immer geschworen habe, es nie zu tun: Ich benetze ein Taschentuch mit Spucke und putze Klaras Zigarettenstummelhände ab. Zum ersten Mal erkenne ich, dass das nicht nur sehr eklig, sondern vor allem sehr praktisch ist. Wir gehen zum Spielplatz am Helmholtzplatz. Klaras Mutter - meine Schwester - und ich hatten früher mal ein Spiel: Wenn wir unsere Eltern vom Flughafen abgeholt haben, musste sich eine von uns in die wartende Menge eines Linienflugs Berlin-Ankara stellen, ganz laut "Aise" rufen und die andere musste zählen, wie viele Frauen sich umgucken. Hier auf dem Spielplatz funktioniert das super mit "Marie" oder "Paul".

Die Mütter kennen sich. Man kommt schnell ins Gespräch. Sie kommen aus München oder der westfälischen Provinz, helfen gern mit einem Feuchttuch aus und machen meinem Kind Komplimente. Auf die Komplimente darf man nichts geben, denn auch ich sage im Gegenzug lauter nette Sachen über die anderen Kinder. Und da ist es egal, dass ich bei dem Kind auf der Rutsche sofort an "Chucky die Mörderpuppe" denken musste. So sind wir Mütter.

Mein Kind mag Spielplätze. Es ist das erste Mal, dass Klara an einer Schaukel lange anstehen muss. Sie verliert die Lust und hat Durst. Wir suchen erneut ein Mutter-Kind-Café auf. Klara hat Sonnenbrand. Bestimmt freut sie sich, dass sie morgen wieder auf ihrem Spielplatz in Wilmersdorf sein kann und nicht auf eine freie Schaukel in Prenzlauer Berg warten muss. Und als wir nebeneinander auf dem Mäuerchen sitzen und Bionade aus Strohhalmen trinken, bin ich stolz. Und als ich merke, dass Menschen uns angucken, rücke ich noch ein bisschen näher an Klara heran und streichele ihr über den filzigen Hinterkopf. Besonders dann, wenn die Zuschauer offensichtlich keine Kinder haben. Ich bemerke an mir diesen erhabenen Blick, der aussagen soll, dass das Leben ohne eigene Kinder weniger lebenswert ist und der allen Nichtmüttern in Prenzlauer Berg zeitweise auf die Nerven geht. Dann verschluckt Klara sich, hustet einen großen Fleck klebrige Bionade auf ihre Latzhose, guckt mich an und sagt "nass!". Ihr ist es egal. Und mir auch. Ich bin ja nicht die Mutter.

Text: Elena Senft Fotos: Elena Senft

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