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Lieben lernen - geht das?

Herz mit Kreide gezeichnet
© Valeriya Popova 22 / Shutterstock
Muss man erst lernen zu lieben? Nicole Zepter führte ihr Leben lang kurze, komplizierte Partnerschaften. Ein Makel, wie sie dachte. Bis sie ein Kind bekam und den Dingen auf den Grund ging ...

Das Ideal der ewigen romantischen Liebe in meiner Familie liegt unter einem gemeinsamen Grabstein: dem Grab meiner Großeltern. Sie haben sieben Kinder großgezogen und blieben mehr als 60 Jahre zusammen. Unwiderruflich, unzertrennlich. Auch wenn ich wusste, dass meine Großmutter in ihren Interessen zurücksteckte und mein Großvater sicher mehr Träume hatte, als sich ein Leben lang um Haus und Familie zu kümmern. Nein, sie waren nicht wie das alte, zärtlich händchenhaltende Paar, das ich häufig in meiner Nachbarschaft sehe. Sie waren ein liebevolles und dennoch pragmatisches Team, das heute so oft als Blaupause dient, um jüngeren Menschen zu zeigen: Seht her, es kann funktionieren.

Niemand zwingt uns zu einer Partnerschaft: Wir sind frei!

Ich liebe meine Großeltern für das, was sie waren. Aber ich glaube, dass diese Blaupause, so schön sie auch anzusehen sein mag, uns in die Irre führt. Sie setzt uns unter Druck, etwas erreichen zu müssen, anstatt uns beizubringen, wie das überhaupt geht, die Liebe. Denn das haben mir weder meine Eltern noch meine Großeltern beibringen können. Und das in einer Zeit, in der zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit der Fortbestand der Familie einzig und allein von der emotionalen Kompetenz der Eltern abhängt. Weder soziale Regeln noch gesellschaftliche Ansprüche zwingen uns, bei unserem Partner zu bleiben. Wir sind frei.

'Sei un­abhängig' - das habe ich von meiner Mutter oft gehört

Meine Beziehungen haben deshalb wie eine gute Kurzgeschichte oft einen unmittelbaren Anfang, eine knappe Handlung - und ein überraschendes, manchmal auch offenes Ende. Meine längste Paarbeziehung dauerte vier Jahre. Meine aufregendste hielt 14 Monate und machte mich zur Mutter meines Sohnes, den ich heute allein erziehe. Während ich in Freundschaften aufblühe und sich diese mittlerweile über mehrere Jahrzehnte spannen, habe ich mich in Beziehungen schnell unwohl gefühlt. Und mich dafür verurteilt, dass ich so fühle. Das hat einen Grund. Und es gibt einen weiteren, der diesen gerade ändert.

Wir gucken uns das Lieben ab

Wir alle wollen lieben: unsere Kinder, unseren Partner, unsere Eltern, unsere Freunde - und uns selbst. (Mehr dazu findest in unserem Artikel "Sehnsucht nach Liebe"!) In unserer westlichen Welt gilt eine lebenslange, intime Partnerschaft als wesentlicher Bestandteil für das eigene Lebensglück. Wir lernen zu lieben, in dem wir es uns voneinander abgucken. Wir kopieren unsere Eltern und nahen Bezugspersonen, wiederholen Erfolge und Misserfolge und adaptieren Bilder, die wir in den Medien aufgenommen haben.

Wenn ich mir das Gepäck anschaue, die Erwartungen an mich selbst und andere, dann wundert es mich nicht, dass ich mich in Beziehungen so unwohl fühlte. Ich sollte glücklich sein, aber wie? Ich sollte mit meinem Partner durch dick und dünn gehen, aber was, wenn der nicht mitgeht? Auch die Kinder meiner Großeltern konnten diesem Druck nicht standhalten. Ihre lange Liebe, ihr Zusammenhalt, aber auch ihr Aushalten und Ausharren hat ihnen vor allem Trennungen gebracht: meine Mutter, Onkel, Tanten - sind heute geschieden, gepatchworked oder allein. Meine Mutter verließ meinen Vater nach einer kurzen, unglücklichen Liebe, bevor sie meinen Stiefvater heiratete und nach einer kurzen, glücklichen Liebe vor allem eines tat: zurückstecken.

Lieber gar keine Beziehung als eine nicht gleichberechtigte!

Ich bin in den 1980er-Jahren aufgewachsen, in denen ein Klaps auf den Frauenhintern noch augenzwinkernd akzeptiert wurde und die Unart, Kindern eine Ohrfeige zu verpassen, fast zum guten Ton gehörte. In der die Liebe ein Mysterium war, die erst seit den 1970er-Jahren erforscht wurde. Die klare Hierarchie zwischen Mann und Frau zeigte sich an der Sitz- und Sprechordnung am Abendbrottisch (Papa zuerst oder: am besten gar nicht ansprechen) und auch an freizügig gekleideten Frauen im Vorabendprogramm. Das war kein Miteinander, das war ein Gegeneinander. 

Mir war als heranwachsender Frau schnell klar: In einer nicht gleichberechtigten Beziehung leben, das wollte ich nicht. Ironisch genug, dass auch meine Mutter sich das nicht für mich wünschte. Sei unabhängig, sagte sie oft. Es war ihr Wunsch, den sie sich so gern erfüllen wollte, sich jedoch nicht traute. Er wurde stattdessen zu meinem Auftrag. Und zu einem Fluch.

Die Trennung als Sieg der Frau über den Mann?

So wurde für mich eine Liebesbeziehung ein Spiel aus Abhängigkeit und der Sehnsucht nach Autonomie. Kam mir der Partner zu nah, hatte ich Angst, meine Freiheit einzubüßen, und zog mich zurück. War der Partner zu weit weg, tat ich alles, um beachtet zu werden. Dass heute mehr Paare wieder längere Beziehungen führen und heiraten, halte ich nicht für eine Rückkehr zur Tradition.

Ich glaube, dass sich die Geschlechteridentitäten mehr und mehr entspannen und Partner mit aufrechtem Interesse und Liebe aufeinander zugehen können. Während in den Jahren meines Aufwachsens widersprüchliche Erwartungen an eine Beziehung gestellt wurden - Kinder, trotzdem Karriere, sexy sein, trotzdem bodenständig -, zogen meine Eltern in den Beziehungskrieg, der bis zur Scheidung andauerte. In den 80er-Jahren, so lernte ich, war Trennung keine Schande. Sie war der Erfolg meiner Mutter über meinen Vater.

Ich hatte aufgehört zu träumen.

Anstatt ehrliche Bedürfnisse zu formulieren: Flucht nach vorn. Konflikte lösen? Keine Chance. Paartherapie? Zur Paartherapie gingen gerade einmal Therapeuten. Was ich daraus nicht lernte war: Bedürfnisse formulieren zu können - oder die Bedürfnisse anderer zu sehen. Nein sagen zu können. Vertrauensvoll miteinander umzugehen, auch wenn es unterschiedliche Meinungen gibt. Liebe wurde zu einer Gefahr, die negative Gefühle beinhaltete: Angst, Wut, Enttäuschung. Angst, dass ich nicht gut genug sein könnte. Oder dass mein Partner nicht gut genug sein könnte. Dass die Beziehung nicht halten könnte. Kurz: Ich hatte aufgehört zu träumen.

Das Alleinsein machte frei

Der Ratschlag der verheirateten Paare folgte: Du suchst dir die falschen Männer aus. Ganz ehrlich: An falsche Männer geraten zu sein, ist ein weitverbreiteter Euphemismus. Abgesehen davon, dass es Frauen verurteilt, selbst schuld an der Wahl gewesen zu sein. Es gibt genauso wenig falsche Männer, wie es falsche Frauen gibt. Es gibt Frauen und Männer, die mit ihrer Geschichte, mit ihren Erwartungen, Hoffnungen und Wünschen versuchen, einen Partner zu finden. Einen, der sie versteht und dem sie vertrauen können. Und manchmal geht man mit falschen Erwartungen ins Rennen.

Da ich so versessen und konditioniert darauf war, gleichberechtigt zu leben, fehlte mir die Fähigkeit, gelassenen Blickes in eine Beziehung zu gehen. Bis ich plötzlich mit einem Kind im Arm allein dastand. All das, was ich bisher über Liebe gelernt hatte, veränderte sich. Ich hatte verloren, was mir als Ideal so wichtig war: das Bild des perfekten Paares, der eigenen Familie. Doch anstatt mich in Trauer zu verlieren, geschah etwas anderes: All die Erwartungen, die ich an mich und eine Beziehung hatte, fielen von mir ab.

Ich war befreit von der Sehnsucht nach Anerkennung. Ich war mir selbst genug. Ich brauchte weder Aufwertung durch einen Mann noch durch eine Partnerschaft. Ich war so allein mit mir und dem Kind, dass ich das erste Mal wirklich frei entscheiden konnte. Und begann, über meine Bedürfnisse nachzudenken. Anstatt negative Ausschlusskriterien an meinen zukünftigen Mann zu formulieren, überlegte ich, was ich geben kann. Und was ich brauche, um mit einem Partner an der Seite glücklich zu sein. Ich merkte erst jetzt, dass ich jahrelang einen Kampf gekämpft hatte, der nicht meiner war, sondern der meiner Mutter. Denn war ich nicht schon gleichberechtigt? Nicht schon gut genug?

Jahrelang hatte ich einen Kampf gekämpft, der nicht meiner war

Die Welt hat sich seit der Hochzeit meiner Großeltern fundamental gewandelt, die Sehnsucht nach einer lebenslangen Beziehung blieb. Sie verwehrt uns den Blick darauf, das wir das erste Mal die Chance haben, wirklich lieben zu lernen. Wir dürfen heute von mehr träumen als davon, unbedingt zusammenbleiben zu müssen. Das ist eine Chance, für jeden einzelnen. Dafür muss man nicht einmal ein Kind bekommen. Aber es hilft einem, endlich hemmungslos zu lieben. Ohne Angst.

Nicole Zepter, 41, ist Journalistin und Autorin. Ihr aktuelles Buch heißt: "Der Tag, an dem ich meine Mutter wurde" (240 S., 17 Euro, Blessing)

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BRIGITTE 26/2018

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