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Leseprobe: "Das Ende der Liebe" von Sven Hillenkamp

Hier lesen Sie einen Auszug aus dem Buch "Das Ende der Liebe" von Sven Hillenkamp, das im März 2012 bei dtv als Taschenbuch erscheint (304 Seiten, 9,90 Euro).

Liebende werden zur Minderheit

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Man stelle sich vor! Die Liebe stirbt aus. Sie verschwindet wie Absolutismus und Sowjetsozialismus, wie die Ohnmachtsanfälle der Frauen, die Hysterie der Massen, das Unbehagen in der Kultur. Mehr noch als andere Phänomene wird die Liebe sich als historisch erweisen. Als Besonderheit, die mit ihren Bedingungen kommt und geht. Die Liebe wird wieder sein, was sie einst war. Ausnahme, Seltenheit. Die Liebenden werden wieder, wie Millionäre oder Rollstuhlfahrer, zu einer kleinen Minderheit. Die Mehrheit wird die Ekstasen und Tragödien der Liebe in Filmen und Romanen verfolgen wie die Mehrheit des Theaterpublikums einst, im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, die Liebe auf der Bühne. Tief berührt, doch ahnungslos. Ein Mann lebt seit drei Jahren mit einer Frau zusammen. Sie haben sich kennen gelernt über eine Internetseite, die der Partnersuche dient. Die Frau ist achtundzwanzig, der Mann vierunddreißig. Eines Tages fällt der Frau ein, dass ihr Profil noch im Internet steht: zwei Fotos und der Text, den sie über sich und ihre Erwartungen an eine Partnerschaft geschrieben hatte. Die Frau geht online. Als sie die Fotos sieht, aufgenommen während einer Reise durch Vietnam, hat sie das Gefühl, zwischen der Person auf den Fotos und ihr liege eine Ewigkeit. In diesen drei Jahren, denkt sie, sei sie erwachsen geworden. Sie sucht nach seinem Profil, lacht, als sie die Fotos sieht. Er hat noch kein graues Haar, die Augen sind groß und traurig, wie die eines Kindes, das man in der Fußgängerzone hat stehen lassen. Dann sieht sie den kleinen Sendemast, der rechts oben auf der Seite blinkt. Als er nach Hause kommt, hat sie alle Entscheidungen getroffen. Er sagt, es sei nur ein Spiel gewesen, ein Zeitvertreib. Er habe sich nie mit jemandem verabredet. Er habe nur die Nachrichten gelesen, nicht einmal geantwortet.

Doch sie weiß, dass er, während der drei Jahre, die sie ein Paar gewesen sind (sie haben über Kinder gesprochen, den Kauf einer Wohnung, den Umzug in eine andere Stadt), weiter gesucht hat. Sie sagt: »Du hast weiter gesucht.« Als sei auch ihre Beziehung, ihre Liebe das Ergebnis einer Suche gewesen.

Sie sagt: »Während ich mit dir geredet habe, während ich dich geküsst habe, warst du gar nicht da. Ich habe drei Jahre mit einem Hologramm geredet. Du warst die ganze Zeit über an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit. Ich bin ein Versuch für dich gewesen, nicht einmal das, ein Provisorium. Du hast dich in meiner Liebe, in unserem Leben aufgehalten wie in einem Wartezimmer.« Er streitet es ab. Doch irgendwann sagt er in die Stille: »Da war eine Sehnsucht, nach einer Frau... Ich weiß es auch nicht.«

Bemerkenswert an dieser Geschichte ist nicht, dass der Mann über das Internet gesucht hat. Das Internet macht die Suche eines Menschen, die sonst für andere unsichtbar bleibt, nur sichtbar. Wer eine Waffe benutzt, kann durch sie überführt werden. Die Meisten aber benutzen keine Waffe, gebrauchen kein Suchwerkzeug – nur ihren Körper, ihren Geist. Sie suchen endlos mit ihrem Körper, ihrem Geist, bewegen sich durch die Stadt, durch die Register ihrer Erinnerung und Hoffnung, und suchen nach einem, der ihren Vorstellungen entspricht.

Ein Mann und eine Frau leben seit neun Jahren zusammen. Sie haben sich über gemeinsame Freunde kennen gelernt. Sie sind in eine andere Stadt gezogen, in ein anderes Land. Sie haben ein Haus gebaut und geheiratet. Sie haben zwei Kinder und einen Hund (aber kein Internet). Dennoch sucht der Mann weiter. Er hat eine Sehnsucht. Er wartet. Und auch die Frau sucht weiter. Auch sie hat eine Sehnsucht. Auch sie wartet.

Die Menschen, von denen hier die Rede ist, sind nicht unbedingt einsame Menschen. Sie leben mit anderen. Sie sind verheiratet, haben Kinder. Manche verlieben sich, wenn auch für immer kürzere Zeit. Es sind Menschen, die auf der Suche sind. Sie verlassen ihre Suche nicht mehr, indem sie eine Wahl treffen. Sie wählen, immer weiter zu suchen. Treu sind sie nur ihrer Hoffnung.

Eine Studie über »Partneralternativen und Ehescheidungen« ergibt: Das Risiko der Scheidung ist dort am höchsten, wo die Menschen vielen anderen, vielen möglichen Partnern begegnen. Die Berufstätigkeit der Frauen und die gestiegene räumliche und gesellschaftliche Mobilität haben das Risiko der Scheidung erhöht. Die Forscher schreiben: »Die Ergebnisse zeigen an, dass viele Menschen ihre Partnersuche heute fortsetzen, während sie verheiratet sind, und dass die Häufigkeit der Partneralternativen, wie sie aus der Struktur der Gesellschaft hervorgeht, signifikant das Risiko der Scheidung beeinflusst.« Partnersuche führte einmal zu Partnerschaften. Heute ist sie der wichtigste Trennungsgrund. Dabei muss der Suchende nicht einmal suchen. Die Häufigkeit der Partneralternativen geht nicht aus seinem Handeln hervor, aus seiner Suche, sondern aus der Struktur der Gesellschaft. Der Suchende braucht kein Suchwerkzeug mehr. Er muss nicht einmal seinen Körper, seinen Geist benutzen. Er kann warten. Die Gesellschaft selbst ist heute eine Suchmaschine. Die Gesellschaft ist in Bewegung. Sie dreht sich unter den Augen der Menschen wie ein Globus. Sie zeigt ihre Möglichkeiten.

Ständiges Vergleichen macht liebesunfähig

Tatsächlich vergleichen die Menschen aber nicht jeden möglichen Partner mit den ganzen anderen möglichen Partnern, sondern nur mit Teilen von ihnen. Die Menschen erinnern sich nie an einen ganzen Menschen, an eine ganze Begegnung oder Beziehung, sondern immer nur an Teile - an Körperteile, Zeitabschnitte, einzelne Gesten und Taten. Sie Vergleichen einen Menschen nur mit dem Schönsten, Angenehmsten eines anderen: mit dem Haar des Ersten und den Küssen des Zweiten, mit der Zeit vom 23.Oktober 1995 bis zum Anfang Januar 1996 mit dem Dritten, der Zeit vom 15. Juli 1999 bis zum 23.Juli 2002 mit dem Vierten...

Die Hydra ist eine Collage - aus Zeitfetzen, Körperfetzen, Handlungsfetzen. Ein Vielwesen nicht aus vielen Ganzheiten, ganzen Menschen, ganzen Begegnungen, sondern aus vielen Teilen. Die Hydra besteht nicht aus allen Erinnerungen, nur aus ausgewählten. Sie ist also dreifach fiktiv: erstens als Möglichkeit der Summe, der Unendlichkeit – also alle möglichen Partner zu besitzen, alle in einem zu finden; zweitens als Möglichkeit der Rückkehr zu einzelnen Menschen und Begegnungen, obwohl diese längst der Vergangenheit angehören; und drittens als Möglichkeit der Teile der Teile, also die Möglichkeit eines vollkommenen Körperteils ohne den unvollkommenen Rest eines Körpers, einer – liebevollen – Handlung einer Person ohne den unerträglichen Rest des Handelns dieser Person, einer – schönen – Zeit mit einer Person ohne den Rest der Zeit mit ihr, der furchtbar war. Eine Frau sehnt sich also nach T.s Händen und D.s Mund im Winter mit R...

Die freien Menschen, die sehr vielen anderen Menschen begegnen, hören auf, jeden einzelnen Menschen als ein Chaos, eine Unüberschaubarkeit wahrzunehmen. Sie beginnen stattdessen, nur noch positive und negative Wiederholungen wahrzunehmen. Sie nehmen nur noch wahr, was der Andere mit anderen gemein hat, was ihn einer Gruppe zuordnet. Die Menschen sagen: »Das ist wieder einer von denen, die...« Sie entwickeln ein serielles Denken. Sie machen aus der großen, unüberschaubaren Zahl der Begegnungen mit verschiedenen Menschen eine kleine, überschaubare Zahl der Begegnungen mit verschiedenen Typen von Menschen - wobei das Positive in der Wiederholung weniger positiv, das Negative in der Wiederholung aber negativer wird. Jede enttäuschende Beobachtung ist die Beobachtung einer enttäuschenden Wiederholung. So wächst neben der Hydra der Liebe eine Hydra der Enttäuschung. Die Menschen, die endlos suchen, ordnen jeden neuen Menschen, dem sie begegnen, sofort ihrem Enttäuschungssystem, der Hydra der Enttäuschung zu.

Die freien Menschen, die permanent wählen müssen, verfeinern ihren Geschmack. Auf diese Weise wollen sie alles Enttäuschende vermeiden, das früher Beglückende wieder finden – ob es sich um Weine, Filme oder Menschen handelt. Die Unendlichkeit ist immer auch die Unendlichkeit des Schlechten, Enttäuschenden. Die Menschen wollen keine Zeit mehr verschwenden. Sie haben schon zu viel verschwendet. Sie sind schon zu oft enttäuscht worden. Sie wollen sich schützen. Also brauchen sie einen verfeinerten Geschmack, um handlungsfähig zu bleiben, um effizient und so gut es geht geschützt zu sein.

Darum sind die freien Menschen Kenner – Weinkenner, Filmkenner, Menschenkenner. Je weiter der Horizont der Möglichkeiten sich vor ihnen öffnet, umso enger wird ihr Blick. Die Überheblichkeit der Menschen, ihr Überdruss und allgemeiner Vorab-Ekel sollen ihnen helfen, das unmenschlich Maßlose wieder aufs Menschliche zu reduzieren, die Unendlichkeit auf ein Endliches, vielmehr: die gemischte, auch schlechte Unendlichkeit auf die Unendlichkeit des Guten und Beglückenden zu reduzieren und eine Wahl zu treffen. Im Fall der Liebe aber überschreitet der feine Geschmack notwendig seinen Gegenstand. Es gibt Spitzenweine, Spitzenfilme, aber keine Spitzenmenschen.

Das liegt daran, dass ein Mensch Tag für Tag genossen werden muss, nicht einmal, nicht ab und zu. Es liegt daran, dass Menschen vielgestaltiger sind als Weine und Filme, dass auch der feinste Mensch ein Ungeheuer ist, das seine Nächsten terrorisiert. Es liegt schließlich daran, dass derjenige, der einen sucht, der seinem Geschmack entspricht, diesem schon vorab alles nimmt, was ihn doch ausmachen soll: die Einzigartigkeit, die sich noch in keinem Geschmack abgebildet hat (die Menschen suchen ja weiterhin nach der Einzigartigkeit, auch wenn sie in der Realität jede Einzigartigkeit enttäuschend finden); eine Überraschung, ein Bruch durch etwas Unbekanntes zu sein; eine Überschreitung des Liebenden, der im Anderen eine Unendlichkeit sehen will, keine Entsprechung seines eigenen - notwendig beschränkten - Geschmacks. Denn Geschmack, das bedeutet ja: Ausschluss, Genauigkeit, Endlichkeit. Der Geliebte aber muss ein Unübersehbarer sein. Ohne Adjektiv. »Und? Wie ist er?« »Unbeschreiblich.« Die Liebe ist eine Geschmacklosigkeit. Oder sie ist gar nicht.

Zum Weiterlesen: Sven Hillenkamp: "Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit". dtv, 304 S., 9,90 Euro

Zum Autor: Sven Hillenkamp, 40, ist freier Autor. Er studierte Politik, Soziologie, Geschichte, Philosophie und Islamwissenschaft in Bonn und Berlin und arbeitete als Redakteur bei der »Zeit«. Mit seiner Frau und zwei Kindern lebt er in Stockholm.

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