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Illusion der Einsicht Warum du Menschen, die dir nahestehen, schlechter kennst, als du denkst

Psychologie: Eine Illustration unterschiedlicher Menschen
© Cala Serrano / Adobe Stock
Die Illusion der Einsicht ist ein Phänomen, das insbesondere unsere engen persönlichen Beziehungen betrifft und mitunter belasten kann. Was es damit auf sich hat, erfährst du hier.

Folgendes Szenario: Zwei Menschen sitzen einander gegenüber an einem Tisch. Vor dem einen steht eine Box, die oben offen ist, eine Art Schuhkarton. In der Box befinden sich unterschiedliche Gegenstände, von denen einige die gleiche Bezeichnung haben – zum Beispiel eine Maus für einen Computer und eine Plüschmaus. Die Person, die weiter von der Box entfernt sitzt, kann offensichtlich nur einige der Gegenstände sehen, die Plüschmaus beispielsweise sieht sie, die Computermaus nicht. 

Nun ist diese weiter von der Box sitzende Person aufgefordert, ihrem Gegenüber Gegenstände aus der Box zu nennen, die es bewegen soll. Da sie nur von einer Maus weiß, sagt sie also: "Beweg bitte die Maus." Jetzt kommt das Verblüffende: Sitzen zwei Menschen am Tisch, die einander fremd sind, greift die Person bei der Box, ohne zu zögern, zur Plüschmaus. Kennen sich die beiden, sind etwa befreundet, braucht die oder der Boxverantwortliche im Schnitt länger, um sich für die richtige Maus zu entscheiden, für die einzige Maus, die ihr Gegenüber sehen kann.

Von diesem Experiment berichtet der Psychologe Doktor Leon Windscheid in dem Podcast "Betreutes Fühlen" mit Atze Schröder in der Folge "Die Kunst des Zuhörens". Als ich es hörte, habe ich in meinem Kopf spontan den Mind-Blow-Emoji gezündet: Vergessen wir bei Menschen, die wir kennen, dass sie die Welt anders sehen als wir? Diese These sollte das Experiment testen – und es stützte sie, wie sich zeigt. Durchgeführt hat es vor mehr als zehn Jahren ein Forschungsteam der University of Chicago unter der Leitung des Psychologen Boaz Keysar, bei den Versuchspersonen handelte es sich um Studierende. 

Illusion of Insight: Ein Missverständnis, das zu Missverständnissen führt

Boaz Keysar ist Psychologie-Professor an der University of Chicago. Er beschäftigt sich im Rahmen seiner Arbeit vor allem mit Kommunikation und hat bereits mehrere systematische Ursachen von Missverständnissen und Fehlkommunikation aufdecken können. Das beschriebene Experiment illustriert ein Phänomen, für das der Begriff "Illusion of Insight" geläufig ist, "Illusion der Einsicht": Von Menschen, die wir kennen, erwarten wir, dass sie die Welt so sehen wie wir. Zumindest neigen wir dazu. Je vertrauter uns eine Person ist, umso mehr gehen wir davon aus, dass sie uns versteht, unserer Meinung ist, denkt und weiß, was wir denken und wissen. So deutlich ausgesprochen erscheint das absurd: Selbst die Frau, mit der ich seit 80 Jahren eng befreundet bin, bleibt schließlich eine eigenständige Person, die fühlt, denkt und interpretiert, wie sie und nicht wie ich. Die auf ihre Weise lernt, sich entwickelt und Erfahrungen verarbeitet, nicht auf meine. Offenbar ist es aber nicht absurd – sonst würden wir der Illusion der Einsicht nicht so zahlreich unterliegen. 

Probleme können daraus einige entstehen: Zum Beispiel kommunizieren wir deshalb mit uns vertrauten Menschen tendenziell nachlässiger, weniger klar und deutlich, als mit anderen. Wir geben ihnen nicht immer all die Informationen, die sie bräuchten, um uns zu verstehen, weil wir unbewusst davon ausgehen, dass sie sie hätten. Zudem kann die Illusion zu Enttäuschung und Verletztheit führen, wenn sich herausstellt, dass eine Person, die uns nahesteht, anderer Meinung ist oder uns missverstanden hat – weil wir von ihr stets Einsicht erwarten. Eine weitere Folge der Illusion der Einsicht, die Atze Schröder und Leon Windscheid in genannter Podcast-Episode ausgiebig besprechen, kann sein, dass wir uns nahestehenden Menschen mit der Zeit weniger Aufmerksamkeit und Interesse entgegenbringen. Dass wir ihnen schlechter zuhören, keine Fragen stellen, nicht mehr neugierig sind auf das, was sie zu erzählen haben. So kann sich die Illusion in der Wirklichkeit letztlich ins Gegenteil verkehren: Wo wir eine Sicht und Einsicht unterstellen, entstehen zwei Sichten, die auseinander laufen oder aneinander vorbei. 

Gewiss ist die Vorstellung und Erwartung, dass wir uns mit Menschen, die wir kennen und die uns kennen, besser und leichter verstehen als mit Fremden, nicht völlig unbegründet. Es ist einerseits gut möglich, dass wir tatsächlich ähnlich denken und dass diese Ähnlichkeit etwas ist, das uns in unserer Beziehung verbindet. Andererseits können wir in einer Bekanntschaft auf Erfahrungen zurückgreifen, aufgrund derer wir einigermaßen zuverlässige Annahmen darüber anstellen können, was in der anderen Person vorgeht oder was sie meint, wenn sie etwas Bestimmtes sagt. Doch es bleiben Annahmen, es handelt sich allenfalls um Ähnlichkeit. Eine Verbindung zwischen zwei unterschiedlichen, eigenständigen Menschen. Vielleicht ist es nicht verkehrt, sich das hin und wieder in Erinnerung zu rufen. Und falls jemand dafür eine Eselsbrücke braucht: Eine Plüschmaus wird nicht zur Computermaus, nur weil beide ein Name verbindet. 

Verwendete Quellen: Podcast "Betreutes Fühlen", Episode "Die Kunst des Zuhörens" vom 26. September 2023, sciencedaily.com, news.uchicago.edu

Brigitte

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